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glaube ich. ›Nein Danke‹ zu einer zweiten Portion Pommes frites. Und ungefähr dreiundzwanzig Mal ›Tut mir leid‹.« Marylou klopfte mit ihrem Bleistift auf den Schreibtisch. »Weißt du, ich hatte immer den Verdacht, dass Edith uns verkuppeln wollte.«

      »Ich dachte, du bist hetero«, sagte Stoner.

      »Ja, jetzt. Aber damals galt: Nichts ist unmöglich. Ihr war es egal, in welche Richtung meine Triebe gingen, solange sie nur irgendwohin gingen und dort blieben.«

      »Du hast nie irgendwas gesagt.«

      Marylou zuckte die Achseln. »Jede, die für zwei Pfennig Verstand hat, kann sehen, dass eine Beziehung mit dir ernst sein muss. Ich war nicht so weit, mich auf so was einzulassen.«

      Stoner stand wie ein nicht abgeholtes Gepäckstück mitten im Raum und fragte sich, wohin mit ihren Händen. »Bist du – äh – ich meine, willst du noch …«

      »Natürlich nicht, Dummchen. Glaubst du wirklich, ich hätte hier sieben Jahre lang herumgesessen, Tag für Tag, und mich vor Sehnsucht verzehrt? Ich hätte dich längst in den Garderobenschrank gelockt und dir die Kleider vom Leib gerissen!« Sie öffnete einen Umschlag mit einem silbernen Brieföffner. »Mist. Die Stromgebühren sind schon wieder erhöht worden. Jedenfalls sind mir Männer im Bett lieber, weiß der Teufel warum. Willst du eigentlich den ganzen Tag da stehen bleiben?«

      Mit glühenden Ohrläppchen huschte Stoner an ihren Schreibtisch zurück und ließ sich auf den Stuhl fallen. »Ich hoffe …«, sagte sie zögernd, »ich habe dich nicht abgeschreckt.«

      »Nein, Liebes, du hast mich nicht abgeschreckt. Ich kann genauso wenig für meine sexuellen Vorlieben wie du.« Sie betrachtete Stoner eine Weile. »Weißt du, du hast dich kein bisschen verändert.«

      Stoner schleuderte einen Stift in ihre Richtung. Daneben. »Doch, hab ich.«

      »Inwiefern?«

      »Ich bin älter.«

      »Nichts davon zu sehen. Unter diesem fraulichen – und ich möchte betonen, immer noch schrecklich attraktiven – Äußeren schlägt das Herz eines neugeborenen Lämmleins.«

      Das ging zu weit. Stoner stand auf. »Ich gehe.«

      »Das kannst du nicht. Ich komme zum Abendessen mit zu euch. Tante Hermione hat gesagt, es ginge um einen Notfall. Ich frage mich, welchen Wein man zu einem Notfall reicht.«

      Stoners Magen formte sich zu einem Knoten. »Meine Eltern sind hier.«

      »Ach, Stoner, du weißt genau, dass sie dich vorgewarnt hätte!«

      »Vermutlich.«

      »Aber es ist und bleibt seltsam«, sinnierte Marylou. »Deine Tante hat seit 1970, als die Katze diese Bohnen, diese Blue-Runners oder wie sie heißen, gefressen hatte, keinen Notfall mehr ausgerufen.«

      »Häh?«

      »Weißt du nicht mehr? Das war die Nacht, wo sie mir beibrachte – wenn man es so nennen kann –, wie Mah-Jongg gespielt wird.«

      Stoner grinste. »Sie nahm dir zehn Dollar ab.«

      »Deine Tante«, verkündete Marylou, »ist eine sehr süße alte Dame. Und sie ist eine Gaunerin.«

      Marylou wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Stoner betrachtete sie. Also Marylou war damals in sie verliebt gewesen. Sie fragte sich, was sie getan hätte, wenn sie es gewusst hätte. Stoner seufzte. Sie wusste nur zu gut, was sie getan hätte. Sie wäre geflohen, als ob der Teufel hinter ihr her sei. Zu der Zeit hatte die Tatsache, dass sie lesbisch war, sie mit Horror erfüllt, und das, obwohl ihre Sexualität noch in einem latenten, embryonalen Stadium steckte. Ans Tageslicht gebracht, hätte es sie glatt veranlasst, sich von der Spitze des Bunker-Hill-Denkmals zu stürzen. Jede Form von Sex hatte ihr Angst gemacht. Na ja, um ehrlich zu sein, es machte sie immer noch nervös. Und dann ihre Eltern, ihre Mutter, die entweder auf sie einbrüllte oder sich in hysterischen Nervenzusammenbrüchen erging, ihr Vater, der sie ansah, als sei sie ein schleimiges Etwas, das vom Grund des Ozeans abgekratzt worden war und nun übelriechende Flecken auf dem Wohnzimmerteppich hinterließ … Es half nichts, dass Tante Hermione ihnen vor Empörung schnaubend erklärte, sie sollten lieber froh sein, dass ihre einzige Tochter nicht mit einem ungewollten, illegitimen Kind im Bauch nach Hause gekommen sei, und wie sie das wohl vor den Nachbarn hätten geheim halten wollen, an deren Meinung ihnen ja offenbar weit mehr gelegen sei als am Glück ihrer eigenen Tochter … Aber sie verwiesen Tante Hermione nur darauf, dass diese Tochter ihnen gehöre, nicht ihr, und außerdem erst siebzehn sei, das wolle man doch mal klarstellen, und wenn sie sie unglücklich machen wollten, sei das ihr gutes Recht – um nicht zu sagen ihre Pflicht –, und Hermione solle ihre Nase aus ihren Angelegenheiten heraushalten, und überhaupt, was wisse sie schon, die keine eigenen Kinder habe und nicht mal verheiratet sei, und da sei sowieso irgendetwas faul, und wenn sie wüsste, was gut für sie wäre, würde sie besser bei ihrer Handleserei und ihrem Bohnenzeugs bleiben, denn es gäbe Orte, wo Leute wie sie enden könnten, und das seien nicht gerade Ferienheime, jawohl, und sie solle sich bloß vorsehen … woraufhin Tante Hermione in schallendes Gelächter ausbrach.

      Teilweise musste sogar Stoner darüber lachen, nur, wenn sie den Hörer auf die Gabel geschmettert und Tante Hermione abgehängt hatten, war es nicht mehr komisch.

      Eines Abends wusste Stoner, dass sie genug hatte. Wenn deine Mutter dir ununterbrochen erklärt, dass du sie krank machst, musst du es entweder irgendwann glauben, oder gehen, oder lernen, es zu ignorieren. Und Stoner war noch nie gut darin gewesen, irgendetwas zu ignorieren. Besonders nicht, wenn es etwas Unangenehmes war – was Dr. Kesselbaum ihr gegenüber ungefähr so ausdrückte, ›das soll keine Kritik sein, Stoner, Liebes‹, aber sie täte gut daran, dafür zu sorgen, dass sie sich in einer wohltuenden Umgebung und unter ihr zugetanen Menschen aufhalte. Doch in jener Nacht knisterte und qualmte die Luft vor Gewalt und nutzlosen Tränen, und Stoner hatte das Einzige getan, was ihr einfiel, ohne zu wagen, darüber nachzudenken. Sie war zu Tante Hermione geflohen.

      Sie stopfte in einen alten Rucksack, so viel hineinpasste, und wartete, bis es im Haus still wurde. Starr vor Angst schlich sie die Treppe hinunter, stahl fünfzig Dollar aus dem Portemonnaie ihrer Mutter und stieg in den Bus nach Boston.

      An der Bushaltestelle Park Square verließ sie der Mut. Tante Hermione würde sie hassen. Sie war feige, verantwortungslos und undankbar. Sie würde hinausgeworfen oder, noch schlimmer, zurückgeschickt werden. Sie konnte Tante Hermione nicht ins Gesicht sehen.

      Zwei Tage lang drückte sie sich in der Stadt herum, schlief auf dem Busbahnhof, starrte durch den herbstgelichteten Park auf die Backsteinfestung ihrer Tante, und der Ausdruck verständnislosen Schmerzes in den Augen ihres kleinen Hundes, als sie ihn sanft ins Haus zurückschob und die Tür zuzog, verfolgte sie. Zu guter Letzt schleppte sie sich hungrig, erschöpft und zermürbt die Stufen hoch und klingelte.

      »So«, sagte Tante Hermione. »Na, das wird aber auch Zeit!«

      Stoner sah hoch in das weiche, runde Gesicht ihrer Tante, das von wuscheligen grauen Haaren umkränzt war, und brach zusammen. »Bitte, schick mich nicht zurück«, murmelte sie.

      Tante Hermione zog sie in eine lavendelduftende Umarmung.

      »Sei kein Esel«, sagte sie und wischte mit ihrem Ärmel die Tränen von Stoners Gesicht. »Komm in die Küche. Ich mache uns eine Kanne Tee.«

      Stoner kauerte sich im Schneidersitz auf das verschlissene Plaudersofa, das eine Ecke der Küche zierte. Die Morgensonne fiel durch die Spitzengardinen in den Raum und zeichnete feine Licht- und Schattenmuster auf den polierten Dielenboden. Prismen in jedem Fenster warfen Regenbögen an die eierschalfarbenen Wände. Weidengeflochtene Vogelkäfige voller Hängepflanzen hingen an den Türen und über Tisch und Spüle.

      »Meine Schwester ist schon immer ein widerliches Aas gewesen.« Tante Hermione wirtschaftete herum und knallte Schubladen und Schranktüren. Sie fand ein paar Dänische Pasteten und schob sie in den Backofen. »Wahrscheinlich ein bisschen altbacken, aber es wird schon gehen. Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?«

      »Was?

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