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Ich verlor die Nerven. »Ralf, wach auf, wir gehen unter!«, rief ich, während der Regen weiter prasselte. Ralf fuhr hoch, sofort wackelte wieder alles. »Was ist los?«, fragte er verwirrt, »du spinnst. Auf der Fähre waren wir gestern, hier sind wir an Land, hier kann man nicht untergehen.« Jetzt schien er den Lärm des Regens erst richtig zu registrieren und schob ein etwas unsicherer klingendes » ... glaub ich jedenfalls« hinterher. »Guck mal, was passiert, wenn ich auf den Boden haue«, sagte ich. Es war, als zelteten wir auf einem großen Wackelpudding. Oder einem Wasserbett. Jede Bewegung führte sofort zu spürbaren Vibrationen und Gewackel. »Das war doch die ganze Zeit schon«, murmelte Ralf, aber richtig überzeugt wirkte er nicht. »Es hat die ganze Nacht geregnet«, gab ich zu bedenken, »das ganze Wasser muss ja hier ins Moor eingezogen sein. Vielleicht weicht jetzt der ganze Boden auf, und wir gehen unter?« »Quatsch«, sagte Ralf, aber er betonte es eher wie »schon möglich«. In dem Moment vibrierte der gesamte Boden wie toll. Wir sahen uns entsetzt an. Wieder eine Welle, wieder bebte der ganze Boden. Mir stiegen die Tränen in die Augen. Ich wollte nach Hause. Aber das konnte ich natürlich auf keinen Fall sagen. Es war schließlich, nach der Nacht auf der Fähre, unsere erste richtige Feriennacht, das Abenteuer war gerade erst losgegangen. Und war uns schon erheblich zu abenteuerlich, denn jetzt bebte der Boden zwar nur recht fein, aber doch sehr anhaltend. Von uns, das war damit endgültig geklärt, gingen die Wellen also auf keinen Fall aus. »Ist da draußen nicht auch irgendwas?«, fragte ich unsicher. Allerdings hörte man kaum etwas, wegen dem Regen. Ralf schaute plötzlich wild entschlossen und knurrte: »Wir gehen da jetzt raus und gucken nach!«

      Da birst das Moor, ein Seufzer geht

      Hervor aus der klaffenden Höhle;

      Weh, weh, da ruft die verdammte Margret:

      »Ho, ho, meine arme Seele!«

      Der Knabe springt wie ein wundes Reh,

      Wär’ nicht Schutzengel in seiner Näh’,

      Seine bleichenden Knöchelchen fände spät

      Ein Gräber im Moorgeschwehle.

      Ich schluckte. Ich hatte Angst. Ich wollte nicht mitten in der Nacht bei Starkregen in ein bebendes Moor hinaus. Hier lagen wir wenigstens. Ich hatte in den Abenteuerbüchern meiner Kindheit gelesen, dass man sich hinlegen muss, wenn man in Mooren oder Treibsand oder auf Eis einzusinken oder einzubrechen droht. Wer weiß – wenn wir einen Schritt vor die Tür setzen, dann schnappt sich uns das Moor. Und zieht uns in die Tiefe.

      Aber Ralf hatte sich schon vorgebeugt, die Taschenlampe angemacht und den Reißverschluss des Eingangs aufgezogen. Er lugte kurz nach draußen, dann stieg er aus dem Zelt. Ich wartete ängstlich, ob ein auffälliges Schmatzgeräusch davon kündetete, dass er vom Untergrund verschlungen worden war. Aber nichts. Nur der Boden wackelte erkennbar, als er offenbar ums Zelt stapfte. »Komm mal raus«, brüllte er mir zu. Also gut. Der Gefahr ins Auge sehen. Vielleicht wirkte ja alles auch ganz harmlos, wenn man erst mal die Perspektive wechselte. Ich schnappte mir meine Taschenlampe, quälte mich in die eklig feuchten Schuhe und stieg ebenfalls nach draußen. Ralf stand direkt neben dem Eingang und ließ den Schein der Taschenlampe um das Zelt wandern. Und im Lichtkegel tauchten sie dann auf, eine nach der anderen: Kühe. Eine ganze Herde. Sie waren gekommen, uns zu holen. Beziehungsweise: uns zu zermalmen. Noch standen sie rings um unser Zelt und käuten gelassen vor sich hin. Immerhin, das erklärte das Beben. So eine Kuh wiegt ja ordentlich was, wenn die einen Schritt geht, kann der Moorboden schon mal wackeln. Aber wenn die Kühe nachts einfach über unser Zelt stampfen würden, dann wäre es um uns geschehen. »Ach du scheiße«, murmelte ich also, »was machen wir jetzt?« Ralf schaute mich erstaunt an: »Was sollen wir denn machen?« Er hatten den »Velbinger« nicht gelesen. Er wusste nichts von der Gefahr, in der wir schwebten. »Wenn die jetzt eine Stampede machen? Über unser Zelt?« Ralf sah zu mir, als habe ich den Verstand verloren. »Die stehen hier in aller Seelenruhe herum und machen überhaupt nichts. Außer eine Menge Kuhfladen, was morgen beim Frühstück unschön sein könnte. Sonst sehe ich hier keine Gefahr. Und so lange der Boden hier eine ganze Kuh-Herde trägt, wird wohl kaum unser Zelt darin versinken, egal wie viel es noch regnet. Ich leg mich jetzt wieder hin. Ich bin schon völlig durchnässt.« »Aber ... wenn die ... und außerdem: Wenn es morgen hell wird, unser Zelt ist rot!« »Na und? Das sind Kühe, keine Stiere. Außerdem ist das doch sowieso nur ein Mythos mit dem Rot. Jetzt komm schon rein. Die einzige Gefahr hier ist, dass du dir den Tod holst bei dem Dreckswetter.«

      Vom Ufer starret Gestumpf hervor,

      Unheimlich nicket die Föhre,

      Der Knabe rennt, gespannt das Ohr,

      Durch Riesenhalme wie Speere;

      Und wie es rieselt und knittert darin!

      Das ist die unselige Spinnerin,

      Das ist die gebannte Spinnlenor’,

      Die den Haspel dreht im Geröhre!

      Ich resignierte. Einschlafen konnte ich nicht mehr in dieser Nacht, ich fiel in einen unruhigen Dämmerzustand. Bei jedem Beben des Bodens, wenn eine Kuh ihre Position veränderte, fuhr ich hoch und schaute ängstlich zum Zeltdach, in der Erwartung, gleich von mehreren Tonnen Hamburger-Rohmasse zertreten zu werden. Oder doch noch im Moor abzusaufen.

      Mit der ersten Morgendämmerung schälte ich mich aus dem Schlafsack. Der Regen hatte jetzt aufgehört, gebebt hatte es auch eine Weile nicht mehr. Ich kroch nach draußen im ersten Morgenlicht, die Kühe waren längst weg. Ich zog meine Iso-Matte nach draußen, schmiss den Kocher an und machte mir einen heißen Tee. Aus dem Boden stiegen Schwaden auf. Ich saß vor unserem Zelt, schlürfte meinen Tee und spürte, wie ein leichtes Glücksgefühl langsam in mir hochkroch, im selben Maße, wie das Frösteln nachließ. Wir hatten es überlebt. Und wir saßen hier, mitten in der Wildnis, am äußersten Rand von Europa. Wir hatten wild gezeltet. Wir konnten hingehen, wohin wir wollten. Wir hatten unser erstes Abenteuer erlebt. Endlich war es wirklich so weit: Wir machten Interrail.

      Letzte Worte

      Im Fall von Herrn Böttger entfiel immerhin dieser schreckliche Moment, wenn man einen bei vollem Bewusstsein liegenden Patienten zum Sterben in ein Einzelzimmer schiebt. Das habe ich in meiner Zivildienstzeit am meisten gehasst. Ich kam mir dabei vor wie der Assistent des Henkers, der den Delinquenten zum elektrischen Stuhl führt, nur dass der Vollstrecker bei uns in aller Regel Krebs hieß und sich weigerte, den Hebel auf Kommando zu drücken, das Überraschungsmoment gab er nie aus der Hand. Dennoch, wenn es wirklich zu Ende ging, veranlasste Schwester Eugenia die Verlegung aus dem Dreibett- in ein Einzelzimmer, wann immer das möglich war. Sie wollte die anderen Patienten nicht zu stark belasten, bei uns waren Sterbende immer Einzelfälle, wir hatten keine praktischen Sammelräume für sie wie die drüben auf der Internistischen, die meisten unserer Kunden gingen nach kurzem Aufenthalt auf der Station und noch kürzerem auf dem OP-Tisch wieder frohgemut nach Hause.

      Nur hin und wieder entpuppte sich die vermeintliche Zyste am Anus – von Schwester Eugenia wurden solche Patienten bei der Übergabe immer etwas respektlos als »wieder einer mit ‘nem Säuferpickel am Hintern« vorgestellt – als Botschafterin eines weit fortgeschrittenen Tumors, und dann wurde es sehr hektisch und ungemütlich. »Auf- und wieder zugemacht«, lautete der interne Kodex für hoffnungslos, wenn die Chirurgen nichts mehr ausrichten konnten, und wir versuchten dann, die Patienten möglichst schnell wieder loszuwerden. Wir waren eine chirurgische Station, und da gab es dann in so einem Fall ja nun einmal nichts mehr zu tun. Aber manchmal scheiterte die Abschiebung, dann mussten wir die Sache eben zu Ende bringen, und irgendwann wurde das Einbettzimmer fällig, damit die anderen Patienten nicht beunruhigt wurden und damit sich der Priester seinem fluchtunfähigen Opfer in Ruhe allein widmen konnte. Schließlich waren wir ein katholisches, klösterlich geführtes Krankenhaus.

      Im Fall von Herrn Böttger entfiel immerhin also dieser schreckliche Moment, wenn man einen bei vollem Bewusstsein liegenden Patienten zum Sterben in ein Einzelzimmer schiebt, weil Herr Böttger von Anfang an in einem Einzelzimmer lag, denn er war Erste-Klasse-Patient. Als solcher genoss er das Privileg, von Schwester Eugenia, unserer Stationsnonne, persönlich für die Operation rasiert zu werden ebenso wie von ihr die Wundversorgung am Anus zu bekommen. Ich weiß nicht, wie sehr er das

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