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Jahre alt“, sagte ich. „Das habe ich gelesen. An einem Ort mit so langer Geschichte fühlt man sich klein.“

      Der Glockenturm von Magdalen hob sich glitzernd weiß vor dem blauen Himmel ab, ein Meisterstück geometrischer Präzision, gekrönt von acht Zinnen. Ich deutete auf den Turm, als wir näher kamen. „Das ist ein Phallussymbol für eine von Männern beherrschte Institution, stimmt’s?“

      Jack blieb stehen und hob seine Augenbrauen über den Rand seiner Brille, um dann mit einer Wolke aus Zigarettenrauch in schallendes Gelächter auszubrechen. „Sie halten mit Ihrer Meinung nicht hinter dem Berg, nicht wahr, Joy?“, sagte er in einem so herrlichen irischen Ton, dass mir das Herz in die Kniekehlen rutschte.

      Seine Stimme, dachte ich, klingt wie ein Ozean in einer Muschel.

      „Ich habe das Gefühl, ich könnte nie genug bekommen von diesem Ort.“ Ich blieb stehen und ließ meinen Blick über die Gebäude wandern, die efeubedeckten Mauern, die dichten, makellosen Rasenflächen mit säuberlich gepflegten Gehwegen. „Und dieser Eingang …“ Wir näherten uns der massiven Holztür, die mit dicken Messingbesätzen dekoriert war und geschützt unter einem steinernen Torbogen saß. „Er sieht aus, als könnte jederzeit eines von Ihren magischen Wesen daraus zum Vorschein kommen.“

      „Der Haupteingang zum Innenhof“, sagte er. „Es ist faszinierend, diese vertrauten Dinge mit Ihren Augen zu sehen.“

      Die steinerne Mauer, so informierte mich Jack, wurde „Longwall“ genannt und umschloss das Magdalen College: die Mensa, den Kreuzgang, die Räumlichkeiten der Tutoren, die Kapelle, die Studentenzimmer, die Bibliothek und alles andere. Wir traten ein und gingen durch die aus Kalkstein gemauerten Gänge und Flure, die von einer Erhabenheit waren, in der das ganze Gewicht ihrer Vergangenheit lag. Flechten wuchsen entlang der Pfade und in den Spalten zwischen den Kalksteinen aus dem Steinbruch von Headington. Ich machte einen Witz über geheime, verborgene Räume – ein Verlies vielleicht. Das Mittelalter hing in der Luft und schien sich in den Fluren und den engen Treppenhäusern zu verstecken.

      In einem vollkommenen Quadrat umlief der Kreuzgang eine grüne Rasenfläche. Diese Gänge waren blassgelb verputzt, die offenen Fensterbögen zum Innenhof mit Kragsteinen und Reliefen verziert. Wir umrundeten gemeinsam den ganzen Innenhof und gelangten, nachdem wir dreimal links abgebogen waren, wieder an unseren Ausgangspunkt zurück. Die ganze Zeit über unterhielten wir uns angeregt, als würden wir nie wieder damit aufhören. Nach der zweiten Runde blieben wir stehen und blickten in den grünen Innenhof. Von den Gebäuden, die sich über den Kreuzgang erhoben, starrten Wasserspeier auf uns herab. „Ich bin mir nicht sicher, ob sie uns beobachten oder bewachen“, sagte ich und deutete hinauf.

      Er duckte sich mit gespielter Angst unter den steinernen Fratzen. „Nun hier entlang.“ Er deutete voraus. „Gehen wir ein Stück am Fluss entlang.“

      Ich folgte ihm aus dem Kreuzgang hinaus auf ein weit offenes Feld. „Knapp fünfzig Hektar“, sagte er. Und dann gingen wir durch ein schmiedeeisernes Tor unter einem Bogen auf eine kleinere Steinbrücke, unter der ein Nebenarm des verzweigten Cherwell entlangfloss. „Dies ist Addison’s Walk.“ Der Fußweg war von zwei dichten Baumreihen gesäumt, unter denen gerade so viel Platz war, dass man sich zugleich frei und geschützt fühlte.

      „Mit dem Bau des Ganzen wurde 1458 begonnen“, erklärte er mir und blieb mit ausgebreiteten Armen stehen. „Und diese Wiese“ – er deutete voraus – „ist im Frühjahr übersät mit Blüten von einer überwältigenden violett-grünen Farbe.“

      „Fritillaria Meleagris“, sagte ich.

      Sein herzhaftes Lachen klang mir jetzt schon vertraut.

      „Sind Sie etwa ein wandelndes botanisches Lexikon?“, wollte er wissen.

      „Der Meinung sind jedenfalls meine Söhne“, sagte ich. „Ich habe so manchen Tag meiner Kindheit damit zugebracht, durch den Botanischen Garten in der Bronx zu wandern und mir die wissenschaftlichen Bezeichnungen all der Pflanzen und Blumen einzuprägen.“

      Als wir gemeinsam dort auf dem Fußweg standen, fragte ich mich, ob meine Augen je in der Lage sein würden, die ganze Herrlichkeit dieses Ortes wahrzunehmen; für einen Besuch war es zu viel. Die Architektur und die umgebende Natur verschmolzen zu etwas so Erhabenem, dass es Jahre oder Jahrzehnte dauern würde, alles wirklich wahrzunehmen.

      Ich drehte mich zu ihm um. „Jack, da ist etwas, worüber ich mir den Kopf zerbreche.“

      „Und das wäre? Welche Frage habe ich denn noch nicht beantwortet?“

      „Warum nennen alle Sie Jack, wo Sie doch eigentlich Clive heißen?“

      „Ach so!“ Er schwang seinen Gehstock empor und steckte ihn dann in den Boden. „Nun, das ist eine längere Geschichte.“

      „Erzählen Sie!“ Ich stemmte meine Hände in die Hüften und blieb unverwandt stehen. „Ich bin bereit, Sir.“

      „Na schön. Als ich ein kleiner Junge war, hatten wir einen Hund namens Jacksie. An einem warmen Sommertag, einem Tag wie aus dem Bilderbuch, waren Warnie und ich unterwegs in die Stadt, als ein Auto um die Kurve gerast kam und unseren Hund überfuhr. Er starb direkt vor unseren Augen.“ Jack schüttelte den Kopf. „Wenn ich eine Sache von Gott erbitten könnte, dann würde ich ihn bitten, dass kein kleiner Junge jemals mit ansehen muss, wie sein geliebter Hund getötet wird.“ Er schüttelte sich und fuhr dann fort. „Deshalb verkündete ich, mein Name sei Jack, und schwor, niemals Auto zu fahren.“

      „Sie haben sich nach einem Hund benannt, und Sie fahren nicht Auto.“ Ich lachte, und er setzte sich mit seinem Gehstock wieder in Bewegung und vergewisserte sich mit einem Blick über die Schulter, ob ich ihm folgte.

      „Nun wissen Sie vielleicht alles, was es zu wissen gibt.“

      „Das bezweifle ich“, sagte ich, während wir zu Phyl und George aufschlossen.

      „Liebes“, rief sie und kam zu uns. „Ich muss los, wenn ich den letzten Zug noch erwischen will.“

      „Und ich“, sagte George, „muss zurück nach Malvern. Der Tag heute war mir ein ausgesprochenes Vergnügen.“ Er neigte seinen Kopf, tippte sich an den Hut und entfernte sich anschließend.

      Ich bedanke mich bei Phyl, und wieder waren Jack und ich allein. Wir unterhielten uns und wanderten über das Collegegelände, bis sich der Nachmittagshimmel gegen Abend rosa einfärbte.

      Dann nahmen wir höflich voneinander Abschied. Als ich ihm verriet, dass ich noch zehn Tage bleiben würde, lächelte er. Und dieser Mann, wenn er lächelte … dann war das das Einzige, was man sehen wollte. Auf den Fotos sah sein Gesicht immer so ernst aus, doch es steckte voller Leben und Heiterkeit. Er schien jederzeit bereit, unter dem leisesten Vorwand in Gelächter auszubrechen. Ich verspürte den Drang, ihm jeden Vorwand zu liefern.

      Ich war unsicher, ob ich ihn umarmen oder ihm die Hand schütteln sollte. Letzten Endes tat ich keins von beiden, denn er hielt mit beiden Händen den Knauf seines Gehstocks fest. „Mein Bruder Warnie hat morgen Zeit. Möchten Sie gerne mit uns hier zu Mittag essen?“

      „Sehr gern“, sagte ich.

      „Wo wohnen Sie?“

      „Bei der Freundin einer Freundin, Victoria Ruffer. In der Zwischenzeit werde ich es voll auskosten, kreuz und quer durch die Stadt zu laufen und alles zu bewundern. Der Herbst hier dürfte so ziemlich das Schönste sein, was ich je gesehen habe.“

      „Ja, er ist herrlich. Im Herbst hat man das Gefühl, alles sei möglich.“

      „Das Gefühl habe ich eher im Frühjahr.“ Ich öffnete meine Hände wie eine aufblühende Blume. „Wenn alles Leben aus der gefrorenen Erde wieder zum Vorschein kommt.“

      Er lächelte verschmitzt.

      „Was ist? Habe ich etwas Falsches gesagt?“

      „Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Aber Sie haben jedenfalls Ihre eigene Meinung über alles. Das wusste ich

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