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wer den unerschrockenen Doktor Faustus in dir sieht, müsste auch den Mephistopheles dazu erfinden. Da du deine eigene Mitte in Gott nicht erkanntest, meintest du, Gott umgekehrt als Mittelpunkt in dir selbst erfahren zu müssen. Deshalb identifiziertest du dich mit dem Unerkannten, das du zu erkennen glaubtest, bzw. mit dem Bösen selbst. Damit machtest du das Göttliche zum Teil deines persönlichen Willens und gebärdetest dich selbst als Schöpfer, der die Umwelt nach seiner eigenen Vorstellung bildet und in seine persönlichen Ziele einbindet. Der Advocatus Diaboli nennt es das Luzifer-Syndrom.

       Aleister Crowley mit Fischerhut, 1942

      Zurück zum Buch. Die einzig verfügbare deutsche Übersetzung deines Epos bei Urania2 ist gespickt mit inhaltlichen wie auch übersetzten Fehlern. Das hat seinen guten Grund. Zur Zeit der Herausgabe deines Buches 1944 warst du von deiner Drogenabhängigkeit schon so schwer gezeichnet, dass es nicht erstaunlich ist, wenn du immer wieder Dinge verwechseltest oder eigene Erkenntnisse widerriefst, als ob du im Alter vergessen hättest, was du als egozentrischer Dandy einst der erstaunten Welt verkündetest.3 Deshalb stellt sich für den unvorbereiteten Leser auch die Frage: Handelt es sich hier nicht um ein unlesbares Buch – einen Quasi- oder Anti-Tarot? Irgendwie ist es eine Art philosophischer Poly-Arhythmie, mystisch verbrämt und sich querbeet durch die verschiedensten Kulturen pflügend, sich dabei aus den verschiedensten Zitaten speisend in einem schier unerschöpflichen Ellaborat mystisch verunklarend gehütet dargestellt. Gerade weil deine Absicht nicht genau umrissen oder klar ist, weil sich die verschiedenen Gedanken und Möglichkeiten an den Grenzen ihrer Dualität überlappen, ineinander eindringen und sich miteinander vermischen, darf man dein Opus – will man einen roten Faden finden – keinesfalls mit dem Verstand ergründen. Jedes Einzelteil in sich ist weder präzis noch einleuchtend, aber zusammen ergibt es einen Geist, in dem der Leser spürt, dass das ganze Universum als menschliche Vision in ihm enthalten ist. Indem du alles mit deinen Erklärungen zudeckst, erschaffst du eine »überdefinierte« Situation, die zwar alles einschließt, was einem dazu einfällt, aber gleichzeitig auch alles offen lässt. Mit einem Satz: Es macht ganz den Anschein, als ob du in diesem Kartendeck nicht nur dein ganzes Lebenswerk, sondern auch ein ganzes Universum an Assoziationen und Gedankenfragmenten hineininterpretieren wolltest. Du versuchst die Symbole zu überhöhen, indem du erklärst, dass sie im Grunde einer höheren Absicht dienen, die in diesem oder jenem Werk nachzuschlagen wäre, wobei du zur Darstellung des Unerklärbaren gerade wieder jene (unerklärten) Symbole benutzt. Es ist ein merkwürdiger Versuch, von dem abzulenken, was du eigentlich zu erklären suchst, und damit das zu beschreiben, was sich nicht beschreiben lässt, dem Leser aber trotzdem das Gefühl zu geben, dass in seinem Geist das Unbeschreibliche irgendwie seinen Platz hat, wenn er zwischen den Zeilen liest, deinen Fußnoten folgt oder die von dir empfohlene Literatur (meistens deine eigene) beizieht. Und tatsächlich: Der Wissensanspruch, den du dir selbst gesteckt hast, ist unwahrscheinlich hoch. Es ging dir darum, neben der Kabbala, der jüdischen Geheimlehre, die hinter Zahlen und Buchstaben den verborgenen Sinn der Welt sucht, und den philosophisch-okkulten, Hermes Trismegistos zugeschriebenen Schriften, in denen ägyptische, griechische, jüdische und christliche Bestandteile vereinigt sind, auch die Symbole der Freimaurer, Illuminaten, Rosenkreuzer und des Fernen Ostens mit einfließen zu lassen. Du vermischtest das Ganze in einer Art »gnostischem Mix«, der über die Ingredienzen der Alchemie, des magischen Enochismus und der heiligen Magie von Abramelin sowie unter der weiteren Einbeziehung von Schutzkreisen, Zauberstäben, Anrufungen, altägyptischer Mystik und einer Prise Sexualmagie zu einem in der okkulten Szene bekömmlichen Drink »verschüttelt« wird, mit der Kirsche des viel zitierten Satzes Do what thou wilt shall be the whole of the law (Liber Legis I/​40) darin.4

      Kommen wir zu Gott. Vom unreifen, aber begeisterten Bruder Perdurabo bis zum schwergewichtigen, aber illusionslosen Meister Therion war es für dich ein langer Weg, und was einstmals eine zynische Identifikation mit dem war, was die gehasste Kirche den Erlöser nannte, verwandelte sich im Lauf der Zeit in eine komplexe magische Operation. Allmählich transformierte sich der Mensch in deinem Weltbild gleichermaßen in Schöpfer und Geschöpftes, Wanderer und Weg, Täter und Opfer der historischen Entwicklung, und nicht selten schwang deine Poesie auf einer geistigen Frequenz, bei der man den Eindruck hatte, dass sie aus einer übermenschlichen Quelle strömte. Oft beziehst du dich auch auf Geistführer und höhere Stimmen, die du zu interpretieren versuchtest, aber man hat dabei weniger das Gefühl, dass dir die Geister etwas mitteilen möchten, sondern – umgekehrt – dass du für die Geister eine Botschaft hattest, die sie dann stellvertretend über dich der Welt verkünden. Die Darstellung des Unsagbaren scheint dich zu beflügeln, Sinnbilder aus dem Hut zu zaubern, die dem unbewussten kollektiven Speicher entsprungen sind, und diese in einen überlieferten Mantel zu kleiden, wie ihn nicht nur der Mythos, sondern auch die Literatur oder die bildenden Künste bieten, wenn es gilt, etwas emotional »heraufzugewichten«, das man als innere Sehnsucht bezeichnen kann. Diese Symbole auf der Ebene der Träume und Phantasievorstellungen hast du sehr elegant in deine außerirdischen Erscheinungen gehüllt, die ihre Visionen in deinen Schriften so zweckdienlich entfalteten, dass man sich die Frage stellen muss, ob da möglicherweise nicht doch höhere Kräfte im Spiel waren? Diese »spirituelle« Haltung war gerade um die Jahrhundertwende sehr beliebt. Doch nicht nur du – auch viele andere spirituelle Meister, die ihre Botschaften wie harte Brotreste in alten Mysterien aufweichten, schöpften mit ihren Löffeln tief in den geheimnisvollen Pfründen außerirdischer Erscheinungen, mit denen sie die Suppenteller ihrer Anhänger füllten. Selbst wenn sich das ein wenig despektierlich anhört, heißt das nicht, dass manche Höhenflüge der selbsternannten Gurus, nur weil sie sich nicht in ein anerkanntes Religionsmodell einfügen, deswegen weniger wahr oder wirklich sind als die überlieferten Wundertaten der Heiligen der großen Kirchen.

      Im Rückblick sieht es fast so aus, als ob der Mensch gezwungen ist, nicht nur den Inhalt, sondern auch die Form des Mythos zu benutzen, um seiner eigenen Ergriffenheit, die er in der Realität nicht unterbringen kann, in den Künsten und Gefühlen ein Denkmal zu setzen. Das war schon in der Klassik und Romantik nicht anders. Wenn Goethes Faust kraft seines Paktes die »Projektion des Ewigweiblichen in sich« erfährt und am Ende am Selbstbekenntnis seiner Selbsterkenntnis scheitert (bevor er durch einen dramaturgischen Kniff des »himmlischen Herrn« gerettet wird), so ist dein Bruder Perdurabo5 ein schöpferischer Masochist. Er will bis ans Ende aushalten, auch wenn ihn die Langeweile beinahe erschlägt, denn nur wer bis ans Ende aushält, hat später nichts mehr auszuhalten. Dabei hattest du selbst die Menschheit als das furchtbarste Ereignis auf dem Planeten Erde, dem Planeten der Langeweile, deklariert. Wenn also weder Fausts geistige Erkenntnis noch Nietzsches erkannte Wahrheit annehmbar ist – was bleibt dem Menschen dann? Du hast es uns erklärt: das Neue Æon. Wo es für Faust die schöpferische Weiblichkeit einer wirklichen Frau ist, die durch ihre Schönheit hindurchleuchtet und ihn wie ein Flammenmeer anzieht, ist es für dich die Erweiterung des Menschen bis zu den Grenzen des Absoluten, bis in den Kern des wahrhaftigen und einzigartigen Gottes, der in jedem Menschen schlummert und die Seele einzig und allein entflammen kann: Nicht das Leuchtfeuer des Ewigweiblichen, sondern der Archetypus des Ewiggöttlichen ist das, was dich anzieht. Das Geniale bei dir war, dass du jede deiner göttlichen Inspirationen so exakt übermitteltest, dass sich dein persönliches Destillat irgendwo auf einer geistigen Frequenz so stark verankern konnte, dass sich auch heute noch viele Menschen davon angezogen fühlen. Auch wenn die meisten deiner Einfälle wieder in Zwischenbemerkungen ausufern und in den Fußnoten literarischer Verweise zerstäuben, im Gebrause und Getöse der nächsten Idee triumphieren oder im Dickicht der unter den Tisch gefallenen Idee warten, bis ein nächster Assoziationsfunke sie fünfzig Seiten später wieder zum Leben erweckt, macht sie das zwar für den Laien oft unverständlich, nicht aber für den Studierenden, der ja darauf lauert, immer wieder ein weiteres Puzzlestück vom großen Kuchen zu erhaschen, das er in sein Mosaik einfügen kann.

      Alles in allem ist das Buch Thoth in der gesamten Tarotliteratur ein herausklaffender Einzelgänger. Man könnte sogar behaupten, dein gesamtes Werk rage in seiner erschlagenden Fülle und der unkontrollierten emotionalen Kraft wie die New Yorker Freiheitsstatue aus dem verbrämten esoterischen Geist um die Jahrhundertwende heraus6, nicht nur im Sinne einer avantgardistisch-revolutionären

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