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Ich erinnere mich noch an die Zeiten, wo du, egal ob Tag oder Nacht, ein vollendetes Mahl bekommen konntest. Und mit Stil serviert, verstehst du? Sieh dich doch nur mal um. Blechschüsseln, Pappteller, McDonald’s. Nicht mal ein leidlicher Imbiss. Das Parker’sche Gasthaus ist eine Katastrophe. Kein Wunder, dass die Leute ihr Essen wie Schweine herunterschlingen. Ich habe seit Jahren kein akzeptables Omelette mehr bekommen.«

      »Hast du schon mit ihnen gesprochen?«, fragte Stoner ängstlich.

      »Ich versichere dir, ich habe mich laut und deutlich und ausgiebig beschwert, mit dem heutzutage üblichen Ergebnis.«

      »Was?«

      »Ich habe beim Büro des Bürgermeisters angerufen, bei der Kulturbehörde, im Gericht, sogar beim Gouverneur. Ich hätte auch im Schlaf sprechen können, der Effekt wäre derselbe gewesen.« Sie warf einen Seitenblick auf Stoner. »Ach, deine Eltern. Ich sagte, du seist nicht hier. Warst du ja auch nicht, oder?«

      »Was haben sie gesagt?«

      Tante Hermione stemmte ihre Hände in die Hüften. »Meine Liebe, selbst in meinem Alter sollte niemandem zugemutet werden, was die zu mir gesagt haben. Bitte, erwarte nicht, dass ich es vor deinen zarten Ohren wiederhole!«

      Obwohl ihr nicht danach zumute war, musste Stoner lächeln. Ihr stieg der Muskatnussduft der Pasteten in die Nase.

      »Soo!« Tante Hermione stürmte zum Backofen und holte die Pastetenröllchen heraus. »Auf geht’s.«

      Sie reichte Stoner einen Teller, ein Töpfchen mit Butter und ein Messer. »Tee in einer Minute. Sie sind köstlich. Von einer Klientin. Wunderbare Köchin. Sie bezahlt mich in Kalorien.«

      »Wie läuft das Geschäft, Tante Hermione?«, fragte Stoner höflich und versuchte, ihr Essen nicht wie ein Schwein herunterzuschlingen.

      »Es boomt. Okkultismus liegt im Trend, deshalb. Plötzlich ist es schick, sich seine Handlinien deuten zu lassen. Ich für meinen Teil bevorzuge seriöse Schüler der Mysterien, nicht diese Eintagsfliegen. Nächstes Jahr wenden sie sich dann wieder ihren fetten Sparkonten zu und wählen die Republikaner. Mein Vater pflegte in solchen Fällen immer zu raten: Schmiede das Eisen, solange es heiß ist.«

      Der Kupferkessel begann zu pfeifen. Tante Hermione schippte löffelweise losen Tee in eine vorgewärmte Kanne und goss heißes Wasser hinzu.

      »Erdbeer, Minze und Kamille. Du brauchst etwas, was dich kräftigt.«

      Stoner errötete. »Ich habe mich seit drei Tagen nicht gewaschen.«

      »Schäme dich niemals des Drecks, der dir ehrlich zuteil wurde«, sagte Tante Hermione. Sie musterte Stoner von oben bis unten. »Ein bisschen Schlaf könnte dir auch nicht gerade schaden.« Sie stützte ihre Ellbogen auf den Tisch und nahm ihr Kinn in die Hände. Ihre Augen blickten wachsam wie die eines Spatzes durch die mit Strass verzierte Plastikgestellbrille. »So, nun hast du es also endlich getan. Stoner, ich bin stolz auf dich.«

      »Wirklich?«

      »Schließlich hat es lange genug gedauert. Selbst ein Hund hätte gemerkt, dass er dieses Horrorhaus verlassen muss. Ich habe Helen nie verstanden, und bestimmt nicht, weil sie zehn Jahre jünger ist als ich. Vermutlich hat sie dich glauben lassen, ich sei ungefähr hundert Jahre älter und sie das Wunder der Menopause. Alles musste immer nach ihrem Kopf gehen, alle um sie herum hatten sich gefälligst danach zu richten, wie es ihr genehm war.«

      »Das trifft es in etwa«, sagte Stoner bitter.

      »Fieser als Katzenpisse. Ich will gern zugeben, dass es mir Angst gemacht hat, dich zur Frau heranreifen zu sehen. Sie setzte alle Hebel in Bewegung, aus dir eine exakte Kopie ihrer selbst zu machen.« Tante Hermione schüttelte sich. »Ich hab versucht, mit ihr zu reden. ›Helen, wenn du dich so sehr liebst, häng dir das Haus mit Spiegeln voll. Aber lass das Kind in Ruhe!‹«

      Sie goss Tee ein und reichte Stoner eine Tasse. »Und dieser Vater, den du da hast. Um es vornehm zu sagen, er würde sich nicht mal trauen, ›Scheiße‹ zu sagen, wenn er den Mund damit voll hätte. Der alte Angus muss sonst wo gewesen sein, als er ihn zeugte.«

      Stoner rollte sich in einer Ecke des Plaudersofas zusammen und fühlte sich – versuchsweise – sicher. Tante Hermione reichte ihr ein weiteres Pastetchen.

      »Hab ich dir je erzählt«, fragte sie, »wie ich dich mal beim Kartenspiel von ihr gewonnen habe?«

      Stoner schüttelte den Kopf.

      »Du warst eine Woche alt. Ich überredete sie zu einer Partie Gin-Rommé. Sie liebte es, zu spielen, aber hasste es, zu verlieren. Also mogelte ich und zog sie bis aufs Hemd aus. Nun würde deine Mutter ja selbst einen Pfennig so lange ausquetschen, bis er schreit. Ich ließ sie also verlieren und verlieren und machte ihr dann ein Angebot – zu bezahlen oder dich mir zu überlassen.«

      »War sie schockiert?«, fragte Stoner, die selbst ein wenig schockiert war.

      »Ihr Schlüpfer fing Feuer! Nachdem sich der Rauch verzogen hatte, versuchte sie sich herauszuwieseln. ›Spielschulden sind Ehrenschulden‹, sagte ich. Aber ich ließ mich darauf ein, deine Patin zu werden und deinen Namen zu bestimmen. Vielleicht hätte ich hart bleiben sollen.«

      »Davon hab ich nichts gewusst«, sagte Stoner.

      »Nun, das überrascht mich nicht. Tja, ich nannte dich nach Lucy B. Stone. Ich war eine große Bewunderin von ihr. Helen war weiß vor Wut. Sie hasst Feministinnen, schon immer.«

      »Was hat es dich gekostet?«

      »Fünfhundert Mäuse.«

      Stoner pfiff.

      »Es war geschenkt für das Vergnügen, zu wissen, dass sie jedes Mal, wenn sie dich rief, an Lucy B. Stone erinnert wurde.« Tante Hermione setzte eine unschuldige Miene auf. »Hätte ich gewusst, was ich heute weiß, hätte ich auf Gertrude Stein bestanden.«

      Stoner sah auf ihre Hände hinunter und wurde rot.

      »Ach, sei doch nicht so«, meinte Tante Hermione. »Es wärmt mir das Herz in den langen kalten Winternächten, zu wissen, dass ausgerechnet Helen eine Sappho hervorgebracht hat.« Sie rührte in ihrem Tee herum. »Wir brauchen einen guten Schlachtplan, Stoner. Diese Geschichte wird nicht ganz leicht für uns.«

      »Ich möchte dir keine Schwierigkeiten machen, Tante Hermione.«

      »Schwierigkeiten! Ich liebe Schwierigkeiten.« Sie warf einen Blick auf ihre Taschenuhr. »Aber jetzt muss ich meditieren gehen. In zwanzig Minuten habe ich eine Klientin.«

      »Ich such mir einen Job«, meinte Stoner eifrig. Tante Hermione sah sie streng an. »Das tust du nicht. Morgen gehen wir runter zur Uni und schreiben dich fürs Sommersemester ein. Meine Nichte wird keine Hippie-Aussteiger-Laufbahn einschlagen.«

      Stoner fühlte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen.

      »Und jetzt«, sagte ihre Tante fest, »isst du diese Pastete auf, nimmst ein Bad und ruhst dich aus. Ich brauche den Salon vorne für die Sitzungen. Ansonsten gehört das Haus dir.«

      »Danke«, murmelte Stoner. »Ich glaube, ich bleib hier noch ein Weilchen sitzen.«

      »Auch gut. Geh nicht ans Telefon.« Sie stand auf, um zu gehen, dann hielt sie inne und drehte sich noch mal um. »Stoner, niemand wird dich zwingen, wieder dahin zurückzugehen. Nie mehr.«

      ***

      Stoner seufzte schwer. Noch vier Wochen bis zum ersten Montag im September, dem Labour Day. Der Countdown lief. Sie machten immer in den letzten beiden Augustwochen Urlaub und krönten ihn unausweichlich mit einer Stippvisite inklusive Abendessen in Boston bei ihrer fahnenflüchtigen Tochter. Vielleicht waren sie ja der Meinung, ein Urlaub ohne Verdruss sei kein Urlaub.

      »Ich sollte sie einfach ausladen«, sagte sie laut.

      »Vielleicht hilft das«, meinte Marylou. »Wen ausladen?«

      »Meine Eltern.«

      Marylou

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