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größtes Vergnügen damit herauskitzeln zu können.

      „Ethel, lass’ uns unsere matten Glieder hinüber ins andere Zimmer bewegen! Ich möchte nämlich etwas Bestimmtes aus dem Sekretär holen, um es Adelaine zeigen zu können. Mrs. Smith, ich bitte Sie mir freundlichst den Stock zuzustecken! Adelaine, reich’ du mir bitte deine Hand zum Aufstehen!“

      Ja, … geht es seiner Großnichte durch den Kopf, … so ist er und so wird er bis zu seinem Ende bleiben …, der Onkel Jakob, eben ganz der Alte!

      „Man schiebe mir bitte diesen Schreibtischstuhl vor den Sekretär! Ich muss mir das gute alte Stück noch einmal genauer betrachten!“ Der alte Herr zeigt auf den braunen Ledersessel und nach dem braven Gehorchen seiner hilfreichen Geister lässt er sich, auf die Seitenlehnen gestützt, dort hinein plumpsen. „Mein Gott, das gute alte Stück!“, wiederholt er sich, um dann das Möbelstück sanft zu berühren. „Adelaide, zieh’ bitte mal die Schreibunterlage hervor, ich möchte mal sehen, ob die alte braune Lederunterlage mit der goldenen Blumenranke als Verzierung noch an den Rändern zu bewundern ist.“

      Noch bevor Adelaine zu Werke gehen kann, fällt sein Blick ins untere Bücherregal des Sekretärs, wo ihn in der Mitte ein dicker roter Leineneinband anlacht. „Du meine Güte! Diesen da! …“, und während des Sprechens greift er mit seinem neben dem Sessel stehenden Stock, erhebt ihn, um genau an der richtigen Stelle dort oben einmal nicht sehr sanft gegenzustoßen. „Mein Gott, Jacob, das Glas! Das wertvolle Kristall! Das alte gute Glas! Ich habe es immer wie meinen Augapfel gehütet und du, was machst du jetzt?“

      „Ethel, beruhige dich, das ist noch beste Wertarbeit und was soll ihm solch ein kleiner Stoß schon schaden? Adelaine, streck’ dich mit deinen jungen Knochen mal hoch und reiche deinem Großonkel mit seinen alten Knochen diesen Bucheinband dort mal herunter! Ich möchte darin etwas nachsehen!“

      Adelaine, folgsam wie sie sich stets gegenüber den alten Herrschaften verhält, stellt sich auf ihre Zehenspitzen, um seinen Wunsch erfüllen zu können. Der Großonkel fährt wenig später mit seiner knorrigen großen Hand über den roten Ledereinband auf seinem Schoß, nicht nur einmal, sondern immer und immer wieder, ja, so zärtlich berührt er das weiche Leder, gerade so liebevoll wie er einst seine Enkelkinder gestreichelt hat. Adelaine erinnert sich an die hübsche kleine Amabel, ein Kind mit einer Unmenge schimmernder brauner Locken auf dem Kopf. Seine Lieblingsenkelin trug zu festlichen Gelegenheiten oft ein rosafarbenes Hütchen, das durch die forschen Bewegungen der Kleinen ein wenig zur Seite gestupst, ihr einige widerspenstige Löckchen über die Stirn bescherten. Großvater zupfte manchmal an den feinen Härchen, ganz leicht neckend und Amabel hatte ihren Spaß daran, wenn sie jedes Mal wie am Spieß schrie: ‚Hilfe! Du ziepst mich!‘ Aber genau dieses Zeremoniell gehörte einfach dazu, wenn die Kleine ihren Grandpa besuchte. Und genau solche hübschen dunkelbraunen Locken besitzt jetzt Amabels jüngstes Töchterchen. Aber diese liebt es überhaupt nicht, von anderen Leuten liebkost, geschweige denn, geziept zu werden. Und außerdem wohnt sie viel zu weit weg, als dass sie und ihre zwei Geschwister dem Urgroßvater sehr vertraut geworden wären.

      Adelaine beobachtet Großonkel Jacob mit Vergnügen, denn seine Augen blinken und blitzen wie Sonnenstrahlen, als er zunächst zaghaft, dann immer rascher hier und da eine Buchseite umschlagend, blättert und blättert, neugierig, genauso, als warte er voller Vorfreude auf etwas Entscheidendes. Dazwischen nickt er mit dem Kopf, einige Male, um schließlich mit seinem Finger auf dicke, fette Lettern zu tippen und freudig auszurufen: „Ich hab’s! Ich hab’s!“ Sind die Alten manchmal nicht wie schwärmende Backfische?, durchfährt es Adelaide, ihren Großonkel beobachtend, wie er wild in seine Hände klatscht, ehe er seine knorrige Hand auf die runzeligen Lippen legt, sicherlich um seinem Mund doch lieber einen Riegel vorzuschieben. „Mein Geheimnis, allein meins! Ich werde es mit ins Grab nehmen.“

      Sie spürt: Der alte Mann ist da und ist doch nicht da. Wie sonderbar! Seine Augenlider schließen sich für einen kurzen Moment, während es um seinen Mund leicht zuckt und die Lippen sich zu einem Schmunzeln verziehen. Wie himmelwärts gewandt – dieser Gedanke kommt Adelaine – in seinem Traumland küsst er jetzt bestimmt ein blutjunges Mädchen, liebestrunken wirft es sich an seine behaarte männliche Brust. Jung ist er und jung ist die Maid und die Welt um ihn herum tanzt und schwebt im Reigen. Warum denkt sie plötzlich an eine Maid? Wie ein Schlag durchfährt es sie. Hat es in Onkel Jacobs Leben nicht eine Tragik gegeben, die flüsternd, von einer zur anderen Generation weitergegeben worden war? Eine Liebe, von Beginn an dazu verdammt, unglücklich zu enden und Leid über die Maid und ihren Bastard zu bringen. Armer Onkel, durchfährt es sie, ich würde dich jetzt so gerne trösten und dir sagen, wie Leid es mir für dich, deine Angebetete und euer geliebtes Kindchen tut. Und jetzt wird dieses, dein dir fremdes Kind, auch schon Kinder haben, die du nicht streicheln und ziepen darfst. Wie schlimm muss es für einen Vater sein, sein eigenes Fleisch und Blut verleugnen zu müssen. Aber, es ist dein ureigenes Geheimnis! Du hast es selbst gesagt. Und so soll es bleiben!

      Als der alte Mann wieder zu sich kommt, tippt er wieder auf diese eine Seite in dem, ihm so wertvoll erachtetem Buch. „Von Shakespeare! Ich hab’s damals abgeschrieben!“ Hastig verschließt er wieder seinen Mund. Wie er jetzt sehr gefasst und würdevoll den Vers liest „Heiß rollt ihr die Träne und erweicht das Gestein! Sing Weide, grüne Weide!“, überfällt Adelaine ganz viel Mitleid, ganz viel Trauer, ganz viel Liebe für diesen Menschen; so seltsam er auch war und es immer bleiben wird, der so wie alle anderen Männer, die sie kannte, unter den widrigsten Umständen stark sein musste. Eine Träne sah ich bei keinem einzigen Mann, das heißt nur eine halbe Träne bei meinem Vater, die er verlegen wegtupfte, damals an Großvaters Grab, so geht es ihr durch den Kopf, aber dafür erlaube ich es mir jetzt, einer geweinten Träne ihren Lauf zu gewähren und sie, wer weiß wohin, kullern zu lassen. Aber dieser einen Träne leisten schließlich noch einige ihrer Kameraden Gesellschaft, die allesamt an ihren truthahnfettgeschwängerten roten Lippen abprallen. Mitleid zeigen durch ein herzhaftes An-sich-Drücken eines männlichen Respektwesens, allein schon dieser Gedanke erschiene ihr als ein unverzeihlicher Regelbruch. Der Großonkel spürt nur zu gut, dass er sich schnellstens auf unverfänglicheres Terrain begeben muss.

      „Was macht dein Bismarck, Adelaine?“

      „Oh, der Bismarck … Ja, der Bismarckhering schmeckte ausgezeichnet. Ich habe ihn bei meinem Deutschlandbesuch genossen!“ Oh, Dank sei dir, du Himmel! Adelaine freut sich über diese Eingebung von oben, hat sie sich doch oft genug bitter darüber beklagt, dass Schlagfertigkeit ihr wohl nicht in die Wiege gelegt worden zu sein scheint. „Ja, der Herr von Bismarck und seine Leidenschaften …!“

      Onkel Jacob lacht laut auf, als er das Wort wieder ergreift; Adelaine schmunzelt und Lady Ethel hat sich die ganze Zeit nicht offen an der Unterhaltung beteiligt. Stattdessen hält sie ihren Kopf an Adelaines Schulter gepresst. „Flau im Magen wird es mir, auch wenn wir vor kurzem erst gespeist haben“, flüsterte sie ihrer Enkelin gerade noch zu, die blubbernde Gegend mit beruhigenden Handgriffen umkreisend.

      „Truthahn, wo bist du geblieben? Hast du dich schon in tiefere Gefilde begeben? So, jetzt aber muss selbst ein Schwerhöriger vernommen haben, wie der große Stein von meinem Herzen geplumpst ist. Aber … der Schlussakkord deutet nun in eine friedsame Richtung, dank unseres Bismarckherings!“, stellt das junge Mädchen erleichtert fest. Ihr Mund hatte Großmutters Ohr berührt – Adelaine fährt nun mit ihrem Finger über jene Stelle ihres rechten hinteren Ohrläppchens, das die Hinterlassenschaft von Großmutters feuchter Tuschelei abbekommen hat und das sie jetzt mit ihrem Taschentuch abzutupfen versucht. Zum Schwager gewandt, richtet sie kluge Worte; nicht zum ersten und einzigen Mal kramt sie Aussprüche aus dem Vermächtnis ihres geliebten Evels hervor: „Der deutsche Reichskanzler von Bismarck soll gesagt haben: Wenn Heringe genauso teuer sind wie Kaviar, werden ihn die Leute weit mehr schätzen!“

      „Ethel, bitte tue mir einen Gefallen!“ Die alte Lady wird auf diese Weise mitten aus ihren tiefen Gedankengängen gerissen. „Alles Menschenmögliche wird dir geschehen!“ Ihre Worte – laut gesprochen, langsam betont, mit einem Lächeln gepaart – mögen sie doch die Seele des Schwagers erreichen. „Ist der angestammte Platz von Mutters Bild, vom Schreibsekretär aus gesehen, nicht immer der in der vorletzten der breiteren Schubladen gewesen, und zwar in der linken, soweit ich mich recht

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