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nun mal Weltmeister im Rein und Raus, im Hoch- und Runterschieben sind, kurzum im Bewegen allermöglichen und unmöglichen Dinge, haben Schubladen für sie höchsten Aufforderungscharakter. Auch die ‚Bim-Bam-Standuhr‘, kindliches Faszinationsobjekt erster Güte, gab es so und keineswegs anders nur im Landhaus. Im Gegensatz zum besagten Teppich machte sich diese jedoch viertelstündlich durch einen glockenähnlichen reinen Klang bemerkbar. Der Wandschmuck fristete dagegen ein von den Kleinen kaum beachtetes Dasein, bis er mit zunehmendem Alter und Interesse der Kinder als ein Stück lebendiger Großmutter-Vita stärker in Erscheinung trat, denn Großmutter liebte es ihren vernünftig werdenden Enkelkindern ihre spannende Teppich-Geschichte darzubieten.

      „Einhundertzwanzig mal einhundertachtzig, das müsste die Größe sein und dann steht hier noch eine Zahl, ob mit drei oder vier Nullen dahinter, das ist hier gar nicht mehr zu erkennen! Das ist sicher die Anzahl der Knoten.“

      Jetzt betrachtet Adelaine das sich vom Teppich abgenabelte Seidentüchlein aus dem Sekretär überaus sorgfältig, und beim Entziffern der Druckbuchstaben erinnert sie sich nur an eines: Je mehr Knoten, desto wertvoller ist das Stück! Das hatte sich durch die wiederholten Teppich-Erzähl-Geschichten in ihrem Schülerkopf damals festgesetzt.

      „Der Schah von Persien“, ihre Augen weiten sich und blicken einen langen Moment wie gebannt durch das Butzenfenster hindurch in den tiefblauen Himmel – das tun sie immer, die Großmutteraugen, wenn sie inwendig auf Schatzsuche gehen. „Ja, der Schah, … stattlich wie es stattlicher nicht ging … bedenke mein Kind, dass sich mein Herr Papa über dieses imposante Mannsbild immer wieder bewundernd ausgelassen hat und so brannte sich das alles bei mir hier tief drinnen ein – hier, weißt du!“, und dabei stupst sie einmal kurz zwischen ihre Brüste. „… genau hier hat sich dieses für alle Ewigkeiten festgesetzt. Ein einziger Händedruck des Schahs – und das Lebensgefühl meines Herrn Papa schien explosionsartig zu expandieren. Damals in jenem denkwürdigen Moment! Hatte Mutter Natur ihn sowieso schon bezüglich seiner Statur nicht stiefmütterlich behandelt, so drohte in diesem besagten Moment sein Brustkorb vollends zu zerbersten. Und wie schön erzählte er später von dieser großartigen Erfahrung: ‚Mein eigener Körper strahlte im Glanz aller kaiserlichen Orden und goldenen Gehänge stärker als die wärmsten Sonnenstrahlen es je vermocht hätten!‘ Adelaine, mein Kind, du kennst doch einen Zylinder! Und dann stell’ dir mal vor, wie hoch drei Zylinder aufeinandergetürmt aussehen! Mit solch’ einem schweren Koloss auf dem Kopf liebte er es, durch die Gegend zu stolzieren. Auf ihm prunkte eine Diamanten-Agraffe ohnegleichen! Auf jedem Schulterstück funkelten drei große Smaragde. Doch der arme Kerl, welch’ jähes Ende war ihm beschieden, meine liebe Adelaine, denn schließlich fiel er einem heimtückischen Anschlag zum Opfer. Aller Welten Reichtum konnte das nicht verhindern. Ob es die gerechte Strafe gewesen war? Aber darüber möchte ich nicht urteilen, das dürfen wir getrost unserem Herrgott überlassen. Du musst nur wissen, mein Kind, dass er zig Jahre zuvor seinen Premierminister zur Strecke gebracht hatte. Nichts für zartbesaitete Gemüter! Und dann …“

      Adelaine hält sich die Hand vor den Mund, weil sie nicht unanständig kichern will, ehe sie die Großmutter mit weit aufgerissenen Augen fragend anblickt und sich in einer Lachpause zu vergewissern sucht, ob ihre Vermutung stimmt: „Ist das nicht der Vierundachtzig-Frauen-Schah gewesen, wie es von ihm überliefert ist, oder?“ Amüsante ‚Harem-Schah-Geschichten‘ machten immer wieder die Runde im Familienkreis und falls jemand sich nur mit einer einzigen Silbe in eine ungehörige Richtung äußerte, warf Lady Ethel ihm einen Blick zu, einen der beschwörenden Sorte, die denjenigen wenn schon nicht töteten, ihn zumindest hochrot anlaufen oder erbleichen ließen.

      Nur Großvater hatte da ein wenig mehr Narrenfreiheit genießen dürfen, so dass Großmutter, als er sie mit der Bemerkung frotzelte: ‚Na ja, alle vierundachtzig auf einmal werden ja nicht gerade Kopfschmerzen oder Migräne gehabt haben!‘, ihm zwar einen kleinen Schubs verpasste, aber, ehrlicherweise erwähnt, wirkte dieser kurze Stoß eher verschämt belustigt, denn schließlich, so glaubte sie felsenfest, konnte keiner der Enkel auch nur erahnen, was Großvater durch seine flapsige Äußerung da von sich gegeben hatte.

      Nur Adelaine mit ihren siebzehn frischen Lenzen erspürte bereits gewisse Dinge, unaussprechlich Geheimnisvolles, das Großmutters Ansicht nach nur verheiratete Frauen erfahren durften. Auch Adelaines pikanter Einwurf hält sie jetzt nicht davon ab, gräflichen Anstand aufrechtzuhalten und ihre Bemerkung geflissentlich zu ignorieren.

      „Adelaine, mein Kind, dieses Teppichglück verdanken wir allein der Tatsache, dass Großvater und ich in selbigem Jahr ein paar Wochen später zum Traualtar geschritten sind. Der Schah von Persien verweilte in dieser Zeit in London, um seinen wertvollsten Teppich überhaupt, dem Londoner Victoria und Albert Museum zu vermachen. Er ist jetzt bestimmt schon weit über achthundert Jahre alt! Die durch seinen Verkauf eingebrachte große Geldsumme wurde benötigt, um die Moschee, in der er gehangen hatte, zu restaurieren. Das war im Jahre 1876! Dieser Teppich, der eine Länge von über zwölf Metern aufweist, wird auch als ‚heiliger Teppich von London‘ bezeichnet. Es ist ein Ardebil-Teppich, ein Teppich, der in einer bestimmten Gegend besonders fein geknüpft worden war. Ja, und weil mein Herr Papa als bekannter Londoner Bankier bei der Übergabe zugegen weilte, antwortete er auf die höfliche Frage des Schahs nach seinem Befinden: ‚Oh, meine Tochter heiratet bald!‘, worauf dieser seinem Leibwächter etwas zuflüsterte, der daraufhin kurz verschwand. Der Schah zelebrierte höchst persönlich das Aufrollen seines Hochzeitsgeschenkes, dieses wunderbaren Prachtstücks dort oben!“ Adelaine sitzt während Großmutters Geschichte wortlos auf ihrem Schemel, bewegungslos dazu, ihren Blick unentwegt auf Großmutters Lippen geheftet. „Ja, Kind, dort an der Wand siehst du, da hängt er nun schon seitdem wir hier Wohnstatt bezogen haben und vorher schmückte er den Salon in Cromer … ja, das alles ist auch schon wieder so sehr lange her. Dem guten Stück sieht man nicht an, in welche großen Aufregungen er uns versetzt hat, damals, ein paar Tage vor unserer Hochzeit in London. Aber weißt du, ich erzähle dir das alles morgen weiter, mein Gott, eine alte Lady wie ich, sollte nicht zu viel aus dem Nähkästchen plaudern, denn das ermüdet doch gewaltig …“, Adelaine beobachtet, wie Großmutter sich die Augen reibt, „… und vernünftigerweise sollte ich ein Stündchen schlummern, bevor der Onkel uns mit seinem Besuch beehrt!“

      KAPITEL SECHS

      „Gnädige Dame, bitte mir zu bekunden, zu welcher Stunde Ihnen das Dinner zu servieren bequemt! Sind Froschschenkel als Vorspeise genehm? Wünschen Sie im kleinen Salon zu speisen?“ Mrs. Smith rückt sich ihr weißes Häubchen zurecht und streift eine vorwitzige graue Haarsträhne aus ihrem Gesicht, denn einer auf strenge Konventionen bedachten Hausdame geziemt es unter keinen Umständen, es ihrer Herrschaft gegenüber auch nur an einer Spur von Gepflegtheit mangeln zu lassen.

      Lady Ethel und Kätzchen Käthe räkeln sich beide; der Mensch auf der Chaiselongue, das Tier auf dem flauschigen Schoß seines Frauchens. Mensch und Tier blinzeln der Eintretenden zu, der Mensch mit seinem rechten, das Tier mit seinem linken Auge. Die menschliche Kreatur, scheinbar aus einem tiefen Nickerchen jäh erwacht und noch ziemlich unleidlich in die Welt spähend, vermag vorerst nur einige Worte zu lallen, denn wie gewöhnlich, das wissen alle dienstbaren Hausgeister von Urzeiten her, braucht Lady Ethel gewöhnlich geraume Zeit, um ihre verschlafenen Sprechorgane wieder in Betriebsamkeit zu bringen. Die tierische Dame, Schnurrkätzchen Käthe, dagegen, zeichnet sich neben dem Augenzwinkern, dem linksseitigen versteht sich, durchs Spitzen beider Ohren aus, denn Mrs. Smith Auftreten erregt in ihr eine wahnsinnige Sehnsucht, durch die nur einen Spalt geöffnete Tür hindurch zu streifen, um sich anschließend in Küche und Keller gütlich zu tun, denn bisher war das Kätzchen dort immer fündig geworden und mit klitzekleinen bis beträchtlichen Leckerbissen verwöhnt oder mit winzigen lukullischen Fundsachen, gehamstert im aufgeplusterten Gaumen, vergnügt wieder von dannen gezogen.

      „Meine Käthe! Mein Möpschen, ich liebe jedes Gramm an dir!“ Lady Ethel lässt auf ihr Kätzchen nichts, rein gar nichts, kommen! „Hauptsache, du bist mopsfidel!“, nimmt sie ihren Liebling in Schutz, wenn Lästerzungen über das Katzenmöpschen herzufallen drohen.

      Wie gesagt, Lady Ethel muss jetzt nicht nur ihre Sprechwerkzeuge sortieren, sondern ihre gesamte Statur wieder in Ordnung bringen. Sich aufrichten, jedes Bein dorthin verstauen, wo es hingehört,

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