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       Gotteszeichen

      2. KAPITEL

      Wulfhardt hielt die Lanze in der rechten Hand im Anschlag. Er lugte über den Schild, während er sich an die geöffnete Falltür wagte. Dort unten, im Dämmerlicht, streckte Gerold ihm das Schwert entgegen. Die Schwertspitze vibrierte vom Zittern der Hand.

      Der ist am Ende, dachte Wulfhardt. Er nahm den Helm ab. Abendluft kühlte sein Gesicht, das sich unter dem Metallschutz erhitzt hatte. Die Kettenglieder, die den Nacken schützen sollten, klimperten. „Sieh an, der Bastard meines Bruders.“

      Gerolds Schwertarm versagte für einen Augenblick die Arbeit. Er sank.

      Wulfhardt lachte. Ausgerechnet Gerold, Liebling des Grafen und der Mädchen, ausgerechnet er hatte Angst. Gerold war Wulfhardt nie geheuer gewesen: Da war diese absonderliche blonde Strähne, sie zog sich über der Stirn mitten durch die hellbraunen Haare. Und dann seine Angewohnheit, mit der Franziska, einem Bauernwerkzeug, auf die Jagd zu gehen! Doch jetzt hielt er keine Franziska in seinen Händen, und in seinen hellblauen Augen spiegelte sich Entsetzen.

      Gerold reckte ihm das Schwert wieder entgegen. Die Schwertspitze berührte das über ihm baumelnde Seil, mit dessen Hilfe man sich aus dem Gefängnis zog. Das andere Ende des Seils war neben Wulfhardt an einen Holzpfosten geknotet.

      Wulfhardt beugte sich hinunter und griff das Seil. Er wartete, bis Gerold merkte, dass Wulfhardt ihm seine einzige Möglichkeit nahm, das Gefängnis zu verlassen. Erst als Gerolds Hand nach oben zuckte, um das Seil zu fassen, zog Wulfhardt es hoch. „Leb wohl, Neffe.“ Er warf das Seil neben den Holzpfosten und schloss die Falltür.

      Wulfhardt drehte sich zu seinen Reitern um. Zwei von ihnen hatten Fackeln entzündet. Er nickte. „Zündet den Saal an!“

      Das Reetdach entflammte sofort, bald fraß sich das Feuer durch das Flechtwerk an der Außenwand und schließlich in die hölzernen Pfosten, die Wände und Dach trugen. Die Menschen, die aus dem Saal brachen, rannten in die Schwerter der Reiter. „Tötet jeden!“, rief Wulfhardt seinen Reitern zu. „Niemand darf entkommen!“ Im Westen färbte sich der Himmel blutrot. Wulfhardt strich sich über den lang herabhängenden Schnurrbart, während seine Augen einer Magd folgten, die mit brennenden Haaren aus dem Saal rannte und kreischte. Er erinnerte sich, dass er in diesem Saal bei der Abendtafel nie an der Stirnseite hatte sitzen dürfen. Der Platz dort war für seinen Bruder reserviert gewesen. Aber der Pfeil, den er seinem Bruder in die Brust geschossen hat, hatte alles verändert. Ein süßes, befriedigendes Rachegefühl durchfuhr ihn bei dem Gedanken daran.

      Kurz dachte er an all die Demütigungen, die er erfahren hatte, während er mit seinem Bruder zusammen hier am Hofe aufgewachsen war. Zum Beispiel an die Schlacht gegen die Baiern vor vielen Jahren, als Vater noch geherrscht hatte. Sowohl Wulfhardt als auch sein Bruder hatten jeweils eine eigene Einheit befehligt. Plötzlich war er von Feinden eingekreist gewesen, hatte Vater ihm doch die unerfahrensten Leute unterstellt. Ausgerechnet sein Bruder hatte ihn aus der Umklammerung der Feinde befreit und dafür das Lob seines Vaters bekommen. Wulfhardt hatte sich − welch eine Demütigung! – anschließend sogar bei seinem Bruder für die Hilfe bedanken müssen. Hätten sie ihm nur einen Moment länger gegeben, so wäre er selbst in der Lage gewesen, sich zu befreien. Als ob sein Bruder nur darauf gewartet hätte, die Situation für sich zu nutzen.

      Und das war nur der Gipfel eines ganzen Berges voller Demütigungen, unter dem seine Eltern und sein Bruder ihn in all den Jahren begraben hatten. „Dein Bruder konnte das schon in deinem Alter.“ Wie oft hatte er diesen Satz von seinem Vater oder dem Priester hören müssen, der ihm Schreiben und Lesen beibrachte?! Oder seine Mutter, die oft ihr Bedauern darüber äußerte, mit dem zweiten Sohn nicht so viel Glück gehabt zu haben wie mit dem ersten. Natürlich nur, wenn sie dachte, dass er es nicht mitbekäme.

      So hatte es ihn nicht gewundert, dass Vater ihm im Testament nur die Bischofswürde zugesprochen hatte. Damit war Wulfhardt verdammt gewesen, eine kirchliche Laufbahn einzuschlagen und jeden Tag einen Mann aus einem unbedeutenden Stamm zu ehren, der in einem Stall geboren und wie ein Verräter ans Kreuz geschlagen worden war. Sein Bruder dagegen war zum Grafen ernannt worden. In seinem Letzten Willen hatte Vater ihm zu verstehen gegeben, dass er nur Messen lesen konnte, mehr nicht. Dennoch hatte es auch hier sein lieber Bruder verstanden, die Wunde noch tiefer zu reißen. Denn im Ton unendlicher Großherzigkeit hatte er vor dem versammelten Grafenhof verkündet, er werde den Letzten Willen des Vaters respektieren und seinen Bruder in das Bischofsamt einführen. Damit hatte er ihn zum Bischof von seinen Gnaden degradiert, trotzdem hatten die Menschen diesen Heuchler für seine Großzügigkeit gepriesen. Nur Mutter nicht. Sie hatte es für einen Fehler gehalten, Wulfhardt auch nur zum Bischof zu ernennen. Zum Glück war sie vor zwei Jahren gestorben. Natürlich hatte Wulfhardt sich seine Freude nicht anmerken lassen, sondern an ihrem Grab eine Lobrede auf sie gehalten, die einige der Frauen sogar zu Tränen gerührt hatte.

      Um ihn vollends dem Spott der Meute auszuliefern, hatte sein lieber Bruder ihn vor wenigen Tagen auch noch der Herrschaft des Bischofs von Rom unterstellen wollen; und das nur aus Dankbarkeit gegenüber Walburga, der Äbtissin des nahegelegenen Klosters, nachdem sie mit einem Dämonenzauber dessen Sohn Gerold geheilt hatte. In welch unwürdige Abhängigkeit wäre diese Grafschaft geraten! Es war der Tropfen gewesen, der das Fass in Wulfhardt zum Überlaufen gebracht hatte.

      Zum Glück hatte er schnell handeln können. Das verdankte er der Tatsache, dass er in den letzten Jahren − unbemerkt vom neunmalklugen Bruder − das Ohr des bairischen Herzogs Tassilo gesucht und gefunden hatte. Tassilo wartete nur auf eine Gelegenheit, die Gebiete zurückzuerobern, die Baiern im Krieg vor vierzehn Jahren an das Fränkische Reich verloren hatte. Jede Schwächung eines fränkischen Grafen kam ihm zupass. Deshalb hatte er nicht gezögert, als sich Wulfhardt vor zwei Tagen bewaffnete Reiter von ihm erbeten hatte, um den Hof seines Bruders zu überfallen. Und hier waren sie: Der unbewachte Grafenhof samt seiner Bewohner war eine leichte Beute gewesen.

      Wulfhardt rief sich selbst zur Ordnung. Er wusste, dass er seine Gedanken nicht an die Vergangenheit verschwenden durfte, sondern dass er sie auf die Aufgaben richten musste, die vor ihm lagen: Der nächste Schritt seines Plans sah vor, die Schuld für den Überfall auf andere zu lenken. Nur wenn ihm dies gelänge, würde der König ihn zum Grafen ernennen. Er hatte alles genau durchdacht. Und diese Pläne würde Gerold bestimmt nicht durchkreuzen, dort unten im Verlies, wo er verhungern würde.

      Wulfhardt bezahlte die Reiter aus der gräflichen Schatztruhe und entließ sie. Er warf sich einen schwarzen Mantel über, der auf der rechten Schulter mit einer goldenen Spange geschlossen wurde.

      Barfuß, auf einen Stab gestützt, wanderte er an den nächsten Tagen durch die umliegenden Dörfer. Mit tränengefüllten Augen und stockender Stimme erzählte er, welch furchtbare Zerstörung er am Hof seines lieben Bruders vorgefunden habe. Er lud jeden ein, sich ihm anzuschließen, um seine Familie zu Grabe zu tragen. Nach einer Woche kehrte er mit Hunderten trauernder Männer und klagender Weiber an den Grafenhof zurück.

      Zwar missfiel es Wulfhardt, dass sein Bruder so beliebt beim gemeinen Volk war, dennoch frohlockte er bei dem Gedanken, diese Beliebtheit für seine Zwecke auszunutzen.

      Als er mit der Menschenmenge den Hof erreichte und einen beiläufigen Blick auf die Falltür warf, die zum Gefängnis führte, erstarrte er: Sie war offen, mit einem faustgroßen Loch in der Mitte, im Verlies von Gerold keine Spur. Warum nur hatte er ihn nicht gleich mit seiner Lanze durchbohrt? Zum Glück schrieben die Menschen seine Verwirrtheit der Trauer um seine Familie und den vielen Leichen auf dem Grafenhof zu. Erst am nächsten Morgen konnte er wieder einen klaren Gedanken fassen. Er nahm sich vor, dennoch alles so durchzuführen wie geplant. Er ließ Gräber ausheben für die Grafenfamilie. In Gerolds Grab ließ er eine der verkohlten Leichen aus dem Großen Saal legen. Er hielt die Trauerrede am Grab des Bruders. Es fiel ihm leicht, den trauernden Bruder zu spielen, denn während all der Jahre am Grafenhof hatte er gelernt, sich zu verstellen und seinen Groll zu verstecken. Und so setzte er nun ein Gesicht auf, in das die Traurigkeit tief eingegraben war, und er wählte Worte voller Wehmut. Dies alles, während er jeden Moment befürchtete, Gerold könnte vor die Trauernden treten und ihn den Mörder seiner Familie

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