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Höschen bekleidet sprang Bul Bul auf ihre Dozentin zu und versetzte ihr mit der einen Faust einen gezielten, festen Schlag gegen den Kopf, mit der anderen Faust verpasste sie ihr einen Schlag in die Magengrube.

      Onega knickte zusammen, und die Situation war hochgradig unerfreulich. Ipolitas gab einen scharfen, unnatürlichen Schrei von sich, wie ein Pfau – oder vielleicht war es doch seine echte Stimme? –, und Diana, die inzwischen ihre Ratte erjagt hatte, kreischte ebenfalls. Ich verhüllte mein Haupt mit den Rosen von Bul Buls Hose und hätte am liebsten geheult, vor Schande und vor Wut. Um die Dozentin kümmerten sich schon einige ihrer Kolleginnen, und der Dekan, der von irgendwoher aufgetaucht war, hielt eine strenge Strafpredigt. Warum, zum Teufel, hatte ich bloß diesen Bus der Linie 11 genommen, ich war doch auf der Suche nach einem Salon! Alles für dich, Nabė, alles nur für dich!

      »Caramba!«, fluchte Bul Bul bei ihrer Rückkehr. Sie keuchte schwer, mit weiten Nüstern und feuchten Lippen. »Wissen Sie, es ist mir überhaupt nicht peinlich! Ich habe meine Prüfung schon erfolgreich bestanden. Und ich will es, hast du das kapiert?« Plötzlich duzte sie mich.

      Onega war selbst schuld. Da lag sie nun mit einer blutigen Nase unter einem kanadischen Ahorn im Sereikiškių parkas, umringt von Kollegen und Gaffern, aber ich hatte diese Kojotin nicht auf sie gehetzt. Mochte sie ruhig wütend oder zornig sein, ich watete schon mit Bul Bul durch die Vilnia und verschwand mit ihr in der Drakonas-Schlucht, dem Ort, wo in den tragischen Zeiten der Anti-Alkohol-Kampagne all die Künstler heimlich umhergetorkelt waren, die jetzt in hellen Scharen nach Užupis strömten: Barden, Jazzmusiker, Toulouse-Lautrecs und die künftigen Lehrer von Nabė.

      Wie gut, dass Onega nicht mit ansehen musste, wie Marija Bul Bul durch die Wellen watete, während am Himmel die »Drei Kreuze« weiß schimmerten! Sie watete, nur bekleidet mit hochgekrempelten Trousers, es war meine Schuld, dass sie dieses Trikotageprodukt so nannte. Hoffentlich war die tugendhafte Onega nicht auch noch wütend auf mich! Bestimmt würde sie ein entsetztes Gesicht machen, würde sie sehen, wie auch ich in meiner beigen Hose durch das Wasser watete und wie sich unsere Hände und Füße ineinander verschränkten. Oder bei der Vorstellung, wie ihre Kojotin gleich noch heulen würde, immerhin hatte sie soeben noch eine Prüfung bestanden!

      Bul Bul beruhigte sich endlich, räkelte sich auf dem Kies, wetzte ihre scharfen Krallen an einem Stein und sagte: »Wenn es nicht regnet, bin ich in ein paar Stunden wieder da. Ich ziehe jetzt los und kaufe eine Pistole. Besorgen Sie in der Zwischenzeit Bier.« Und sie lief mit wiegendem Körper und geblümtem Po zu den Tennisplätzen hinüber, wo die Bälle knallten: Dickas, der Bürgermeister von Užupis, spielte eine schicksalhafte Partie gegen Tecka, den Bürgermeister von Žvėrynas, zwei Bürgermeister, zwei Welten. Es war unwichtig, wer gewinnen würde, das Gelage, die Schlägerei und die anschließende Versöhnung würden alle wie nach einem ungeschriebenen Protokoll ablaufen. »Alles wie nach alter Väter Sitte«, sagte ich mir.

      Die Sonne stand bereits im Westen, und ich hatte es nicht bis Užupis geschafft. Nabė saß irgendwo zwischen Phlox, Geranien und Feigenbäumen und schrieb ihre »Lyrik mit Ornamenten« über diverse Nichtigkeiten und meinen nepalesischen Pullover, und ich hatte keinen Salon aufgetrieben. Vielleicht sollte ich mit den Bürgermeistern sprechen? Insgesamt betrachtet war alles so, wie es sein sollte.

      Wenn Gottfried Benn behauptet, dass drei Liter des menschlichen Blutes in den Verdauungsapparat flössen und der vierte ins Geschlecht, dann hat er höchstwahrscheinlich Recht. Bul Bul hatte wieder einmal ihre kojotisch-irokesische Abstammung bewiesen, und Onega hatte der Mut gefehlt, die Rattenjägerin Diana als Frucht unserer Liebesnächte in Kasachstan anzuerkennen. Die Natur ist eine kapriziöse Frau: Onega, eine radikale Feministin, wäre wahrscheinlich sogar schwanger geworden, wenn sie am Frauenstrand geschmort hätte oder sich auf dem Flachdach ihres Plattenbaus ein schönes Libellenmännchen oder eine Drohne niedergelassen hätten, das hätte diese Hornisse von einer Magisterin nie und nimmer zugelassen, oh nein!

      Was für ein Tag: der verlorene Turnschuh, die geheimnisvoll kichernde Polin, die himmelblauen Höschen von Bul Bul, die jetzt an den Zweigen eines Holzapfelbaums in der Drakonas-Schlucht flatterten, der Weiberringkampf im Angesicht der akademischen Scharen, der weißliche Tropfen Sperma zwischen Irokesenschenkeln … Apropos Bul Bul, würde ihr wirklich jemand eine Pistole verkaufen? Was für eine schreckliche Dramaturgie, was für ein Mysterium unter dem Augustvollmond und wie viele unterdrückte Zitate!

      Ich kroch aus der Drakonas-Schlucht hervor und legte mich auf den dunkelgelben Sand; zuerst krochen die Ameisen über mich, und als ich einschlief auch die Menschen. Hier verlief ihr Lebenspfad, für den einen nach Hause, für den anderen ins Grab. Schließlich stolperte ein dicker Mann über mich, plumpste mitten in den Ameisenhaufen und weckte mich natürlich auf. Ich rollte mich ein bisschen zur Seite, setzte mich auf und fragte nicht unfreundlich: »Was sollte das denn?«

      »Tschuldigung«, entgegnete der Dicke mit echtem Bedauern und blieb auf dem Lebenspfad sitzen. »Tut mir wirklich Leid. Mein Name ist Lelešius.«

      »Wie interessant!«, rief ich aus. »Der Name ist selten. Woher stammen Sie?«

      »Aus Kazlų Rūda«, sagte Lelešius. Aus irgendeinem Grund klang er erfreut. »Vielleicht waren Sie schon einmal dort?« Er versuchte um jeden Preis, das Gespräch in angenehmere Bahnen zu lenken.

      »Nein«, erwiderte ich, »noch nie. Ich bin noch nicht einmal vorbeigefahren. Ich hatte dort noch nie etwas verloren.«

      »Kommen Sie mal zu Besuch«, bat mich Lelešius und sah mir wehmütig in die Augen. »Ich habe dort ein kleines Haus mit Garten und ein paar Bienen. Wir könnten Ausflüge nach Jūrė oder nach Vinčai machen.«

      »Was?« Ich war ehrlich erstaunt. »Wieso nach Vinčai? Wieso nach Jurė?«

      »Warum nicht?«, sagte Lelešius mit einem schelmischen Lächeln. »Sie würden es nicht bereuen. Besonders Jūrė lohnt sich … Wissen Sie was? Ich habe hier in Vilnius eine Tochter. Marija. Sie ist Studentin, ich suche eine Wohnung für sie. Vielleicht können Sie mir eine empfehlen? Sie darf aber nicht zu teuer sein.«

      »Leider nein«, antwortete ich und spitzte die Ohren. »Eine Wohnung! Jetzt suchen doch alle, wir haben bald September.«

      »Ihr Spitzname ist Bul Bul«, geriet Lelešius unaufgefordert ins Erzählen. »Sie soll sich hier irgendwo herumtreiben, habe ich gehört …«

      Jetzt fiel mir plötzlich ein, dass sich die erschöpfte Bul Bul einmal damit gebrüstet hatte, dass sie aus Rūda stamme, oder vielleicht auch aus Kazlai. Und sie hatte auch gesummt: »Fahren wir irgendwann dahin, hm? Es gibt dort weder Kassler noch Ruder, also, los geht’s.«

      »Ich kenne Ihr Töchterlein«, gestand ich. »Gerade eben war ich noch mit ihr in der Drakonas-Schlucht und …«

      »Sie brauchen nichts mehr zu sagen, schweigen Sie!« Der Dicke fuchtelte mit seinen kurzen Ärmchen. »Ich weiß alles! Sie ist so, seit sie dreizehn ist. Sie hat schon ihre Mutti und ihre Stiefmutti ins Grab gebracht, was für eine Schande!«

      »Und das wird sie auch mit Ihnen tun«, prophezeite ich ohne jede Bissigkeit oder Rachegelüste.

      »Ich weiß«, nickte Lelešius traurig. »Aber was soll ich machen, was schlagen Sie vor? Als sie noch kleiner war, haben wir ihr die Muschi rasiert und mit Desinfektionsmittel eingeschmiert, aber es hat alles nichts genützt. Das ist das Blut, was soll ich machen?«

      »Ich rede mit Onega Mažgirdas, ihrer Betreuerin«, versprach ich aus irgendeinem Grund. »Na ja, das heißt, vorhin hatten die beiden noch eine Auseinandersetzung, aber sie werden sich schon wieder vertragen. Und ins Grab bringt sie Sie nicht so schnell, eher langsam. Im Afrikanerschritt.«

      »Wie bitte? In was für einem Schritt?«, fragte der Mensch aus Rūda besorgt.

      »Langsam. So wie die Afrikaner Säcke tragen.«

      »Woher wissen Sie das?«

      »Ach«, winkte ich ab, »ist doch nicht so wichtig. Ich suche übrigens auch eine Wohnung für jemand. Nein, keine Wohnung, einen Salon. Hören Sie mal her, Lelešius, wie alt sind Sie?«

      »Schon siebenundfünfzig.«

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