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Diesmal ähnelt er dem lockigen Künstler aus Bulgakovs Stück über Molière …

      Dann kommen auch schon Haltestellen, Staub, Strumpfwirkereien und Friedhöfe, Dämmerungsimpressionen wie auf alten Fotografien von Jėzus M. Auf der Straße rollt sein »Wagen der Intelligenten« entlang, mit bis zum Straßenpflaster herunterhängenden Stangen und einem flink rennenden Schwein; alle wirken so, als bewegten sie sich und als seien sie in Eile … Blendend weiße Möwenscheiße auf den buckligen Steinen in der Vilnia, hat nicht irgendjemand gesagt, dass Tenöre sie äßen … Ständige Attribute von heimlichem Herzeleid und vermeintlicher Nostalgie, süße Hoffnungslosigkeit und heiße Blasen auf schwieliger Haut, von jungen Nesseln und von fettem Ungeziefer …

      Wo blieb bloß dieser Bus?

      Ob Ogoniokas wohl jemals in Užupis gewesen ist? Golosačius hatte ich dort schon einmal mit eigenen Augen gesehen, Maler sind eben mobiler als verhungernde Obdachlose oder Vagabunden, und er war sogar schon einmal im nördlichen Vorort Jeruzalė.

      Der Bus war tatsächlich ein Geschenk der Stadt Oslo, noch glänzend, würdig und mit ledernen Schlingen zum Festklammern für angetrunkene Fahrgäste; solche Schlingen waren fast die einzige Erinnerung, die mein Vater noch an die Straßenbahn aus seiner Zeit in Petrograd hatte, dann war er nach Litauen zurückgekehrt. Ich setzte mich auf einen Platz an der Tür und bemerkte sofort, dass ich einen meiner Baumwollsocken verkehrt herum trug. Ich ließ mich dadurch nicht aus der Ruhe bringen, aber weil ich die Zeit sinnvoll nutzen wollte, zog ich einen meiner noch ganz weißen italienischen Turnschuhe aus, legte ihn auf den freien Sitz neben mir und machte mich daran, den Socken richtig herum zu wenden.

      Man sagt, dass verdrehte Kleider, also auch Socken, kein gutes Zeichen sind, es bedeutet nämlich, dass man sich betrinken wird! Ich verspürte zu diesem Zeitpunkt keinerlei Sehnsucht, mich voll laufen zu lassen, und neben mir waren weder Onega Mažgirdas mit ihrer Halbliterflasche Schnaps zu sehen noch šarūnas Dickas, der inoffizielle Bürgermeister von Užupis, der immer einen Flachmann mit reinem Bourbon bei sich hatte. Während ich also den Strumpf umstülpte, dachte ich voller Herzeleid an dich, Nabė: Wie viele meiner kaum abgetragenen Strümpfe hatte ich dir geschenkt, und du zogst sie kaum an! »Eine Bakkalaureatin der Künste mit blau gefrorenen Waden«, so nannte dich ein feister junger Poet mit einem knotigen Stock. Ein Poet ist ein Kritiker, »reine« Poeten gibt es doch nicht, oder? Du bist die einzige »reine« Poetin, Nabė, das sage ich ganz im Ernst: Die anderen widmen sich auch anderen Genres, nur du nicht, und darum musst du leiden.

      Gerade als ich mir diesen Strumpf auf meinen schönen Spann gestreift hatte, hielt der Bus auch schon an, geräuscharm, wie es nur die norwegischen Fahrzeuge können, die breiten Türen gingen auf, und die graue, zerlumpte, dumme Person, die neben mir stand, behängt mit vielleicht sechs Tüten voller Plunder, erwischte überraschend meinen Schuh. Er schoss hinaus wie eine Kugel, und ich sprang hinterher, aber genau in diesem Augenblick fuhr der Bus auch schon wieder an, so dass ich mit der Stirn auf dem Gehsteig aus Piłsudskis Zeiten aufschlug.

      »Du bist ja voller Blut«, hätte Golosačius bestimmt entzückt ausgerufen, und durch den rötlichen Dunst erblickte ich noch eine hysterisch kichernde Alte hinter dem Denkmal, das der Heldentat von Mieczysław Dordzik gewidmet war. Eine Polin, geschickt und flink wie eine junge Katze, vielleicht die letzte echte Polin in ganz Vilnius. Eine Polin, was sonst. »Psiakrew!«[2] rief sie mir von ferne zu und streckte mir ihre gespaltene Zunge entgegen, obwohl das Blut, das von meiner Stirn herabtropfte, von mir stammte, einem nur mäßig verrückten Menschen, und nicht von einem tollwütigen Hund.

      Und so stand ich nun barfuß auf der kleinen Wiese neben der Kirche der jungfräulichen Mutter Gottes; den zweiten Turnschuh schleuderte ich in Richtung Dordzik und »Tėvo kapas«, die Strümpfe schmiss ich in den Müll, verschenken kam nicht mehr in Frage. Das sind Überreste der allgemeinen Konventionen: Im Sommer barfuß in der Stadt herumzulaufen, ist eigentlich etwas ganz Normales, aber seine Strümpfe auf dem Gehsteig durchzuwetzen, gilt als verrückt. Und so begab ich mich in den Sereikiškių parkas, um ein Bier zu trinken.

      Am Flussufer liefen ehrwürdige Künstler mit Filzhüten umher, riefen nach ihren Hunden und wechselten ab und zu ein Wort miteinander, obwohl alles schon längst gesagt war; auf meine freundlichen Grußworte reagierten sie mit Gleichgültigkeit. Auf der zweiten kleinen Brücke stand Marija Lelešiūtė, genannt Bul Bul, in weiten geblümten Hosen und machte mit einem Strohhalm schöne Seifenblasen. Als sie mich bemerkte, lief sie knallrot an und versuchte, mich zu ignorieren, aber ich sprach sie als Erster an, streichelte ihren warmen Körper und schlug vor, zusammen ein Bier trinken zu gehen.

      »Warum sind Sie barfuß? Warum bluten Sie?«, fragte Bul Bul und sagte dann: »Ich will überhaupt kein Bier, ich will es.« Bul Bul wollte es, aber sie hielt sich an die Konventionen: Es war ihr peinlich, mit einem barfuß einherlaufenden, blutbefleckten Mann im Sereikiškių parkas gesehen zu werden, wo es nur so von Dozenten, Magistern, Bakkalaureaten und Künstlern samt Hunden und Kindern wimmelte. Nicht nur meine Stirn war blutig, sondern auch mein Hemd und meine beigen Hosen. Vermutlich war es schlauer, mit Bul Bul in die erwähnte »Blanchisserie« abzuziehen und ein »Obed« oder ein »Užin« zu essen. Wir würden uns aussprechen, Sauerkraut schmatzen, jeder ein Glas Schnaps herunterkippen und die Nacht zusammen verbringen. Aber Bul Bul schüttelte den Kopf: Morgen hatte sie eine Prüfung bei Onega Mažgirdas. Wahrscheinlich sah ich nicht besonders aus, und vermutlich hielten mich alle für einen Säufer, wofür sonst? Das wäre übrigens auch mein Eindruck von mir gewesen, barfuß und blutig, wie ich war. Und vielleicht war ich noch nicht ganz besoffen, aber bis es so weit war, würde auch nicht mehr viel Zeit vergehen!

      Fräulein Bul Bul machte ihre letzte Seifenblase, flüsterte ihr »ich will es, und zwar sofort«, ganz wie in einem Werbeclip, behandelte aber als Erstes meine Wunde mit reichlich Jodlösung und legte mir einen grünen Verband um die Stirn. Wie so viele Frauen schleppte sie wirklich alles Mögliche mit sich herum: Seife, Verbandszeug, Jod und Strohhalme … Die Jodflecken, die durch den Verband durchgesickert waren, bezeichnete sie als chinesische Hieroglyphen. Diese Schriftzeichen hätten dir auch gefallen, Nabė, das weiß ich, aber Onega hätte zum Beispiel nur geschnaubt: »Das geschieht dir recht, das geschieht dir recht«, und Dolores Lust hätte gesagt: »Säufer, Säufer«; sie sind eben Damen. Du weißt doch, Nabė, die eine ist Dozentin und Ex-Poetin, die andere ist sogar eine Schottin. Beide wurden zu spät gebärenden Müttern ehelicher Kinder, und jetzt schmierten sie weder Abhandlungen zusammen noch bliesen sie Dudelsack.

      »Irgendwann wird jemand auch in Bul Bul seinen Strohhalm stecken und ihren Bauch rund wie eine Seifenblase werden lassen, stimmt’s, Fräulein Bul Bul?«

      »Nein«, antwortete sie, »ich kann Kinder nicht ausstehen, und wir werden nie zusammen welche haben. Kinder machen Pipi, Kacka, stinken, und später nehmen sie Drogen. Und ich werde als Diplomphilologin nie genug verdienen, um mir Kinder leisten zu können. Du gefällst mir blutig. Sie«, verbesserte sie sich. »Sie wirken so kriegerisch, wie ein Schwerverletzter. Ich liebe Verletzte, und ich will es ganz dringend …«

      Wir legten uns ins dichte Gras, ganz nah ans Wasser. Ich streichelte träge Bul Buls dunkle Schenkel unter den geblümten Hosen und ihr kaum helleres Gesäß, und als ich zufällig den Blick zum Ufer erhob, sah ich dort niemand anders als die bereits erwähnte Dozentin Onega Mažgirdas, eine der vier berühmtesten Feministinnen des unabhängigen Litauens.[3] Onega stand mit offenem Mund da, drehte den Kinderwagen mit dem kleinen Ipolitas zur Seite und verdeckte mit der Hand die Augen der fünfjährigen Diana, die gerade einer jungen Ratte nachstellte. Bul Bul bemerkte nichts von alledem, sondern stöhnte, räkelte sich und gab dann ganz unerwartet einen spitzen Schrei von sich. Das war zu viel gewesen! Onega kreischte, hob einen Stein vom Weg auf, groß wie Ipolitas’ Faust, nahm mit einer männlichen Geste Schwung und schleuderte den Kiesel auf mich, traf stattdessen aber ihre beste Studentin. Es war keineswegs so, dass Onega nun auf einmal den Verstand verloren hatte, sondern sie war ehrlich davon überzeugt, dass sie ihre Studenten wie ihre eigenen Kinder züchtigen durfte, notfalls sogar mit einem Stein!

      Bul Buls Backe wurde dick, und ihr Auge schwoll an, aber sie hielt nicht auch noch ihre linke Wange hin. Flink wie ein Wiesel sprang sie die niedrige Uferböschung hinauf, um sich für die ihr zugefügte

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