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ließen die Negerküsse kreisen. Graf Lambsdorff hinkte durchs Fernsehstudio, Martina biss herzhaft in einen hinein. Meine kühnsten Träume schienen wahr zu werden. Helmut Schmidt zog traurig an seiner Pfeife, wir sogen glücklich an unseren Mündern.

      Schließlich zog Martina mich unauffällig in den benachbarten Spielkeller. Wir verkrochen uns hinter einigen Kisten mit Playmobil, die schon lange niemand mehr ausgepackt hatte, und hier, ganz ungestört, knutschten wir weiter. Und weiter. Und weiter. Allmählich legte sich die erste Euphorie bei mir. Dafür wurde mir zunehmend klar, dass ich nicht die geringste Vorstellung davon hatte, wie das hier weitergehen sollte. Die Situation machte mir Angst. Plötzlich zog Martina den Reißverschluss meiner Hose auf. Ich war starr vor Schrecken. Sie wühlte ein bisschen in meiner Hose herum, dann legte sie, sorgfältig wie ein Chirurg bei der Operation, meine kleine Erektion frei. Und sah mich überrascht an. Und lachte laut auf. »Da ist ja noch gar nichts!«, kicherte sie, »du hast ja noch nicht mal Haare!« Auf der Stelle verlagerte sich mein gesamtes Blut in den Kopf, für den Unterleib waren da leider keine Kapazitäten mehr frei. Das kleine Stängelchen schrumpelte in sich zusammen, da half auch nichts, dass ich protestierend darauf hinwies, dass da sehr wohl schon Haare seien: »Hier! Guck doch!«, und ich zog das T-Shirt ein bisschen höher, damit sie freie Sicht hatte auf den zarten, zu allem Überfluss auch noch hellblonden Flaum, auf den ich so stolz gewesen war in den letzten Wochen, aber sie schüttelte nur lachend mit dem Kopf und zog das Schlüpfergummi nach oben, sodass gnädig alles verhüllt wurde.

      Dann gingen wir wieder rüber zu den anderen. Um überhaupt irgendwo hinschauen zu können, guckte ich von nun an konzentriert und stier auf den Fernseher und sah direkt in das feiste Gesicht von Helmut Kohl, der sehr glücklich und zufrieden wirkte. Ich konnte den Blick nicht davon lassen, bloß nicht zu den anderen, bloß niemand ins Gesicht gucken, erst recht nicht Martina, und so starrte ich auf Kohl und hing an jeder Bewegung seiner Lippen. Dieses Bild brannte sich für immer unauslöschlich in mein Gedächtnis. Lange Zeit schmeckte ich unweigerlich den penetranten Geschmack von Negerküssen auf meiner Zunge, wenn ich im Fernsehen Helmut Kohl sah. Und der Mann war lange Zeit wirklich oft im Fernsehen.

      Schließlich überfällt mich noch heute ein Gefühl tiefer Scham, wenn ich etwas von Negerküssen höre. Weshalb ich ihre Umbenennung sehr begrüße.

      Der Soundtrack meiner Jugend

      Ahne war genervt. »Was für eine Scheiß-Musik«, schimpfte er.

      Ich lauschte eine Weile: da war in der Alten Kantine der Kulturbrauerei wohl von der letzten Achtzigerjahre-Party noch eine CD liegen geblieben, die ein argloser Techniker jetzt vor dem Kantinenlesen eingelegt hatte. Ein Hit nach dem anderen, und irgendwie überkam mich eine angenehm sentimentale Stimmung. Ich ermahnte den zornigen Kollegen: »Sei doch nicht so herzlos. Scheiß-Musik hin oder her – das wurde früher bei uns immer gespielt! Da wird einem doch ganz warm ums Herz!«

      Ahne schaute mich ungläubig an: »Dabei wird dir warm ums Herz? Das ist doch furchtbar.«

      »Natürlich ist es furchtbar. Aber damals ...«

      »Damals war das auch schon furchtbar«, zeigte Ahne sich unerbittlich.

      »Ja, schon«, gab ich zu, »aber trotzdem ... Das war er eben, der Soundtrack einer Jugend in den Achtzigern in Westdeutschland. Es geht doch um Erinnerungen. Um Gefühle. Bei Musik geht’s doch immer zuerst um Gefühle!«

      »Ich fühle mich aber schlecht, wenn ich solchen Dreck höre«, sagte Ahne. Ach, was wusste der schon. Die hatten im Osten ja schließlich gar keine Musik damals.

      Für mich aber sind so viele schöne Erinnerungen mit diesen Hits verbunden. Scheiß drauf, ob die Songs gut sind! Es ist halt unsere Musik! Ich höre ja praktisch nie Radio und auch nie englischsprachige Musik, aber diese Lieder, die kannte ich alle. Weil sie eben damals liefen. Auf den ersten – huch, jetzt kommt ein Wort, bei dem ich sogar ein bisschen zusammenzucke – auf den ersten Feten. Eine Fete, das hieß: ein dunkler Raum. Und: Mädchen.

      Ich fand das schrecklich. Die Musik sowieso. Aber die musste halt laufen, wenn man modern war. I am hai-ai-ai-ai-ai on Emotion. Ich dagegen hörte, wenn ich überhaupt was hörte, Reinhard Mey. Eigentlich hörte ich aber gar nichts, Musik interessierte mich überhaupt nicht. Das war mir – ich weiß auch nicht – zu modern. Genau wie die Sache mit den Mädchen. Das war mir auch zu modern.

      Also, nicht, dass ich nicht durchaus Sehnsucht nach Annäherungen verspürte, das schon. Aber dass es für die Befriedigung dieses drängenden Bedürfnisses allen Ernstes nötig sein sollte, in einem dunklen Raum herumzuhoppsen und die Arme und Beine seltsam und unkontrolliert zu bewegen, das fand ich inakzeptabel.

      Nun wollte ich mich sozial allerdings auch nicht völlig isolieren, also ging ich halt hin zu den Feten. Und suchte mir zielgerichtet die dunkelste Ecke im abgedunkelten Gemeindesaal, setzte mich dort hin und betrachtete missmutig das Geschehen. Wie die anderen zu dieser furchtbaren Musik tanzten. Und dabei rätselhafterweise irgendwie mit den Mädchen in Kontakt kamen. Und, das wusste ich aus den Erzählungen der anderen, dieser Kontakt wurde dann manchmal, wenn die Eltern nicht zu Hause waren, auf eine Art und Weise fortgesetzt, die mich durchaus interessiert hätte. Aber deswegen wirklich jede Würde aufgeben? Und zu Big in Japan wild mit den Armen in der Mitte des Saals herumschlenkern? Nein! So groß war meine Verzweiflung nun doch wieder nicht. Das würde sich schon auch irgendwie anders ergeben.

      Ich saß also in meiner Ecke und nippte Apfelsaft. Wenn sich versehentlich oder aus Mitleid mal einer der Klassenkameraden kurzzeitig dazu gesellte, versuchte ich, meine soziale Inkompatibilität mit ein paar sarkastischen Bemerkungen zu übertünchen. So galt ich bald schon als intellektuell, was mir einen gewissen Respekt in der Hackordnung sicherte. Später entdeckten wir dann den Alkohol für uns, und die Lage entspannte sich etwas. Jetzt musste ich nicht nur einfach so in der Ecke sitzen, sondern konnte dabei trinken. Damals galt es als cool, Bier zu trinken. Und als sehr cool, sehr viel Bier zu trinken. Eine Technik, die ich rasch erlernte und perfektionierte. Zwar konterkarierte ich den Eindruck der Coolness empfindlich mit meiner Kleidung, die nach wie vor ausschließlich meine Mutter für mich aussuchte, und zwar nach den Geschmackskriterien, die bürgerliche Mittfünfziger-Hausfrauen einer gut situierten westdeutschen Vorortsiedlung an die Begriffe »schick« und »jugendlich« anlegten, was ziemlich genau das Gegenteil von dem war, was unter den Jugendlichen derselben Vorortsiedlung als schick und jugendlich galt. In meinem Fall bedeutete das: Cordhose und bunt gestreifter Nicki. Was meine selbstverständlich Jeans tragenden Mitschüler erstaunlicherweise wiederum als Ausdruck meines Intellektuellentums missinterpretierten, erst recht in Kombination mit meiner Verweigerung, beim Tanzvergnügen mitzumachen, was ich wiederum mit immer zynischeren Kommentaren auszugleichen versuchte. Wenn ich heute manchmal gefragt werde, wie man eigentlich dazu kommt, Satiriker zu werden: so geht’s. In der Ecke sitzen, zugucken, trinken – dann läuft es eigentlich ganz von allein.

      Andererseits: Sie machten es einem ja auch wirklich nicht schwer. Wenn eine Horde Fünfzehnjähriger mit von tiefem Empfinden gezeichneter Miene und nach oben gereckter Faust über die Tanzfläche hoppelt und dazu grölt: Verdamp lang her, verdamp lang, verdamp lang her. Oder wenn eine Gruppe von Arztsöhnchen und Anwaltstöchtern mit adretten Scheiteln und steifkragigen weißen Hemden unter den V-Ausschnitt-Strick-Pullovern wie in Extase brüllt: Born to be wild. Oder wenn sich am Ende einer Fete alle umfassen, um gleichgeschaltet und mit Tränen der Ergriffenheit in den Augen zu singen: Freiheit, Freiheit, ist das Einzige, was zählt. Bevor dann um neun Uhr abends das Licht angeht und Mutti vor der Tür im Wagen wartet, um den Nachwuchs nach Hause und ins Bett zu bringen. Was könnte man dazu groß sagen, ohne zum Zyniker zu werden?

      Wirklich nachvollziehbar wirkte die Begeisterung nur, wenn Herbert Grönemeyer erklang: Kinder an die Macht! Ich war damals schon dankbar, dass kein auch nur halbwegs bei Sinnen stehender Erwachsener diesen Quatsch in die Tat umzusetzen gedachte. Auch bei Männer aus gleichem Hause wirkte das Mitsingen glaubwürdig: Wann ist ein Mann ein Mann? – das dürfte unterm Strich die vielleicht entscheidende Frage für die meisten Jungs gewesen sein, wenn sie morgens vor dem Spiegel ihre Haut, auf der sie so etwas wie die flaumige Ahnung von Bartkeimung ausfindig gemacht zu haben glaubten, wie besessen abschabten, weil irgendwer ihnen erzählt hatte, dass so die Entstehung von nachweisbaren Stoppeln beschleunigt werden

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