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      3 Der Priester, der die beiden traut, ist niemand anderer als der Eremit. C. G. Jung würde sagen, er verkörpert das Selbst. Seine segnenden Hände liegen auf den Positionen der göttlichen Eltern: Chokmah und Binah. Er steht für die unbewussten, höheren Teile in ihnen selbst – er stellt sozusagen eine innere Erfahrung dar, die jeder kennt, denn die meisten Menschen kennen das Gefühl, dass etwas Größeres sie führt, auf sie einwirkt und sie durchfließt, und trotzdem auch nur ein Teil in ihnen selbst ist. Die Gesetzesrolle, die sich um seine Arme schlängelt, ist ein Hinweis dafür, dass das, was die beiden mental wahrnehmen, das wiedergibt, was dem Sinn seiner höheren Botschaft entspricht. Es ist die Hochzeitsurkunde, als Zeichen der Ewigkeit zu einer Möbius-Schleife verdreht.

      Er hat aber auch noch eine andere Seite. Crowley schreibt: Er selbst ist eine Form des Gottes Merkur, der im Atu I beschrieben wurde; er ist vollständig unter seinem Gewand verborgen, als ob er andeuten wollte, dass der Urgrund aller Dinge in einem Bereich jenseits der Manifestation und des Intellekts liegt7, was für eine gewisse Unsicherheit sorgt, da der zwitterhafte Merkur nicht nur als Weiser, göttliches Kind oder Hermaphrodit erscheint, der Erneuerung und Verjüngung manifestiert, sondern in kalkulierender Weise genauso für das Sharholder-value-Denken oder in seiner ambivalenten Art auch für gegensätzliche Persönlichkeitsteile in der Psyche steht.

      4 Das ganze Ensemble ist kontrapunktisch miteinander verknüpft und trotzdem sind alle Figuren auch selbstständig: Der weiße Junge vor dem schwarzen König hält mit der weißen Königin zusammen den goldenen Kelch (Öffnung und Hingabe), und der schwarze Knabe vor der weißen Königin hält zusammen mit dem König den silbernen Speer (Durchsetzung und Zeugungskraft). Dies ist vielleicht deshalb so, weil es ein wesentliches Merkmal der heiligen Hochzeit ist, dass der Mann sich nicht einfach nur mit seiner Anima verbindet oder umgekehrt, sondern sie gleichzeitig auch als ein Wesen sieht, das in höherem Maße von seinem bewussten Ich verschieden ist, als er je zuvor erkannt hat.

      5 Über der ganzen Szene richtet Cupido oder Eros am oberen Bildrand mit verbundenen Augen seinen Pfeil ins Leere. Trotzdem hat dieser Akt eine tiefere Bedeutung. Der abwärtsgerichtete Pfeil8 wird vom höchsten Punkt des Jod im JHVH geschossen und der Winkel der Schussrichtung entspricht Pfad 11 = Aleph. Das Geschoss aus Amors Köcher (wir sehen ganz fein darin das Wort Thelema eingeritzt, Sinnbild des höheren Willens) verwandelt sich in ein Zeichen der Liebe unter Willen, denn er fliegt direkt von Kether nach Chokmah und aktiviert damit die göttliche Liebe oder das menschliche Bild der Liebe Gottes (Jod in Chokmah). Das zeigt, dass die Kraft, die die Menschen sexuell stimuliert, mit der Sehnsucht nach dem Paradies identisch ist.

      Andere Verbindungen

      – Psychologische Zusammenhänge –

      Wenn die Lust der Geschlechtsakt ist, dann sind die Liebenden der Kuss: das erste Andocken auf der Brücke der Sehnsucht zur Vereinigung zwischen den Geschlechtern. Oder die Illusion der Einheit in der Hölle des Kollektiven nach der Vertreibung aus dem Garten Eden. Die Liebe steht für das universelle Streben der Vielheit nach der Einheit auf der Ebene der Seele (Liebende), des Leibes (Lust) und des Geistes (Kunst), und die Karte zeigt den ersten Schritt, den Fall aus der ursprünglichen Einheit zu überwinden und das verlorene Paradies wieder zu finden. Somit symbolisiert Atu VI die verschlingende Hingabe, die das verlorene Gefühl der Ganzheit durch die Liebe wieder zu erreichen verspricht.

       Die Pubertät des Narren (Befreiung von den Eltern durch die Verbindung von Animus und Anima)

      An der Schwelle zur persönlichen Entwicklung und Freiheit ist es nun die Aufgabe des Menschen, sich allmählich an seine eigene Schuhgröße heranzutasten. Es geht darum, seine gegengeschlechtlichen Seelenteile zu erfühlen und sich mit dem erklärten Ziel, Animus und Anima miteinander zu vermählen (die Liebenden miteinander zu verbinden), zu befassen, nachdem er sich mit den Elternbildern der ersten Karten auseinandergesetzt hat. Hat er sich von den hinderlichen Elementen der Tradition und der geistigen Autorität, der Last von Recht und Ordnung, von der noch weit schwereren Last des teilweise unbewussten Über-Ichs mit seinen verlogenen Maskierungen als Gewissen und Moralität, erstmals befreit, muss er nun beweisen, dass er sich in der Welt allein zurecht finden kann. Allmählich wird er von den Flammen der Libido erfasst, die nur für denjenigen gefährlich werden, der vor dem Erwachsenwerden davonlaufen will – denn die Pubertät ist voll im Gange. Je schneller er den Weg in die eigene Sexualität akzeptiert, desto leichter wird ihm die Entscheidung fallen. Wenn nichts schief geht, besteigt er in der nächsten Karte den magischen Wagen Agape und Thelema, Liebe und Willen, der ihn in seiner Entwicklung weiterbringt.

      Deutungen

      Im beruflichen Erleben liegt der Schwerpunkt der Karte auf der Entscheidungsebene, im Bereich, wie wir uns nach Abwägung aller gegebenen Fakten in Übereinstimmung mit unserem eigenen Empfinden zu verhalten haben (denn dem Archetyp dieses Bildes liegt ein eminentes Streben nach Verschmelzung mit den Plänen der Umwelt zugrunde, weil alles, was wir suchen, die Realisierung der Wünsche ist, die die anderen träumen). Schließlich beherrscht keiner der Trümpfe den Balanceakt zwischen Realität und Unbewusstem so perfekt wie diese Karte: den Doppelsalto, so unbeschwert und heiter zwischen Ja und Nein, Machen und Lassen tanzen zu können. Das gibt auch Goethes angestaubter Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust-Poesie wieder ein bisschen »multipersonalen« Auftrieb, denn meist sind es mehr als zwei Persönlichkeitsteile, die sich nicht entscheiden können, welche der unzähligen eventuellen Gewinne sie einer Entscheidung opfern wollen. Dann sitzen wir zwischen den Stühlen und wissen nicht, nach welcher Seite wir uns orientieren sollen. Es ist klar, dass wir nicht die ganze Bandbreite unserer Entscheidungsmöglichkeiten ausschöpfen können, in der trügerischen Hoffnung, irgendwann alle unsere Gelegenheiten in einer einzigen und universalen Geste zu krönen; es ist aber auch nicht so, dass wir mit den Liebenden nicht trotzdem zu glücklichen Entscheidungen kommen können, wenn wir lernen, Unwichtiges loszulassen und nicht an jedem »Hirnfurz« kleben zu bleiben, um das, was wir wirklich begehren, zu erhalten.

      In Beziehungsfragen setzen wir uns lieber mit den Problemen der anderen auseinander, um die Liebe sozusagen aus der Entfernung über das Harmoniestreben im anderen zu leben, statt uns um unsere eigenen Gefühle zu kümmern. Unser diplomatisches Gespür, uns in den Mittelpunkt unseres Interesses zu stellen, sichert uns die Aufmerksamkeit unserer Umwelt. Doch in der Selbsttäuschung verhangen, alles um uns herum harmonisieren zu müssen, sind Liebe und Beziehung in dieser Zeit eher Lostopf-Interessengemeinschaften mit der Möglichkeit der Ziehung des Hauptgewinns als eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem anderen. Was wir erfahren wollen, ist nicht die gemeinsame Erfüllung, sondern die Erfüllung der Sehnsucht nach sich selbst. Deshalb macht uns der alte Zauberer mit seinen schützenden Armen auch darauf aufmerksam, dass wir nur neue Erfahrungen machen, wenn wir unsere innere Unvollständigkeit erkennen. Das, was uns fehlt, müssen wir in uns selbst verwirklichen, denn das Verlangen, das verlorene Paradies durch das verzweifelte Verschmelzen mit der Umwelt zu erlangen, kann sich nicht erfüllen, solange wir unsere innere Leere nur durch eine Bindung an die uns »ergänzende« Umwelt verdrängen. In diesen Fällen sind die Liebenden eine Aufforderung, über unser aufgeschäumtes Bild vom anderen zu dessen eigentlichem Wesenskern vorzudringen, statt um jeden Prinzen oder jede Prinzessin immer wieder einen neuen Projektionsbilderrahmen zu zimmern.

      Die Liebenden in der Alchemie

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