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mehr auf, er zerrte an Walburgas Umhang, sodass Michal fürchtete, diese schilfdünne Frau könnte davongeweht werden wie ein Laubblatt im Wind, doch stoisch setzte sie einen Fuß vor den anderen, den Kopf geneigt, den Blick gesenkt, die Flächen ihrer Hände aneinandergelegt. Die Nonnen folgten ihr wie Küken einer Glucke, immer in die Abdrücke tretend, welche die hölzernen Sohlen von Walburgas Schuhen im durchweichten Waldboden hinterlassen hatten. Nur zurzeit der Sext hielten sie inne für ein Gebet, nach dem der Himmel die Schleusen schloss.

      Auf einer Anhöhe traten sie aus dem tropfenden Wald, unter ihnen umgaben Heidenheims Häuser die Kirche, wo sie den Herrn sieben Mal am Tag und ein Mal in der Nacht priesen. Wynnebald, eifriger Knecht Christi, erster Abt von Heidenheim, Bruder Walburgas, hatte die Kirche aus Steinen einer verfallenen Römervilla errichtet. Im Süden trennte die Kirche ein kleiner Platz, auf dem jeden Montag Markt gehalten wurde, vom zweiten Steingebäude Heidenheims: dem Meierhof, der noch vor Wynnebalds segensreichem Wirken in Heidenheim erbaut worden war. Jetzt war der Markt verwaist bis auf zwei Frauen, die, vom Wynnebaldsbrunnen hinter der Kirche kommend, mit je zwei Wassereimern über den vom Regen durchweichten Platz stapften und tratschten. Da öffnete sich das hölzerne, oben in einem Halbkreis auslaufende Kirchenportal, und die Mönche traten nach Abschluss der Sext heraus. Goumerad, der Priester und Prior des Männerkonvents, drehte den Kopf in Richtung der Nonnen, die anderen Mönche bemerkten dessen Kopfbewegung und sahen ebenfalls zu ihnen herauf. Doch hastig, als hätte man sie bei etwas Verbotenem ertappt, wandten sie sich ab und gingen ihrer Wege zu den Häusern des Mönchsklosters, die sich nördlich der Kirche um den schlammigen Klosterhof gruppierten. Die Mönche durften nach der Sext lesen oder ruhen, und so schlenderten einige ins Refektorium, um zu lesen, die meisten allerdings in das Dormitorium, um zu dösen, wiederum andere ins Necessarium, um Wasser zu lassen.

      Nebenan gingen die Bediensteten des Klosters in den Wirtschaftsgebäuden ihrem Tagwerk nach: Ein Fuhrwerk lud am Stadel Heu ab, eine Magd stapfte aus dem Kuhstall, in jeder Hand eine Milchkanne. Der Fuhrknecht lehnte sich gegen den Wagen, folgte der Magd mit den Blicken und rief ihr etwas nach, woraufhin diese den Kopf in den Nacken warf und lachte. Törichtes Gelächter, dachte Michal, froh um die Nonnenklausur, die, wie Walburga stets betonte, ihren Sinn weglenkte von weltlichen Sorgen und Geschäften, hin zu einer Lebensform, die den göttlichen Anordnungen entsprach.

      Die Nonnen wanderten die Anhöhe hinunter zu einer Brücke, die sie über den Gießbach führte, in dem weiter oben das oberschlächtige Mühlrad plätscherte. Hier hatten die Nonnen ihren Kräutergarten angelegt. Im Frühjahr blühte und duftete und summte es von all den Bienen, die den süßen Saft des Nektars schlürften und an den Beinen und am ganzen Körper zu den Bienenkörben trugen. Jetzt hingegen, im September, schwirrte nur eine einzige Biene über verblühte Pflanzen von Huflattich, Enzian, Holunder und Mohn.

      Auf Latein trug Walburga den Nonnen Arbeit auf. Sogleich besetzte Amalberga die Klosterpforte, Fideswide und Aebbe webten im Genitium, Truthgeba und Hilda ernteten Spinat und Sellerie, und Eadburga goss eine Kerze für die Kirche. Michal wollte sich in die Schreibstube begeben, aber Walburga hielt sie zurück. „Einen Moment, Hugeburc!“

      Michal erschrak. Mit ihrem Geburtsnamen Hugeburc redete Walburga sie vornehmlich an, wenn sie ihr Verhalten rügen wollte. Sonst nannte auch Walburga sie nach ihrem Rufnamen Michal, den Schwester Eadburga ihr einst gegeben hatte, nach der jüngsten Tochter von König Saul, war doch auch Hugeburc die jüngste und kleinste der Nonnen in Heidenheim.

      Walburga hob den rechten Zeigefinger. „Im sechsten Kapitel der Klosterregel verfügt der heilige Benedikt: Ich sprach, ich will auf meine Wege achten, damit ich mich mit meiner Zunge nicht verfehle. Ich stellte eine Wache vor meinen Mund, ich verstummte, demütigte mich und schwieg sogar vom Guten. Du dagegen hast auf der Lichtung deine Zunge nicht gehütet. Statt dich in Demut zu üben, schwatztest du, als niemand dich fragte.“

      „Ich schwatzte doch nicht!“, rief Michal aus. „Ich wollte jenen Menschen helfen! Wie unser Herr Jesus! Er hütete seine Zunge nicht, als er auf jenen Berg stieg und verkündete, dass unser Licht leuchten soll vor den Menschen. Wie soll denn unser Licht leuchten vor jenen Menschen auf der Lichtung, wenn wir schweigen in jenem Augenblick, da sie unserer Worte dringender bedürfen denn je?“

      Auf Walburgas Stirn kündigte sich ein Gewitter an. „Meine liebe Nichte, dich zeichnet vor allen anderen Schwestern eine hervorragende Begabung im Schreiben und überhaupt in den geistigen Werken aus. Doch du zählst erst achtzehn Jahre, was viel zu jung ist, um die in der Schrift verborgene Wahrheit zu erfassen. Vielmehr sollst du die Regeln des heiligen Benedikts beachten. Allein dies ebnet dir den Weg zum Schleier. Eine dieser Regeln heißt: Stelle eine Wache vor den Mund! Wer diese Regel missachtet, ist des Schleiers unwürdig. Dies gilt für dich als meine Nichte ebenso wie für alle anderen.“

      Michal wollte etwas entgegnen, brachte aber kein Wort heraus. Die Verleihung des Schleiers erwartete sie in Bälde, dies war ihr innigster Wunsch seit den Tagen in der Klosterschule zu Wimborne, wo die bewundernswerten gottgeweihten Jungfrauen ihr den Weg zum tugendhaften Leben gewiesen hatten.

      Walburga sagte: „Du schweigst heute und am morgigen Tag. Öffne Ohr und Herz für die Stimme Gottes!“

      Vom Gießbach her rief eine Stimme: „Verehrungswürdige Walburga!“ Es war der Mann, den Wulfhardt auf der Lichtung mit dem Schwert bedroht hatte, an der Hand hielt er das Mädchen ohne Haarschopf, hinter ihm standen die Bewohner der Lichtung.

      Während Walburga sich zum Gießbach begab, damit sie die Wünsche der Heiden erfahren konnte, ohne dass diese den Bereich der Nonnenklausur betraten, stapfte Michal mit geballten Fäusten zum Nonnenkloster. Wenn sie die in der Schrift verborgene Wahrheit nicht verstand, warum erklärte Walburga sie ihr dann nicht? Was für ein Unrecht, für diese mutige Tat gemaßregelt zu werden! Immerhin hatte sie einen Sieg gegen den Teufel errungen! Michal erschrak. Sie blieb stehen. Sie war zu stolz gewesen. Sie hatte sich selbst anstatt Gott gelobt, der ihr die Kraft für diesen Sieg verliehen hatte. Sie bekreuzigte sich und schickte ein stilles Gebet zum Himmel. „Vergib mir, Herr. Ich drängte mich selbst in den Vordergrund.“

      Mit demütig gesenktem Kopf betrat Michal das Nonnenkloster, das − im Gegensatz zum Komplex der Mönche − nur aus einem Gebäude bestand, schließlich zählten sie nur acht Mägde Christi gegenüber zwanzig Mönchen. Dennoch neidete sie den Mönchen nicht ihre düsteren Häuser, sah das Pfostenhaus der Nonnen doch freundlicher aus: Zwar wurde es durch dunkle Holzpfosten aus Baumrinde getragen, die Räume zwischen diesem Gerüst waren dagegen mit hellen Blockbohlen aufgefüllt. Im Haus war der Boden ausgelegt mit den weißen Fliesen der Römervilla, die einstmals an diesem Ort gestanden hatte, die Räume wurden durch Holzbretterwände voneinander getrennt.

      Michal ging nach dem Eingang durch den Vorraum, in dem Walburga die Besucher empfing, und gelangte in das Refektorium, wo sie stehen blieb, um einen freundlichen Anblick zu genießen: Die Katzenmutter, die sie Mieze riefen, lag auf der Seite, und fünf kleine Kätzchen nuckelten an ihren Zitzen. Mieze hatte ein braunes, von schwarzen Streifen durchzogenes Fell, das sich auf zwei ihrer Kätzchen übertragen hatte, die drei anderen trugen rötliches Fell. Michal riss sich von Mieze und ihrem Wurf los, durchquerte das Dormitorium und öffnete die Tür zum hintersten Raum des Nonnenklosters: der Schreibstube. Sie zog einige Manuskripte aus dem Schrank und legte sie auf das Schreibpult direkt unter dem Fenster, durch das Sonnenstrahlen schienen und kühle Luft zog.

      Das erste Manuskript stammte aus Lucca im fernen Italien, zu dem Wynnebald auf seinen Pilgerreisen Kontakte geknüpft hatte. Seine Nachfolgerin Walburga hatte die Manuskripte ungeordnet vorgefunden, deshalb sollte Michal ein Register anlegen, in dem sie alle Schriftstücke verzeichnete. Und so studierte sie Tag für Tag die schwarzen Pfade der Blätter, immer mehr lernend über Gottes unerschöpfliches Wirken in der Welt. Jetzt nahm sie das Manuskript aus Lucca, das gerade vor ihr lag, und legte es auf ihre Knie. Es enthielt die Psalmen 66 und 50, die sie zu Beginn der Laudes sangen. Sie trug es in das Register ein, ebenso wie die folgenden Manuskripte, den Federkiel über das Pergament aus der Haut von Schafen führend, nur unterbrochen vom Eintunken in das Tintenhorn, das zu ihrer Rechten stand. Ab und an quietschte der Federkiel, doch nie griff sie zum Radiermesser, dafür nach jedem Absatz zum Holzlineal, um die nächsten Zeilen zu ziehen.

      Eben nahm Michal ein

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