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Stimmung schlagartig dämpft. „Grandma, vielleicht muss ich ja auch alleine durchs Leben wandeln. Männer werden zu oft von Kriegen dahingerafft. Wir leben in aufregenden Zeiten. Die Vormachtstellung der Deutschen macht unseren Leuten Angst. Sind wir mit unseren deutschen Vorfahren da nicht in einem Zwiespalt?“ Adelaine betrachtet die Großmutter mit kummervollen Augen, sie spürt, dass diese ein Schweigen vorzieht, ehe sie weiter spricht: „Grandma, wir sollten uns nicht schon vorher … Wie heißt es so schön: Angst ist ein schlechter Ratgeber! Aber du hast mal wieder recht, meine lebenserfahrene Großmutter, Schreckliches auf uns Zukommendes sollte für uns Menschen besser im Ungewissen bleiben. Oh, Großmutter, nie und nimmer möge es über uns hereinbrechen, aber …“ Ihr Herz, zentnerweise mit Molltönen beschwert, sehnt sich nach Trost, das spürt die feinfühlige alte Dame, denn wie sonst sollte ihre Enkelin so plötzlich aufspringen und sie so fest an sich drücken wollen? Nur darf sie dabei nicht zu ungestüm ans Werk gehen, denn Kätzchen Käthe möchte keinesfalls von seiner angestammten Stelle weggedrängt werden, denn dieses, ihr Katzenliebling, ist eben ein eifersüchtiges Tierlein. Mit Erleichterung stellt sie fest, dass Adelaine die eine Hand von ihrer Schulter wegzieht, um Käthe auch ein zärtliches Kille-Kille verpassen zu können.

      Und das Tierchen scheint die Liebestat durchaus zu würdigen, denn sie schnurrt noch behaglicher als zuvor, während sein Frauchen die stürmische Enkelin lauthals lachend ermahnt: „Aber, sachte, sachte, mein Fräulein, ich möchte noch ein bisschen leben! Alles, was Großvater lieb und teuer gewesen ist, das muss ich noch sichten, das habe ich ihm schließlich hoch und heilig versprochen. Dann erst kann ich mich auf meine große Reise zum ewigen Wiedersehen begeben!“

      „Oh, Grandma! Nein, nimm’ dir dafür um Gottes Willen alle Zeit der Welt!“ Adelaine hält plötzlich inne, um auf die Ziffern der Standuhr zu blicken, worauf ihr Körper von einem Kribbeln durchzogen wird. „Es drängt mich, meine Festtagsgarderobe, das ‚Ihr-Werdet-schon-sehen-Kostüm‘, anzulegen! Zehn Minuten vor sieben! Entschuldigt mich bitte!“ Mit einem flüchtigen Blick auf die Standuhr und ein kurzes Inaugenscheinnehmen der beiden Alten verlässt sie tänzelnd mit wippenden Rockschößen den Raum, ehe die schwere Eichentür hinter ihr ins Schloss fällt, die ewig knarrende, den Enkeln seit jeher vertraut wie das Quietschen der Holzbalken in der Diele. Ein Geräusch, das sogar vor Shakespeare-Freuden des Alten nicht Halt macht.

      „Wie?“ Der erstaunte Ruf des Schwagers zieht pfeifenrauchgeschwängert durch den Raum bis er sich in dem „Wo? und Was?“ der Gräfinnen Worte fängt, ehe Lady Ethel, sich eine graue, verschwitzte Lockensträhne aus der Stirn streichend, ein gedehntes „Ach, ja …!“ ausstößt.

      Adelaine ist ja eingeladen! Wie konnte ich das vergessen! Bei Sir Miller nebenan! Geburtstagsparty bei Sohn Ronald! Anständige Herrschaften! Kein Grund, sich zu ängstigen!

      Schwager setzt sein Pfeifendampfgrinsen auf, das breit und von bedächtiger Natur ist. „Nun, meine Alte, jetzt müssen wir miteinander vorlieb nehmen!“ Die schwägerliche Schulter tätschelnd, zischt er: „Die hier war auch schon einmal besser gepolstert. Es wird Zeit, dass du wieder Fett an den Rippen ansetzt! Wo nur bleiben die gebackenen Austern? Oh, ich kann schon das Klimpern vom Essgerät vernehmen!“

      „Mein lieber verhungernder Schwager! Ich habe da mal eine Frage jenseits von Austern und Entenbraten. Was meinst du? Die ganze weibliche Gelehrsamkeit! Wo soll sie bloß hinführen? Sicher nicht unter die Haube!“

      Der Angesprochene nickt für einen Tattergreis sehr beachtlich. „Da magst du ja recht haben! Aber jetzt lass’ uns zunächst genüsslich speisen, ehe wir uns schwer im Magen liegenden Themen zuwenden! Auf leerem Magen sich diese einzuverleiben, wäre höchst töricht und unbekömmlich! Und danach heißt es ja unwiderruflich: Abschied nehmen!“ Der Schwager zieht sich auf die Tischplatte gestützt hoch, äußerst gemächlich, seine Knochen, Gelenke und all jenes mühsam sortierend, was einen alternden Rücken mehr schlecht als recht noch zusammenkittet.

      Lady Esther stützt sich mit beiden Armen auf dem Tisch ab, den Kopf weit nach unten gebogen, um dann im Schneckentempo Wirbel für Wirbel hoch zu strecken bis zu diesem berühmten ‚Geht-nicht-mehr-Punkt‘, jener Körperstelle, auf die sie oft zeigt, diejenige, die nicht so will, wie sie es will.

      „Dieser Höcker hier ist mein Hexenbuckel, solch ein Geselle ziemt sich doch einer feinen Dame nicht!“, so hat sie ihre Enkelin wissen lassen und dabei hörbar gestöhnt.

      Doch schließlich schleichen sich die beiden Alten Zentimeter um Zentimeter ins verheißungsvolle Schlemmerparadies. Großonkel hantiert gerade mit Messer und Gabel und kämpft seinen Kampf mit einer widerspenstigen Auster, die bei jeder geringsten Berührung der Schneideklinge einen Sprung seit-, vor- oder rückwärts machen will, als sich ihm plötzlich eine zarte, junge Hand entgegenstreckt und Worte wie ‚Adieu, lieber Onkel!‘ an sein Ohr dringen.

      „Eins nach dem andern!“, gebietet er kurz und knapp. Ohne auch nur den geringsten Blick auf die eingetretene Person mit der Sing-Sang-Stimme zu werfen, nimmt ihn der Austernkampf dermaßen in Beschlag, dass um ihn herum die Welt untergehen könnte, ohne dass er es bemerken würde.

      „Ach, du meine Güte! Wagt es ein so widerspenstiges Knusperteufelchen doch tatsächlich, anstatt auf meine dafür vorgesehene Serviette auf das gute Tischlaken zu springen!“ Großmutter und der Schmetterling in Menschengestalt, gerade hereingeschwebt, schauen auf, blicken amüsiert auf den Austernkampf bis sich ihre Blicke treffen und Großmutter in neckenderweise etwas zum Besten gibt, das ihr als Relikt der Kinderzeit gerade bei Adelaines Anblick so in den Sinn fliegt: „Schmetterling, Flatterfalter, spiel’ im Sonnenlicht, eh vergeht das Abendrot, bist du doch schon kalt und tot!“

      Großmutter zupft flugs am luftigen Ärmel des hellblauen Spitzenkleides ihres Schmetterlings, schon summt sie das alte Kinderlied vor sich hin und blickt mit schwärmerischen Augen der tänzerischen Gestalt entgegen, als sie plötzlich die harte Realität wieder einholt, und – sie erschrickt bei diesem Fund – sie erkennen muss, dass die Wirklichkeit in Gestalt eines ausgedehnten Fettfleckes sich des wertvollen Dutzend-Teiles bemächtigt hat. „Aber, das ist doch keine Katastrophe, Jacob!“, spricht ihr Mund, aber Adelaine, das hellblaue Schmetterlingswesen, blickt tiefer als alle anderen direkt in Großmutters Herz hinein. Und dort vermutet sie, dass sich gerade sämtliche Adern verkrampfen, denn die große Familienschar weiß seit Urzeiten, dass jeder noch so kleine Fleck für Großmutter eine riesige Tragödie bedeutet. Immerhin sollte jedes Dutzendteil vor dem Angesicht aller lupenrein erleuchten. Jetzt bleibt sie nicht bei der Wahrheit, meine geliebte Grandma, diese gottesfürchtige Frau! Aber eine fromme Lüge, die aus Rücksichtnahme geboren ist, darf doch wohl auch sein! Adelaine lächelt über ihre Gedanken, die festverschlossen in ihrem Herzenskämmerlein eingeschlossen bleiben. So schnell wie das Schmetterlingswesen in den Raum geschwebt war, so rasch flattert es wieder fort, nicht ohne zuvor Großmutters Wange und den Arm des Onkels liebevoll getätschelt zu haben.

      Onkel Jacob schweigt, gänzlich versunken, mit der Serviettenecke den Schandfleck zu vertilgen.

      „Ach, lass nur, Jacob!“ Lady Esther winkt kurz ab. In weiser Voraussicht hat sie sich gar nicht erst auf einen spritzigen Austernkampf eingelassen. Stattdessen greift sie mit elegantem Griff zu einem der attraktiven Schinken-Canapés, Schinkenröllchen in ein Salatblättchen gehüllt, auf einer Remouladenrosette thronend, das sie schon die ganze Zeit über angelacht hat. Bevor sich dieserart Genüsse ihrer ganz bemächtigen können, zieht sich ihre Seele erst einmal zurück, in eine Sphäre, die ihre ureigene ist und die sie so gut sie es eben kann von der Außenwelt abzuschirmen versucht.

      „Oh, du mein geliebter Schmetterling, meine Augenweide, sanft wehtest du wie ein Windhauch durch diesen Raum! Möge die Leichtigkeit eines Schmetterlings dich durch dein weiteres Leben tragen!“

      Großmutter beginnt sich aus ihrem Sessel zu erheben, nachdem sie Zwiesprache mit ihrem ganz und gar menschlichen Schmetterlingsliebling gehalten hat, der sie genauso flugs wie er eingeflogen war, schon wieder verlassen hat, und jetzt bewegt sie sich wie von unsichtbarer Hand gezogen zum geöffneten Fenster hin, allein von dem Wunsch beseelt, die Frische der Abendluft einatmen zu dürfen. Sie tut dieses, sicherlich auch von der Hoffnung getragen, einen letzten Blick auf einen der Bläulinge werfen zu können, die sich als Tagfalter allzu gern

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