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      Ich hatte ins Schwarze getroffen. Lelešius wurde knallrot, genau wie Marija Bul Bul Lelešiūtė.

      »Und seien Sie bitte nicht beleidigt, Lelešius, aber gab es in Ihrer Sippe vielleicht auch mal Juden, Karäer oder gar Tataren?«, erkundigte ich mich diskret. »Erzählen Sie es mir.«

      Lelešius lächelte mit mädchenhafter Liebenswürdigkeit, erhob sich und winkte mir, ihm zu folgen. Nicht weit, nur bis zu einem Tisch mit einer Bank davor, die beide schon ganz schwarz und rissig waren. Hier knöpfte er seine billige Reisetasche auf und zog ein Stück Schinken, Tomaten, Schwarzbrot und eine Flasche Schnaps hervor. Er schnitt das Brot und die Tomaten in Scheiben, holte dann ein Trinkglas heraus, seinen Worten nach war es aus Neusilber, goss sich ein und trank mit Wohlbehagen. Dann schenkte er auch mir bis zum Rand ein, kaute ab und zu an dem Schweinefleisch herum und beantwortete ausführlich meine Fragen. »Aber nein«, sagte der siebenundfünfzigjährige Kavalier, der Vater der verrückten Marija, »so weit ich weiß, gab es keine, nicht einmal Zigeuner. Aber wer weiß, vielleicht hat mir irgendein Vorfahr einen Bären aufgebunden? Und wahrscheinlich stammen die Litauer sowieso von den Indern ab.« Er trank noch ein Glas, hielt kurz inne und überraschte mich dann mit seinem Wissen. »Sie haben doch sicher schon von Baltistan[4] gehört? Natürlich haben Sie davon gehört«, bekräftigte er. »Sie wirken gebildet.«

      Gebildet! Irgendwann hatte mich eine unglaublich vollbusige Schneiderin »gebildet« genannt, in Drebulynas, nicht weit von einer Nähfabrik. »Wie gebildet du bist, wie gebildet du bist«, hatte sie gekeucht und mich rhythmisch gegen die schlüpfrigen Blätter gedrückt, »oh, wie gebildet!« Jetzt wurde ich zum zweiten Mal in meinem ganzen Leben so genannt. Erst zwei Menschen hatten mir so geschmeichelt, jene vollbusige Schneiderin und jetzt Lelešius aus Suvalkija.

      »Ich habe mich nie für meinen Namen geschämt«, sagte dieser im Brustton der Überzeugung. »Wissen Sie, was Lelešius bedeutet? Vielleicht wissen Sie es nicht, obwohl Sie gebildet sind. Es ist kein besonders erfreulicher Name, aber ich erzähle es Ihnen. Doch zuerst prost!«

      »Prost, Herr Lelešius! Was bedeutet Ihr Name denn?«

      »Ich erzähle es Ihnen ja schon. Lelieša bezeichnet im Dialekt von Suvalkija ein Übel in den Eingeweiden, vielleicht sogar ein Geschwür.«

      »Krebs«, sagte jemand leise hinter uns. »Hallo.«

      Bei Gott, Nabė, es ist nicht meine Schuld, dass ich an diesem Tag keinen Salon für deine Clique gefunden habe! Irgendwie hatten heute alle nichts Besseres zu tun, als mich aufzuhalten, auch Lelešius, der auf dem Ameisenpfad über mich gestolpert war. Dieser Mensch war schon auf dem Weg ins Grab, träumte aber noch davon, im Afrikanerschritt nach Vinčai oder nach Jūrė zu kommen. Und da kam auch schon Bul Bul zurück! »Krebs«, wiederholte sie und setzte sich auf die Bank. »Die Schurken haben mir keine verkauft!« Lelešius kapierte gar nichts, aber ich: Bul Bul war unbewaffnet.

      Wir saßen gemütlich zu dritt am Fuß des Berges, Bul Bul, ihr Väterchen und ich, obwohl ich barfuß war und eine aufgeschlagene Stirn hatte. »Fahren wir gleich los«, forderte Lelešius uns auf. »Es ist gerade Apfelsaison, und es gibt Pflaumen, groß wie Puteneneier. Ich schlachte einen Hahn und zeige euch die Lämmer.«

      »Fahren wir«, stimmte Marija Lelešiūtė zu. »Ich mixe uns Cocktails, dann spielen wir Messerwerfen, und wenn Sie so wild darauf sind, können Sie mir meinetwegen noch ein Kind machen, Lelešius kann es dann mit Schafsmilch stillen. Die Onega hat das in Kazachstan so gemacht, damit hat sie sich sogar in einer Vorlesung gebrüstet. Wo ist das doch gleich wieder gewesen?«

      »In irgendeinem Kaff auf atau«, brummte ich mürrisch. »Aber ich dachte, das sei ein Skorpion gewesen, von denen wimmelt es dort nur so.«

      »Brechen wir endlich auf?«, fragte Lelešius wieder.

      »Ich bin doch barfuß«, erinnerte ich ihn. »Aber wenn Sie mich schon so herzlich einladen … Also los, fahren wir!«

      Wir schlugen uns quer durch die Stadt bis zur Schnellstraße nach Kaunas durch und bekamen sofort eine Mitfahrgelegenheit nach Garliava. Es war Marija, die einen Wagen zum Halten brachte: Sie streckte ihre Brust raus, grinste von einem braunroten Ohr bis zum anderen, und als dann ein Fahrer stehen blieb, sprangen Lelešius und ich aus dem Gebüsch hervor.

      »In Garliava«, verkündete ich, als wir an einer Kreuzung ausgestiegen waren, »wohnt eine alte Freundin von mir. Das heißt, nicht sie ist alt, sondern die Freundschaft. Sagen Sie ihr nicht, dass sie alt ist, wenn wir bei ihr einen Überfall machen.«

      »Aber wieso?«, wunderte sich Lelešius. »Wir wollen doch nach Vinčai, vielleicht auch nach Jūrė. Und nach Mauručiai ist es auch nicht mehr allzu weit.«

      »Was heißt hier ›wieso‹? Ich brauche doch irgendwelche Sandalen oder Gummischuhe, schließlich bin ich barfuß. Ich laufe mir sonst noch die Füße wund.«

      »Ach was!«, rief Lelešius. »Nehmen Sie meine!«

      Ich betrachtete seine ausgelatschten, durchlöcherten Halbschuhe und schüttelte den Kopf, nein, die wollte ich nicht nehmen. Marija rannte zu einem Betrunkenen hinüber, der auf einer kleinen Wiese lag und schlief, zog ihm die mistverklebten Gummistiefel aus und brachte sie mir.

      »Nein danke!« Ich schüttelte wieder den Kopf. »Die mag ich auch nicht anziehen. Der Penner hat bestimmt Fußpilz. Mir reicht’s, ich reise barfuß. Und in euerem Rūda gibt es doch bestimmt einen Schuhladen? Ich habe noch sechsundzwanzig Dollar.« Und so zogen wir weiter in Richtung Veiveriai, ich barfuß, und Vater und Tochter mit Schuhen.

      Kurze Zeit später blieb ein unverschämter Schnösel stehen, um zu gaffen. Er war so groß, dass er durch die Dachöffnung seines Wagens ragte, öffnete die Türen seines Opelchens, platzierte Vater und Tochter Lelešius und quetschte mit offener Verachtung heraus: »Leute ohne Schuhe nehme ich nicht mit!« Und er zischte ab wie ein geölter Blitz.

      Siehst du, Nabė, wohin mich die Suche nach einem Salon in Užupis geführt hat? Da stand ich nun mutterseelenallein auf der leeren Landstraße nach Marijampolė. Bald würde es dunkel, die Leute kratzten sich schon im Schritt und machten sich fertig zum Schlafen, und ich stand barfuß da, mit einer verbundenen Stirn, und niemand verstand die mit Jod darauf geschriebenen Hieroglyphen. Ich versuchte, traurig zu werden, aber es wollte mir nicht gelingen. Manchmal, wenn auch selten genug, pfiffen Opels und Mercedesse vorbei, oder es kamen Traktoren der Marke »Ursus«, aber niemand dachte daran, stehen zu bleiben. Man sah wohl schon von weitem, dass ich barfuß war, und alle schienen im Vorbeisausen zu wiederholen: »Leute ohne Schuhe nehmen wir nicht mit!« Was war jetzt mit den Pflaumen in Suvalkija, Herr Lelešius? Wie sah es aus, Irokesenkojotin Bul Bul? Das Herz wollte mir im Leib zerspringen.

      Ha, da blieb so eine Klapperkiste stehen, ein uraltes Motorrad der Marke »Ižas«, ein vorsintflutliches Gefährt mit einem Beiwagen; nur sehr arme Leute fuhren noch mit solchen Dingern. »Wohin musst du denn, du armer Kerl?«, fragte der alte Fahrer mit Lederhelm und riesiger Brille. Der Helm war abgewetzt, die Brillengläser hatten einen Sprung, alles roch nach Leder und Stall und machte nicht gerade den besten Eindruck, aber er war, wenn auch aus Suvalkija, hundertprozentig ein guter Mensch, nicht wie dieser Kolchosevorsteher Abrutis aus der Gegend von Vilkaviškis. Im kalten Herbst des Jahres 1966 wurden wir Germanistikstudenten aus dem ersten Semester mit dem Lastwagen herangekarrt, um in Abrutis’ Arbeitseinheit Frondienste zu verrichteten, und schon von der Glasveranda herab begrüßte er uns mit den Worten: »Wie ihr arbeitet, so werdet ihr essen, denkt dran! Hier ist Suvalkija, und da bindet man die Schweine gut fest und gibt selbst das Wasser nur gegen Geld her!«

      Abrutis konnte auch gut und herzlich, ja sogar romantisch sein, aber meistens zeigte er sich von seiner jähzornigen und barschen Seite; damals wusste ich noch nicht, dass »Abruti« auf französisch »Dummkopf« bedeutet. Die Schweine band man ordentlich fest, das stimmte, aber Wasser durften wir umsonst schöpfen. Die Mädchen schloss dieser Abrutis nachts in den Club der Kolchose ein, und mich und den Lehrer Leonardas, der erst seit drei Jahren seinen akademischen Frondienst leistete, legte er in den Flur. »Und versucht nicht, durchs Fenster zu steigen, sonst schieße ich«, drohte er zornig. »Die Mädchen haben auszuschlafen, hier wird gearbeitet!«

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