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will es mir einfach nicht vorstellen, dass in unserer hoch angesehenen Familie solcherart Abartigkeiten vorgekommen sind. Beruhige dich, Ethel, das sind Weibergeschichten mit Pikanterie und Effekthascherei!“ Für den Alten scheint damit dieses delikate Thema abgehakt zu sein.

      „Ist schon seltsam, dass sich jemand so etwas nur eingebildet und weitergegeben haben soll. Das wäre ja schließlich Rufmord gewesen! Und vielleicht ist sein Freund doch nur ein guter Kamerad gewesen, mit dem er aus wirtschaftlichen Gründen zusammengelebt hat.“ Großmutter scheint von ihrem Schwager eine Reaktion zu erwarten.

      Aber er behält sich eisernes Schweigen vor.

      Adelaine fühlt sich sehr verunsichert, was sie von dem ganzen unappetitlichen Thema halten soll. Großmutter hätte es lieber in Zweisamkeit mit ihr zur Rede bringen sollen. Nur ganz schnell einen anderen Gesprächsfaden knüpfen, das junge Mädchen bietet seine ganze Kraft auf, dieses brisante Thema abzuschütteln: „Sieh mal hier, Onkel Jacob, dein Namensvetter Jacob und der übernächste der Herren, Charles mit Namen, ist mit einer schwungvollen Linie verbunden. Kannst du das entziffern, was dort in kaum lesbaren Ziffern vermerkt ist?“

      Der Großonkel fährt mit seiner Stielbrille, auch Lorgnette genannt, die winzigen Buchstaben ab und erklärt nach kürzester Zeit sehr sicher: „Die beiden Brüder haben zusammen ein großes Bankhaus gegründet. Das war, wie hier steht, 1762 in London passiert. Bald schon galten sie als die wohlhabendsten Familien in West-Country. Aber verfolgen wir mal diese Linie hier weiter: Unser Zweig ist das hier!“ Und sogleich tanzt Großonkels Griffelhülle eine Reihe tiefer und vollführt dabei einen rechtsseitigen Knicks. Sein Gesicht scheint leicht errötet, nur die Schläfenadern plustern sich mächtig auf, die feuerroten geschlängelten Rinnsale signalisieren eine Erregung, die in Adelaine ein Gefühl der Bangigkeit entstehen lässt. Von der Gefahr, dass im Kopf Äderchen platzen können, hatte sie schon gehört, aber diese hier sind mächtigere Schicksalsgefährten, die … oh, nein! Nur nicht! Nicht jetzt! – Ob Großmutter nicht doch ein klitzekleines bisschen recht hat mit ihrer melancholischen Besorgtheit? – Nein und nochmals nein, solche Gedanken scheuche ich jetzt einfach weg! Aber, eine blutüberströmte Fast-Leiche in einem Landhaus inmitten einer Pampa, weit und breit ohne Doktor in greifbarer Nähe, ein rotfleckiges Obstmesser in der Hand, die Äpfel haben eine rote Schale, sowie zwei Damen, die in größter Bestürzung das Weite suchen, um Hilfe zu holen, wobei das Hilfesuchen durchaus als ein Flüchten verdächtig erscheinen könnte. All dieserart Phantasien lassen sich nicht, mir nichts dir nichts, aus einem Gehirn vertreiben.

      Und jetzt wird Großonkels Stimme auch noch lauter; sie schwillt mächtig an, als er loszudonnern beginnt: „Ja, es waren alles furchtbare Idioten in der Geschäftswelt, die dem Francis das Leben schwergemacht haben. Mit Schurken und Narren zurechtkommen zu müssen, das musste für ihn höchst aufreibend gewesen sein. Als solche hat er diese Männer nämlich selbst bezeichnet. Wir wissen das von unserem Vater, der das schließlich über seinen Großvater erfahren haben soll. Und der Francis muss auch ein höchst erregbarer Mann gewesen sein, einer, der bei Auseinandersetzungen blutrot angelaufen ist. Als sein Verdienst kann es gelten, dass er neben vielen anderen Leistungen auch Handelsstationen in Vorderindien gegründet hat! Aber dass er sich seinen Erfolg unter, zum Teil sehr erniedrigenden Umständen, erkämpfen musste, das ist zu Herzen gehend, das ist richtig bedauernswert.“

      Die beiden Damen schweigen. Adelaine beobachtet intensiv, wie sich Großonkels Rinnsale kaum merklich verändern und muss feststellen: Ja, ja, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Gleichzeitig schlägt sie ihren Zeigefinger fest auf ihren Mund, um ihm einen Riegel vorzuschieben, damit auch ja nicht der kleinste Wortfetzen daraus entfleuchen kann.

      „Aber Schwager Jacob!“ Dame Ethel krault Kätzchen Käthe hinterm Ohr. Das schmusebedürftige Tier schmiegt sich behaglich an sein Frauchen. Jetzt bahnt sich etwas an, mag das ahnungslose kleine Wesen denken, gehen wir mal todesmutig davon aus, dass eine Miezekatze dazu in der Lage ist, ihren Erfahrungsschatz konditionieren zu lernen. Frauchens holt so tief Luft, dass sie glaubt, gleich vom Schoß fallen zu müssen. Aber im Schutz fürsorglicher Hände fühlt sie sich dennoch geborgen. Wenn nur Frauchens Herz nicht so toll bibbern würde, das gefällt Käthchen gar nicht und sie ahnt, dass Frauchen sogleich ihr Herz erleichtern wird.

      Und dann purzeln, wie erwartet, die Worte nur so aus ihr heraus: „Der Erfolg ist zumeist auf steinigen Wegen zu erlangen, mein Schwager Jacob! Wie heißt es so treffend: Der Erfolg wird immer auf Schlachtfeldern erzielt! Ich bin nur zutiefst erzürnt darüber, dass du mit deinem Bruder Evel keinerlei Mitleid empfunden hast, damals als er sich in seiner Stellung äußerst bloßgestellt und gedemütigt gefühlt hat!“

      Bum – Bum – Bum – Bum macht das Frauchen – Herz laut vernehmbar und Kätzchen Käthe empfindet jeden einzelnen Schlag wie einen Stromstoß, der durch seinen kleinen Körper flutet. Wie beruhigend für aufgewühlte Menschen und Katzenseelen, wenn Gestreicheltwerden und Streichelndürfen Besänftigung bringen. Schwager Jacob verstummt und pustet seinen Pfeifenrauch länger als gewöhnlich aus, ehe er sich seinem Shakespeare zuwendet, äußerst gebannt, wie es scheint, denn er achtet in keinerlei Weise darauf, dass Adelaine ihren elastischen Körper hin und her windet, so, als ob Brennnesseln unter ihrem Hinterteil ihr Unwesen trieben.

      Anscheinend ruhig beugt sie sich über den Stammbaum, lässt ihre Finger über die unteren Gefilde des Blattes gleiten, ehe sie sich mit beherrschter Stimme der alten Dame zuwendet: „Großmutter, dort unten, das zweite Kästchen von links, das dürfte meines sein. Sieh’ hier, bei Adelaine ist zwar das e nach dem d verloren gegangen, aber das macht doch nichts, oder? Ich weiß doch, wer gemeint ist. Mein besonderer Name ist sicher in der Familienchronik bisher noch nie aufgetaucht, so vermute ich es mal!“ Adelaine verstummt, ehe sie sich ihrer Großmutter wieder persönlich zuwendet und ihr etwas zuflüstert, das, wie es scheint, nur für ihre Ohren bestimmt ist: „Geboren am 1.1.1905! Mama hat mir immer erzählt, dass ich ein verspäteter Silvesterknaller sei.“

      „Ja, sie hat recht, du hast mit deinem Erscheinen das neue Jahr eingeläutet; fünf Minuten nach dem Ende des Glockengeläutes bist du auf der Bildfläche erschienen!“ Großmutter strahlt dabei wie die mittägliche Sonne: „Über alle Maße haben wir uns über deine Ankunft gefreut. Und du winziges Bündel Mensch hast mich schließlich zur Großmutter gemacht. Zu einer sehr stolzen obendrein! Wie wunderbar!“

      „Grandma! …“ Adelaine stockt beim Weitersprechen. Und Großmutter spürt wehmütig, dass eigene Freudenstrahlen nicht immer auf entflammende Herzensgründe anderer treffen. „Grandma! …“

      Adelaine holt tief Luft, ehe sie ihren Gedanken freie Bahn gestattet: „Ich würde ja so gerne mal Mäuschen spielen und wissen wollen, welches Datum hier dereinst an der zweiten Stelle stehen wird! Das klingt zwar neugierig, das weiß ich wohl! Aber ist der Mensch seit Anbeginn der Welt nicht schon immer von Neugier getrieben? Es ist der Grenzbereich von Neugier und Erschauern, mit dem er nur allzu gerne jongliert.“

      „Adelaine, meine Kleine, natürlich weiß ich um das Vorrecht der Jugend, in unbekannte Welten vorzustoßen. Lass’ es dir von einer alten Dame wie deiner Großmutter jedoch gesagt sein, dass der Herrgott es sehr weise eingerichtet hat, die menschliche unvollkommene Sicht auf die Zukunft im Dunkeln zu halten. Zukunftspläne dürfen wir zwar machen, deren Treffsicherheit liegt jedoch nicht allein in unseren Händen.“

      Adelaine nickt ihrer Großmutter zu; mit einer vagen zustimmenden Kopfbewegung, die ihr Gegenüber äußerst gezügelt erreicht, ehe sie mit dem Finger auf ein kleines, ihr vorbehaltenes Stammbaumfeld tippt. Diese besagte Stelle wird wohl noch eine Weile vor Leere gähnen, hoffentlich, so geht es ihr durch den Kopf, ehe ihr ein hoffnungsvoller Gedanke Auftrieb gibt. Und weil sie in gewissen Situationen Worte liebt, die wie Sprudelwasser vor sich hin glucksen, erhebt sie ihre Stimme in eine hohe Lage: „Tja, Ehemann und Kinder müssten hier eng zusammenrücken, wie ich sehe, bei diesem Platzmangel, die Ärmsten! Ich darf mir allerdings keinen Mann mit ‚von und zu‘ auswählen und muss für meine Kinderchen kurze und knappe Namen wählen. Am besten nur Bens oder Mias!“

      Adelaine räuspert sich, ihre Stimme entschwebt wie ein Schmetterling in geheimnisvolle Weite.

      „Das heißt wir, mein Mann und ich, die wir uns auf immer und ewig miteinander

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