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Wir hatten ja im Grunde gar keine Ahnung davon, was dort damals passiert war.

      Wir versuchten uns sofort in Verteidigung. Das sei doch schon so lange her, gaben wir zu bedenken, Deutschland heute sei doch ganz anders. Natürlich gebe es ein paar Unverbesserliche, aber die meisten Deutschen seien anderen Völkern gegenüber sehr aufgeschlossen. Ja, natürlich, rief einer der Marokkaner, mit dem Krieg hätten wir natürlich nichts zu tun. Darauf stießen wir erleichtert mit ihnen an. Aber, spann der Wortführer die Unterhaltung weiter, aber wenigstens hätte Hitler mal was gegen die Juden gemacht. Ralf und ich starrten ihn sprachlos an. War das eine Falle? Wir hatten ausgiebig im Unterricht die Gräuel des Holocaust durchgenommen, wir hatten Filme gesehen und Anne Franks Tagebuch gelesen, wir hatten leidenschaftlich geschworen, dass so etwas nie wieder passieren dürfe und man den Anfängen wehren müsse, wir hatten gegen die Wahlerfolge der Republikaner protestiert, und nun das. Jetzt wollten sie uns dafür verantwortlich machen? Überschwänglich prostete unser Gegenüber uns zu, dann rief er: Deutsche und Araber, wir sind Freunde und werden immer Freunde sein! Weil wir gemeinsam gegen die Juden kämpfen! Die anderen aus der Gruppe fielen jubelnd ein, die Bierdosen tockten zusammen. Und mir wurde allmählich klar: Die wollten uns überhaupt keine Vorwürfe wegen der Vergangenheit unseres Landes machen. Die mochten uns wegen der Vergangenheit unseres Landes.

      Auf eine solche Situation hatte uns in der Schule niemand vorbereitet. Judenhass – das kannten wir ausschließlich als deutsches Phänomen aus der dunklen Geschichte. Uns wurde sehr unwohl zumute. Aber, so versuchten wir noch ein letztes Argument, die Deutschen hätten doch im Krieg auch gegen sie, die Nordafrikaner, gekämpft? Ja, schon, aber das sei doch so lange her, das könnten sie uns heute doch nicht mehr vorwerfen. Was zählt, ist das Heute! Und da verbinde uns eben die Abneigung gegen die Juden! Prost! Auf die arabisch-deutsche Völkerfreundschaft!

      Wir hätten widersprechen müssen. Wir hätten gehen müssen. Wir hätten irgendwas tun müssen.

      Wir sagten nichts. Wir gingen nicht. Wir taten nichts. Wir saßen da, versuchten uns nichts anmerken zu lassen, wir ließen uns sogar, als wir dann doch ins Bett gehen wollten, noch zu einem weiteren Bier überreden, auf die deutsch-arabische Freundschaft. Trotz allem: Wir genossen die Herzlichkeit und Freundlichkeit unserer neuen Bekannten, wir waren auch ein wenig stolz, dass wir dieses exotische Abenteuer bestanden hatten. Das leidige Juden-Thema war längst vergessen. Wir bleiben in Kontakt! Wir schreiben Euch mal! Wir besuchen Euch!

      Der Kater am nächsten Morgen fühlte sich stärker an als üblich. Wir packten unsere Rucksäcke und zogen los, Richtung Bahnhof. Wir hatten Interrail gemacht. Morgen würden wir wieder im übersichtlichen, ruhigen Münster sein.

      Wir haben uns nie geschrieben. Im nächsten Jahr haben wir tatsächlich wieder Interrail gemacht. Diesmal nach Skandinavien.

      Die Knaben im Moor

      Uns zog es gleich zu Beginn unserer ersten Interrail-Tour nach Connemara. Diese Region ganz im Westen von Irland galt als besonders ursprünglich und wild, mit weiten Moor-Landschaften. Nicht ganz Afrika, in unseren Ohren aber doch immerhin sehr exotisch.

      Irland war, neben Skandinavien, das einzige Land in Europa, wo man sein Zelt einfach aufschlagen durfte, wo man wollte. Das erschien uns ebenfalls aufregend. Unterstrichen wurden unsere Fantasien noch von unserem Reiseführer, dem »Velbinger«, damals das unter Backpackern am weitesten verbreitete Standardwerk, das unsere Sympathie schon dadurch erobert hatte, dass es als Symbol für Camping-Hinweise ein comichaft gemaltes Zelt verwendete, aus dem die Füße eines kopulierenden Paares herausragten. Wild zelten! Mehr Freiheit und Abenteuer war ja gar nicht denkbar.

      Tatsächliche, reale Gefahren schien es dagegen keine zu geben. Kriminalität galt als unbekannt, die beiden einzigen Warnhinweis waren, einerseits nicht direkt an Klippen zu zelten, damit das Zelt im Falle eines der häufigen Stürme nicht in den Abgrund geweht würde, und nicht auf Kuhweiden zu campieren, denn angeblich, so der »Velbinger«, habe es schon Todesfälle durch Stampeden gegeben. Beide Risiken schienen uns gut überschaubar. Steile Klippen würden wir einfach meiden, und Kühe kannten wir aus Westfalen hinreichend gut, die beunruhigten uns nicht.

      Wir reisten mit dem Bus an, stiegen einfach irgendwo aus, wo alles schön grün aussah, wanderten ein wenig ins Moor hinein und schlugen an einer etwas erhöhten, nicht allzu nassen Stelle unser Zelt auf. Dann schmissen wir den Gas-Campingkocher an, um uns Spaghetti zu kochen und damit den kulinarischen Fahrplan für die kommenden vier Wochen vorzugeben, denn wir konnten beide sowieso nichts anderes. Es war herrlich! Gut, es war kühl und regnete, aber das gehört ja nun mal zu Irland dazu, das unterstrich nur den Hauch von Abenteuer. Als es dunkel wurde, zogen wir uns ins Zelt zurück, genossen das Pladdern des Regens auf unserem Zeltdach und unterhielten uns noch lange, ehe wir irgendwann glücklich einschliefen.

      Mitten in der Nacht wurde ich wach. Der Regen war erheblich stärker geworden. Es schüttete. Na ja, so ist halt Irland, dachte ich. Auch wenn sich alles jetzt schon etwas ungemütlich anfühlte, die Sachen klamm, irgendwo tropfte es zudem offenbar, außerdem fröstelte mich etwas. Vor allem aber meinte ich, seltsame Geräusche zu hören. Ich konzentrierte mich, konnte aber nichts Genaueres ausmachen, zumal der auf das Zelt prasselnde Regen eine beachtliche Lautstärke erreicht hatte. Ein bisschen gruselig war es ja schon, das Wildzelten. Wir hatten uns zwar etwas von der Straße entfernt, damit nicht jeder vorbeifahrende Wagen uns gleich sehen konnte, und es gab ja praktisch keine Kriminalität in Irland. Andererseits – Geschichten von Trollen, merkwürdigen Wesen und Dorfwahnsinnigen gab es dann doch reichlich, auch dem Moor an sich haftete ja eine unheimliche Aura an. Tagsüber hätte ich jeden Gedanken daran natürlich lachhaft gefunden, aber jetzt nachts war mir meine Anette von Droste-Hülshoff, die jedes Kind in Münster mit der Muttermilch aufsaugt, doch plötzlich recht präsent.

      O, schaurig ist’s, übers Moor zu gehn,Wenn es wimmelt vom Haiderauche,Sich wie Phantome die Dünste drehnUnd die Ranke häkelt am Strauche,

      Unter jedem Tritte ein Quellchen springt,

      Wenn aus der Spalte es zischt und singt –O, schaurig ist’s, übers Moor zu gehn,Wenn das Röhricht knistert im Hauche!

      Nun gut: Wir gingen ja nicht übers Moor. Wir zelteten auf ihm. Auf einem Hochmoor zudem, das eigentlich nicht sonderlich moorig gewirkt hatte. Am Tag jedenfalls. Da hatte es eigentlich eher wie eine große Wiese gewirkt, mit etwas anderer Vegetation und etwas wackligem Boden, was wir aber ausgelassen hüpfend genossen hatten. Wenn einer kräftig hochsprang und landete, wackelte der Boden im Umkreis von mehreren Metern, das hatten wir lustig gefunden.

      Es regnete und regnete. Was aber, wenn der Boden aufweichte? Der ohnehin wacklige Moorboden? Ach, red‘ dir nichts ein, redete ich mir ein. Unsinn. Zelt im Moor versunken – das stand nicht mal im Velbinger. Das gab’s nicht. Es war ein nicht enden wollender Platzregen, ein Land-Platzregen sozusagen. Gut, Überschwemmungen durch zu viel Regen, so was gab es ja sogar im Münsterland. Die Werse trat regelmäßig über die Ufer und flutete die Weiden der Umgebung. Und so viel Regen wie hier hatte ich zu Hause noch nie erlebt. Jedenfalls klang es danach, das mir zunehmend ohrenbetäubend erscheinende Getrommel auf der Plane. Und wenn sehr viel Wasser auf eine ohnehin ja irgendwie matschige, wacklige, offenkundig also nicht wirklich stabile Oberfläche traf und diese weiter durchweichte ... – könnten wir womöglich einfach untergehen? Wie funktioniert das überhaupt mit diesen Moorleichen? Waren nicht schon ganze Mammutherden, Steinzeitmenschen und Saurier unter ähnlichen Umständen zu Tode gekommen? Die hatten bestimmt auch zuvor gedacht, sie seien sicher. Man weiß ja überhaupt sehr wenig über Moore.

      Fest hält die Fibel das zitternde Kind

      Und rennt, als ob man es jage;

      Hohl über die Fläche sauset der Wind –

      Was raschelt drüben am Hage?

      Das ist der gespenstige Gräberknecht,

      Der dem Meister die besten Torfe verzecht;

      Hu, hu, es bricht wie ein irres Rind!

      Hinducket das Knäblein zage.

      Meine Gedanken jagten sich im Kreis. Und bildete ich mir das nur ein, oder wackelte es tatsächlich ein bisschen? Ja, Ralf hatte sich umgedreht. Und

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