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Sie«, Eva nahm Beck die Lampe aus der Hand. »Geben Sie die mir. Und schauen Sie lieber woanders hin.«

      Joachim Beck schloss dankbar die Augen, während sich Stiller fluchend und schwitzend weiter an seiner Hand zu schaffen machte. Schließlich − er war mit sich offensichtlich einigermaßen zufrieden − nähte er die Wunde mit sieben Stichen und klebte einen breiten Pflasterstreifen auf sein Werk.

      »Eva gibt Ihnen gleich ein paar Tabletten Antibiotika. Nehmen Sie die die nächsten zehn Tage. Die Fäden können raus, wenn die Tabletten alle sind.« Stiller stand auf. Er kramte eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche.

      »Könnte ich auch eine haben?«, fragte Beck.

      Stiller nickte. »Kommen Sie mit.«

      »Sie können ruhig hier rauchen.« Eva, die den Tisch abräumte, zuckte mit den Achseln. »Ich glaube kaum, dass die Rauchmelder noch funk tionieren. Und selbst wenn, wird niemand kommen.« Was sie sagte, klang traurig. Und endgültig. Als ob sich die Katastrophe dieses Tages auf das Funktionieren eines Rauchmelders reduzieren ließe. Und das Traurige dabei war, dass dies tatsächlich dem Istzustand entsprach.

      Während sie rauchten, sprach keiner ein Wort. Jeder hing seinen Gedanken nach und starrte in die Finsternis, die Taschenlampe hatten sie gelöscht. Beck grübelte über die Gefangenen im OP nach, während Stillers Gedanken bei seiner schwangeren Frau in Freiburg waren. Schließlich drückte Eva ihre Zigarette in einer Untertasse aus. Es war die erste Zigarette seit acht Jahren und sicher nicht das Beste für das Baby.

      »Ich dachte vorhin wirklich, das war’s. Wenn Sie nicht gekommen wären …« In ihr lief erneut der Film von Ritter, Mehmet und Fuchs ab, in dem die drei in die Station eindrangen und sich dann um sie kümmerten. Kümmerten. Lag der Ursprung des Wortes in Kummer? Sie hatte Todesangst ausgestanden, als unter der Maschinengewehrsalve die obere Scheibe der Glastür zersplitterte. Was wäre gewesen, wenn Beck nicht erschienen wäre?

      »Bis auf Glück sind wirklich alle Patienten tot?« Stiller blies Rauch über den Tisch. »Sind Sie sicher, dass kein anderer noch lebt?«

      Eva schüttelte den Kopf. »Ganz sicher, Doktor. Aleksandr Glück ist unser einziger Patient, sieht man von unserem Retter hier einmal ab.«

      »Und was machen wir jetzt?« Beck stellte die Frage, die allen dreien im Kopf herumschwirrte. Und die keiner als Erster aussprechen wollte. Weil keiner eine Antwort wusste. Weil keiner wusste, wie die Welt außerhalb der Station im Augenblick funktionierte, geschweige denn, wie sie bei Sonnenaufgang aussehen würde. Wäre dann der Strom wieder da? Funktionierten die Handys? Gäbe es noch irgendeine Ordnung, einen Staat?

      So, kam es Eva in den Sinn, muss sich ein Kind fühlen, das vom Sandkastenspiel aufsieht und erkennt, dass die Mutter verschwunden ist. Und der Vater. Und dies in einer fremden Stadt.

      Alle Sicherheit, alle Gewohnheiten und die traute Berechenbarkeit des Kommenden waren nicht mehr, sowohl für das Kind im Sandkasten als auch für Eva, Stiller und Beck. Nur, dass das Kind wahrscheinlich von einer mitfühlenden älteren Dame mit Brille und Stützstrümpfen zur Polizei gebracht werden würde, während sie hier höchstens noch auf einen Gott hoffen durften und darauf, dass der auch gerade in der Stimmung war, ihnen zu helfen.

      Über den Stationsflur drangen aus Aleksandr Glücks Zimmer tiefe regelmäßige Atemzüge zu ihnen herüber.

      »Und wo bleibt jetzt mein versprochener Kaffee?«, fragte Stiller schließlich. Er fragte allerdings nur, um überhaupt etwas zu sagen. An die Erfüllung des Versprechens glaubte er nicht ernsthaft.

      »Stimmt. Hätte ich fast vergessen.« Beck schlug sich mit der gesunden Hand gegen die Stirn und tastete nach der Taschenlampe.

      »Was dagegen, wenn ich uns ein kleines Feuer mache?«

      »Hier?« Eva klang entgeistert. »Wollen Sie das Krankenhaus in Brand stecken?«

      »Nein, natürlich nicht.«

      Beck sah sich im Lichtkegel der Lampe im Aufenthaltsraum um, dann hatte er gefunden, wonach er suchte. Er ging zu dem metallenen Spülbecken und öffnete die Tür darunter.

      »Das müsste gehen.«

      »Was müsste gehen?« Stiller kam zu ihm.

      »Wenn Sie den Siphon hier abschrauben«, erklärte Beck dem Mediziner, »müsste ein Feuer im Spülbecken genügend Zugluft bekommen. Haben Sie einen Topf?«

      Eva schüttelte den Kopf.

      »Sonst irgendein Metallgefäß? Irgendwas, das wir ins Feuer heben können?«

      Arzt und Krankenschwester überlegten kurz, dann fragte Eva:

      »Geht vielleicht auch ein kleiner Metallcontainer?«

      Beck nickte. »Egal, wie das Ding aussieht − Hauptsache es ist feuerfest und dicht.«

      Eva brachte eine fünfzehn Zentimeter hohe Blechkiste mit dem Grundriss einer Computertastatur.

      »Müsste gehen«, nickte Beck und erhob sich. In der Hand hielt er den Siphon. »Jetzt brauchen wir nur noch Papier und Pappe. Holz habt ihr hier sicher nicht vorrätig.«

      »Doch!«, widersprach Eva. Sie ging in den Lagerraum nach nebenan und als sie wenig später zurückkam, hielt sie den Männern stolz acht kleine Regalbrettchen hin.

      Stiller zerknüllte unter der Anleitung des einhändigen Beck Papier, schichtete Pappe darüber und entzündete schließlich das kleine Lagerfeuer.

      »Wenn das Tröndle sehen könnte.«

      »Oder Kellermann!«, freute sich Stiller, erschrak aber sofort über die eigenen kühnen Worte und Taten und sah sich um. Nein, das hier gehörte sich wirklich nicht. Das widersprach allen gängigen Regeln. Man wird den Schuldigen zur Rechenschaft ziehen.

      Wie von Beck erwartet, erhielt das Feuer durch die Öffnung im Spülbecken genügend Sauerstoff. Bald knisterten die ersten Regalböden und über die Wände und die Decke des Raumes flackerten warme Schatten. Blauer Rauch sammelte sich unter der Decke, ohne dass der Rauchmelder irgendetwas zu beanstanden hatte, und zog durch die beiden weit geöffneten Fenster nach draußen. Schließlich setzte Stiller den Container über das Feuer, während Eva zwei Flaschen Mineralwasser hineingoss.

      Es dauerte fast zwanzig Minuten und weitere vier Brettchen, dann begann das Wasser zu sieden.

      32

      01:26 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen, Operationssaal 3

      Es dauerte eine Weile, bis Mehmets hysterisches Geschrei endlich nachließ. Vielleicht Tribut an seine Erschöpfung, vielleicht aber auch, weil es einfach nichts brachte. Irgendwann verstummte er. Er saß mit dem Rücken an der Wand in einer der Ecken ihres Gefängnisses und schlief. Ritter und Fuchs lauschten dem Atem des Jungen, Atemzüge, die einmal dahinjagten, dann wieder für einige Sekunden ganz verstummten, als hielte der Bengel im Schlaf die Luft an.

      Hermann Fuchs hockte in der gegenüberliegenden Ecke des Raumes. Er hatte den weiten Mantel eng um sich geschlungen. An der Brust spürte er den wohltuenden Druck seines Geldbündels und war zufrieden. Genau zwischen den Männern musste der Operationstisch stehen, mit dem toten Stinker drauf, wie Ritter die Leiche nannte. In der Ecke zwischen Mehmet und Fuchs lag Daniel Ritter. Er hatte starke Schmerzen. Den Verband hatte er vor einer Stunde abgenommen, aber in der Dunkelheit, die den kleinen Operationssaal bis unter die Decke ausfüllte, konnte er sein Bein nicht erkennen. Aber seine Finger hatten gefühlt, dass etwas nicht stimmte. Die verkrustete Wunde fühlte sich heiß an und aus einem Ende der hastig ausgeführten Naht sickerte warme Flüssigkeit. Die junge Ärztin, die Ritters Bein in der Ambulanz genäht hatte, war durch die Präsenz der Männer und durch das Chaos dieses Morgens derart verunsichert, dass sie ihrer Sorg faltspflicht nicht in allen Punkten gerecht geworden war. Sie hatte die Wunde nur flüchtig desinfiziert (und dabei immer abwechselnd zu den Freunden ihres Patienten gesehen, die mit verschränkten Ar men die beiden Ausgänge der Kabine blockiert hatten) und sie hatte

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