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wie sie nur alle paar Jahre einmal stattfand. In einem großen Büro im Erdgeschoß standen die etwa 20 Angestellten der Firma in einem großen Halbkreis, während der Chef mit Leidensmiene verkündete, er habe Adele soeben fristlos entlassen müssen. Nicht dass sie in irgendeiner Weise kriminell gewesen oder der Firma auf andere Weise in den Rücken gefallen sei, aber ihr sei bereits zum zweiten Mal ein Fehler unterlaufen, der die Firma viel Geld koste, er müsse diese Konsequenz daher also ziehen.

      Ich bin heute mit Adele in losem Kontakt. Nach ihrem Ausscheiden aus der Firma veränderte sie sich Gott sei Dank um 180 Grad. Obwohl sie große Scheu davor hatte, irgendwelche kompromittierenden Interna preiszugeben, teilte sie einigen von uns bei einem späteren Treffen mit, was ihre fristlose Entlassung bewirkt hatte: In ihrer versperrbaren Schreibtischlade hatte sie eine Mappe, darin, nach Tagen geordnet und fein säuberlich durch Zwischenblätter getrennt, jene Zahlungen, welche zum jeweiligen Zeitpunkt getätigt werden mussten. So brauchte sie nur das aktuelle Blatt aufzuschlagen und hatte alle anstehenden Erledigungen parat. Eines Tages wurde ihr mitgeteilt, dass irgendetwas nicht termingerecht erledigt worden sei, dadurch sei der Firma ein Schaden von etwa 16.000 Euro entstanden, zufällig etwas mehr, als die Firma ihr an Abfertigung zu bezahlen gehabt hätte. Natürlich nahm sie unverzüglich ihre Mappe zur Hand und schlug jenes Blatt auf, wo sich die angeblich vergessene Aufgabe befinden hätte müssen. Und siehe da: Wie durch ein Wunder befand sich unter all den leeren Blättern jene verhängnisvolle Seite, wo ein einziges Blatt zurückgeblieben war: die unerledigte Finanztransaktion, welche angeblich den Schaden für die Firma verursacht hatte. Ich brauche an dieser Stelle wohl kaum zu erwähnen, wer außer Adele noch einen Schlüssel für diese Schreibtischlade hatte.

      Man bot Adele an, auf eine Klage wegen der 16.000 Euro zu verzichten, wenn sie im Gegenzug dafür darauf verzichte, in ihrer Angelegenheit die Arbeiterkammer oder gar das Arbeitsgericht zu bemühen. Die Geschäftsleitung wusste wohl, dass sie dieses Angebot annehmen würde. Eine elegante Lösung für die Firma. »Drei zu null für die Chefin«, möchte man da fast sagen.

      Wie tickt die Wirtschaft?

      Bei mir trudelten mittlerweile die ersten Absagen ein. Generell war der Tenor, dass man wohl meine hervorragende Qualifikation lobte, sich aber einen »noch besser geeigneten Bewerber aus der Fülle der eingegangenen Bewerbungen« herausgepickt habe. Wie man zu diesem Urteil über die bessere oder schlechtere Eignung gekommen ist, ohne mit mir auch nur ein Wort gewechselt zu haben, blieb mir natürlich verborgen. Eine tolle Formulierung in den Ablehnungsschreiben war auch jene vom »beeindruckenden Lebenslauf«. Sicherlich, nicht jeder Bewerber konnte 28 Jahre Berufserfahrung in sieben verschiedenen Unternehmen und insgesamt mindestens 100 Wochen an Fortbildungen nachweisen. Aber im Prinzip las es sich doch so, als würde mir ein vielleicht 33-jähriger »Human Resources Manager« mitteilen wollen, ich alter Trottel hätte in einem jungen und dynamischen Unternehmen, wie dies sein Arbeitgeber eben sei, nichts verloren.

      Was wünschen sich Firmen eigentlich? Wissen sie überhaupt, um welchen Preis man sich notfalls »verkaufen« würde, wenn die Position interessant und sicher klingt? Ist es überhaupt gewiss, dass man einen gut qualifizierten 30-Jährigen um dasselbe Geld langfristig halten kann? Können sich Firmen überhaupt vorstellen, dass ein fast 50-Jähriger weniger als einen Tag Krankenstand pro Jahr konsumiert? Dass ein solcher Mensch leistungsfähig und motiviert ist? Dass er gesund und nachhaltig lebt, sein Leben in stabilen Bahnen hält und demnach seine Energie überproportional in seine Arbeit stecken kann, dass dieser Mensch wahrscheinlich einen höheren Workload einbringt als ein 25-Jähriger, der ein Drittel seiner Arbeitszeit darin investieren muss, auch tagsüber auf Facebook und WhatsApp am Laufenden zu sein?

      Der Zufall wollte es, dass meine Tochter just zu dieser Zeit als Assistentin der Geschäftsleitung in einem technischen Handelsbetrieb tätig war. Als solcher oblag es ihr, die eingehenden Bewerbungen zu sammeln und alle paar Wochen mit dem Chef durchzugehen, um den laufenden Personalbedarf der Firma abdecken zu können. Bei ihr trafen viele Bewerbungen ein, denen man ansah, wie viel Mühe sich der Absender damit gemacht hatte: aufwändige Mappen, bunte Bilder, perfekt gestaltete und auf die Firma abgestimmte Coverseiten. Die Vorgangsweise des Chefs war folgende: Er blätterte die Mappen kurz auf, um bis zum Bewerbungsfoto zu gelangen. Hatte eine Person einige Fältchen im Gesicht, so schlug er die Mappe sofort wieder zu. »Zu alt«, war der lapidare Kommentar, mit dem er über die Zukunft von Menschen entschied. Er sah sich oft nicht einmal das Geburtsdatum an, weil dies für ihn bereits zu viel Aufwand bedeutet hätte. In der Privatwirtschaft ist man heute ab 40 pauschal zu alt, zu teuer, zu oft krank, zu unflexibel; und überdies kann man vermutlich auch nicht mehr »geformt« werden. Interessant wird man erst wieder ab 55, denn dann zahlt das AMS einen Gutteil des Gehalts. So kann sich die Wirtschaft ziemlich billig mit qualifizierten und motivierten Arbeitskräften eindecken, die plötzlich nicht mehr zu alt und zu unflexibel sind und aus denen man in den verbleibenden Jahren bis zur Pension noch allerhand herauspressen kann, ohne tief in die Tasche greifen zu müssen.

      Dann entdeckte ich etwas Interessantes: Etwa ein bis zwei Wochen, nachdem man mich höflich informiert hatte, einen besseren Bewerber »gefunden« zu haben, tauchte exakt dieselbe Stellenanzeige wieder im Internet auf. Wäre dies nur ein einziges Mal passiert, so hätte man durchaus annehmen können, der »Superbewerber« hätte sich kurzfristig anders entschieden und es wäre dem Unternehmen einfach zu peinlich gewesen, sich nochmals bei mir zu melden. Aber das passierte nicht einmal, nicht zweimal, nein, insgesamt siebenmal war in den folgenden vier Wochen eine Stelle, für die man angeblich bereits einen passenderen Bewerber gefunden hatte, abermals im Internet ausgeschrieben. Ich hatte also ganz klare Hinweise darauf, dass die Unternehmen sich offenbar gar nicht so leichttaten, hoch qualifizierte und erfahrene Bewerber für die ausgeschriebenen Positionen zu finden. Einen 48-Jährigen wollte man aber offenbar keinesfalls einstellen. Ein ausländisches Unternehmen, das im Großraum von Domstadt technisches Gerät für Zahnärzte herstellt, hatte die Stelle eines Mitarbeiters für die Presseabteilung ausgeschrieben – die in der Ausschreibung genannten Anforderungen erfüllte ich zu 100 %, auch konnte ich mit weit darüber hinausgehenden Kenntnissen aufwarten. Nun, nachdem ich nach erhaltener Absage die Stellenausschreibung erneut entdeckt hatte, schrieb ich an die Absenderin meiner Absage zurück:

      »Sehr geehrte Frau K., ich habe gesehen, dass diese Position erneut ausgeschrieben wurde. Sollte es mit meinen ›Mitbewerbern‹ nicht geklappt haben, so möchte ich Sie über mein aufrechtes Interesse an dieser Stelle höflich informieren. Mit besten Grüßen …«

      Nun möchte man meinen, dass die arme Frau K. sich unverzüglich und hoffnungsfroh bei mir gemeldet hätte, nachdem ihr alle »besseren Bewerber« offenbar abgesprungen waren. Nichts dergleichen passierte. Nicht einmal eine Lesebestätigung für meine E-Mail kam zurück. Ähnlich erging es mir in weiteren Fällen: Etwa vier- bis fünfmal machte ich mir die Mühe, nach neuerlicher Ausschreibung einer Stelle per E-Mail oder auch telefonisch nachzuhaken – auf meine Mails kam üblicherweise keinerlei Reaktion mehr. Bekam ich aber einmal eine Dame ans Telefon, so stammelte diese ziemlich hilflos herum, von einem Irrtum war dann die Rede oder davon, dass die Stelle vom Computer versehentlich nochmals ausgeschrieben worden sei (so was passiert, kostet ja gerade einmal um die 1000 Euro, Computer tun solches manchmal). Auf jeden Fall war für mich bewiesen: Eine Firma sucht lieber weiter nach dem optimalen (jungen) Bewerber und investiert dafür entsprechend Zeit und Geld, bevor sie einen bestens geeigneten 48-Jährigen einstellt.

      Der neue Student

      Es war kurz nach Mitte Juni. Obwohl ich die Umschulung zum Lehrer innerlich bereits ad acta gelegt hatte, drängte mich meine Frau, mich doch noch an der PH (Pädagogischen Hochschule) Domstadt einzuschreiben. Der letzte Einschreibtermin stand unmittelbar bevor. Da ich an diesen regnerischen Frühsommertagen ohnehin nicht allzu beschäftigt war und mich die Einschreibung nicht mehr kosten sollte als einige Kopien und eine Autofahrt nach Domstadt, beschloss ich, mir auch diesen Weg offen zu halten.

      Es war kurz vor zwölf an einem trüben Freitagvormittag. Die letzten Schritte legte ich zu Fuß zurück. Je näher ich dem Gebäudekomplex aus den 1970er-Jahren kam, desto unwohler fühlte ich mich. Was um Himmels willen mache ich da? Unmengen von Schülern und jungen Menschen strömten mir auf der Straße

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