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Die Unternehmer des Reviers erwarteten – besser: befürchteten – weitere harte Arbeitskämpfe um die Herabsetzung der Arbeitszeit, Lohnerhöhungen und die Anerkennung der Gewerkschaften als Tarifpartner. Um diese Fragen, aber auch um die Gleichstellung der Handwerker und Maschinisten mit ihren Kollegen auf den Walzwerken, ging es Ende Juli bei einer großen Arbeiterversammlung auf der Eisenhütte Oberhausen der GHH.226

      Dies hing zweifellos mit der innenpolitischen Krise zusammen, die sich im Sommer 1917 immer mehr zuspitzte. Die Lage in den Industriebetrieben hatte sich nach den April-Streiks nur für kurze Zeit beruhigt; im Sommer wurde in Schlesien, wo die Gewerkschaften bis dahin kaum hatten Fuß fassen können, wochenlang gestreikt; gleichzeitig traten, nach dem Mitgliederschwund der ersten Kriegsjahre, die Arbeiter wieder massenweise in die streikbereiten Gewerkschaften ein, und dies stand in direktem Zusammenhang mit einem rasanten Mitgliederschwund bei den „Gelben“; zwar meinte die politische Rechte mit dem Rücktritt des „schlappen“ Reichskanzlers Bethmann Hollweg einen Erfolg verbuchen zu können, aber wenige Tage später setzten SPD, Zentrum und ein Teil der Liberalen im Reichstag die Friedensresolution durch, was die Oberste Heeresleitung und die Herren der Schwerindustrie in höchstem Maße empörte; ihre unmittelbaren Interessen wurden noch stärker durch die „Denkschrift über die Notwendigkeit eines staatlichen Eingriffs zur Regelung der Unternehmergewinne und Arbeiterlöhne“ berührt, die General Groener, der Chef des Kriegsamtes, Ende Juli 1917 dem neuen Reichskanzler überreichte; der Zorn der Mächtigen in Militär und Industrie richtete sich deshalb nach Bethmanns Sturz vor allem gegen das Kriegsamt, das seine Kompetenzen in Konkurrenz mit dem Kriegsministerium und der OHL angeblich zu stark ausgeweitet hatte, und gegen General Groener, der als Leiter des 1916 eingerichteten Kriegsamtes immer auf die Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften gesetzt hatte. Noch im August 1917 setzten Groeners Gegner seine Entlassung durch.227

      Die miserable Stimmung in der Zivilbevölkerung nahm Carl Duisberg, der Generaldirektor der Bayer-Werke in Leverkusen, im August 1917 zum Anlass, zwanzig führende Industrielle von Rhein und Ruhr, u. a. Reusch, zu einer Besprechung in den Industrieclub zu Düsseldorf einzuladen. In der Liste der bekannten Namen fehlte nur Stinnes, aus welchem Grund auch immer. Neben den Unternehmern waren acht Offiziere, u.a. der mächtige Oberstleutnant Bauer von der Obersten Heeresleitung eingeladen, aber bemerkenswerter Weise kein Zivilist als Vertreter der Reichsregierung. Duisberg kritisierte in seiner Begrüßungsansprache zunächst die deutschen Friedensangebote, vor allem das jüngste des Reichstages, die von den Gegnern alle nur „als Schwäche ausgelegt worden“ seien. Duisberg meinte zu wissen, dass die Stimmung an der Front immer noch gut sei: „Militärisch steht es sehr gut. Der U-Boot-Krieg übt … seine Wirkung aus.“ Die schlechte Stimmung in der Heimat dagegen habe verheerende Auswirkungen auf die Arbeitsleistung in den Fabriken. Hauptgrund dafür sei die mangelhafte Ernährung, obwohl die Lage durch die neue Ernte „bedeutend besser geworden“ sei. Als weiteren Grund der Unzufriedenheit erwähnte Duisberg kurz Überstunden und Sonntagsarbeit, um dann lang und breit über die schädlichen Auswirkungen des Hilfsdienstgesetzes zu klagen. Für die Unternehmer besonders ärgerlich war der § 9 dieses Gesetzes, der zwar den Arbeitern Beschränkungen beim Arbeitsplatzwechsel auferlegte, ihnen aber gleichzeitig ein Beschwerderecht vor einem von Arbeitgebern und Gewerkschaften paritätisch zu besetzenden Schlichtungsausschuss einräumte. Duisberg sah in diesem Paragraphen nur „den Ausgangspunkt für die Agitationstätigkeit der Gewerkschaften und für alle möglichen Bestrebungen, auch den Arbeitgebern Verpflichtungen aufzuerlegen“. Durch die Karenzzeit von zwei Wochen gebe man „den renitenten Leuten Gelegenheit, sich durch Wechsel der Arbeitsstelle ohne Abkehrschein einen 14-tägigen Urlaub zu verschaffen“. Auch die im Hilfsdienstgesetz vorgeschriebenen Arbeiterausschüsse in den Betrieben dienten nur den Gewerkschaften als Forum für ihre Agitationstätigkeit. Ganz am Ende seiner Ansprache ging Duisberg auf den verbreiteten Ärger über die hohen Kriegsgewinne ein, ohne allerdings die im Kriegsamt verfasste Denkschrift ausdrücklich zu erwähnen. An der Höhe der Gewinne selbst hatte er nichts auszusetzen, er betonte im Gegenteil, dass Gewinne und Dividenden dem Staat durch höhere Steuereinnahmen nutzen würden; er bat seine Unternehmerkollegen nur darum, bei den Dividenden die Wirkung in der Öffentlichkeit im Auge zu behalten und möglichst das Niveau der Friedensdividenden nicht zu überschreiten. In der anschließenden Aussprache empfahl Reusch, „die Aufhebung des § 9 eventuell durch den Bundesrat vornehmen zu lassen“, musste darauf aber die Belehrung eines anwesenden Amtsrichters hinnehmen, dass dies verfassungsrechtlich gar nicht zulässig sei. Nur der Braunkohlenindustrielle Silverberg plädierte vorsichtig dafür, mit den Gewerkschaften Fühlung aufzunehmen, da eine Verbesserung der Stimmung in der Arbeiterschaft nur zu erreichen sei, wenn die Gewerkschaften mitwirkten. Er erntete damit in der Runde massiven Widerspruch. Die Niederschrift verzeichnet eine weitere Wortmeldung von Reusch, ohne jedoch festzuhalten, zu welchem Thema er sich äußerte.228

      Somit darf man wohl annehmen, dass er die in der Runde vorherrschende Meinung teilte: D.h. er glaubte auch nach drei Kriegsjahren und nach dem Kriegseintritt der USA noch an den Sieg; er lehnte jegliche Friedensangebote ab; obwohl er es durch seine Tätigkeit im Kriegsernährungsamt besser wissen musste, widersprach er nicht, als Duisberg von einer Verbesserung der Lebensmittelversorgung sprach; er war gegen jegliche Zugeständnisse an die Gewerkschaften; er hatte an den hohen Kriegsgewinnen im Prinzip nichts auszusetzen und er sagte nichts zur Verteidigung seines schwäbischen Landsmannes Groener, den er doch für einen „prächtigen Menschen“229 hielt.

      Die Industrie stand keineswegs einmütig in Opposition gegen General Groener; vor allem in der verarbeitenden Industrie, aber nicht nur dort, gab es durchaus Sympathien für seine Strategie der Einbindung der Arbeiterschaft. Zu seinen Verbündeten zählten der Berliner Industrielle von Borsig und in Süddeutschland MAN-Chef von Rieppel sowie Dr. Sorge von der Firma Krupp.230 Unter den im Düsseldorfer Industrie-Club Anwesenden zeigte Reuschs Kollege Silverberg, später immer als enger Freund des GHH-Chefs bezeichnet, Rückgrat, als er seine abweichende Meinung zum Ausdruck brachte. Reusch trat ihm im Kreise der führenden Industriellen des Rhein-Ruhr-Reviers nicht zur Seite. Deshalb liegt der Schluss nahe, dass er sich ohne Vorbehalte mit dem harten Kurs der Schwerindustrie und der OHL identifizierte.

      Die Tatsache, dass diese Besprechung stattgefunden hatte, blieb natürlich nicht geheim. Der Reichstagsabgeordnete Scheidemann (SPD) war offenbar gut informiert: Er wies bei der Debatte im Hauptausschuss des Reichstags auf den Zusammenhang zwischen der Denkschrift des Kriegsamtes über die Kriegsgewinne, der im Industrieclub laut gewordenen Kritik und der Entlassung Groeners hin.231 Auch im „Vorwärts“ äußerte sich Scheidemann zur Entlassung Groeners, der keineswegs „freiwillig“ gegangen, sondern durch eine Intrige der Obersten Heeresleitung gestürzt worden sei, weil er das Haupthindernis für eine Revision des Hilfsdienstgesetzes darstellte. Die von Duisberg ausgegangene Einladung zu der Besprechung vom 19. August beweise eindeutig, dass in den Kreisen der Industriellen schon bekannt war, dass Groeners Tage als Leiter des Kriegsamtes gezählt waren.232 Duisberg antwortete auf Scheidemanns Vorwürfe im Hauptausschuss des Reichstages mit einer öffentlichen „Richtigstellung“: Abgesehen davon, dass derartige Vorwürfe ihm einen Einfluss zuschrieben, den er nicht besitze, stellte er fest, dass er mit Groener immer bestens zusammengearbeitet habe und den General nach wie vor persönlich sehr schätze. Ein Wort des Bedauerns über seine Entlassung findet sich in der Gegendarstellung jedoch nicht.233 Über die von den Unternehmern geforderte Novellierung des Hilfsdienstgesetzes wurde in den folgenden Monaten zäh verhandelt. Industrie, Militärbehörden und Reichsregierung konnten sich aber nicht auf eine Gesetzesvorlage einigen.

      Es gab im letzten Kriegsjahr verstärkt Kontakte der Gewerkschaften mit Großunternehmern, die die Zusammenarbeit der Arbeiterführer bei der Demobilisierung nach Kriegsende suchten. Ab dem Sommer 1918 wurde in diesen Gesprächen auch das Thema Arbeitszeit immer wichtiger. Bei allen diesen Kontakten mit den Vertretern der Arbeiterschaft spielte Reusch keine Rolle. Er mag die de-facto-Anerkennung der Gewerkschaften als Verrat an den wirtschaftsfriedlichen Werkvereinen aufgefasst haben. Mit diesem Argument jedenfalls begründete er im November 1918 seine harte Kritik an der Zentralarbeitsgemeinschaft von Unternehmern und Gewerkschaften.234

      Nicht weniger katastrophal als die Lebensmittelnot wirkte sich nach drei Jahren Krieg der Kohlemangel aus. Wieland berichtete seinem Kollegen Reusch im

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