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ihr die Hand, nachdem er seiner Mutter einen Kuß auf die Wange gehaucht hatte.

      »Guten Abend, Marius. Was verschafft mir die Ehre deines überraschenden Besuches?«

      »Ich habe Premierenkarten, die ich dir bringen wollte.«

      »Das ist lieb von dir. Möchtest du auch ein Glas Wein?«

      »Ich will nicht stören. Es ging wohl um ernstere Dinge? Sie sehen erschöpft aus.«

      »Julia und ich haben über das Leben und seine absonderlichen Einfälle gesprochen. Ich glaube, wir haben schon alles geklärt.«

      »Das Leben?« fragte Marius Dorn lächelnd.

      »Ja, im einzelnen und allgemeinen. Ist es Ihnen recht, Julia?«

      »Ja, natürlich. Ich möchte Ihnen danken, ich glaube, ich sollte jetzt gehen.«

      »Aber nein, ich will Sie doch nicht vertreiben. Sie haben Ihren Wein ja noch gar nicht getrunken.«

      Julia konnte jetzt nicht gehen, ohne ihm das Gefühl zu geben, sie vertrieben zu haben. Also nippte sie an ihrem Wein und lehnte sich zurück.

      Für einen Moment übernahmen Mutter und Sohn das Gespräch. Sie hörte nur zu und fand die Atmosphäre sehr harmonisch und entspannend. Ob sie später auch so mit ihren Kindern reden konnte? Man merkte, daß Marius die größte Hochachtung und Liebe für seine Mutter empfand. Umgekehrt war es genauso.

      Wieder stellte sie fest, daß er ein sehr netter Mann war. Wenn es Torsten nicht gäbe… Aber es gab ihn. Und nach dem, was Frau Dorn zu ihr gesagt hatte, würde es ihn auch weiter geben dürfen. Da war nur ein Problem. Nele akzeptierte ihn nicht…

      Sie sank wieder in sich zusammen. Wenn Nele nein sagte, gab es keinen Weg.

      *

      Sie schaffte es nicht, Torsten wirklich anzurufen, aber langsam löste sich die einengende Furcht, allein Neles Schicksal in der Hand zu haben. Das Gespräch mit Frau Dorn trug Früchte. Marius hatte ebenfalls sehr erschrocken auf Neles Unfall reagiert, als sie es ihm erzählte, ohne Einzelheiten zu nennen. Auch er hatte seine Hilfe angeboten. Julia war gerührt über die Menschen, die sie nun fast zu ihren Freunden zählen konnte.

      Als sie an diesem Nachmittag ins Krankenhaus kam, hatte der Arzt eine überraschende Nachricht für sie.

      »Neles Bewußtlosigkeit ist nicht mehr so tief. Sie hat heute schon einmal leicht reagiert, als die Schwester sie mittags gedreht hat.«

      »Wirklich? Sie wacht auf?«

      Julia war so aufgeregt, daß sie am liebsten sofort zu Nele gelaufen wäre. Aber der Arzt hielt sie am Arm fest.

      »Moment. Seien Sie nicht enttäuscht, wenn es jetzt wieder tagelang keinen Erfolg gibt. Alles ist möglich, nicht vergessen.«

      »Nein, schon gut. Ich muß Geduld haben.«

      »Richtig. Na, dann gehen Sie schon.«

      Er lächelte. Julia konnte das Lächeln erwidern. Sie hatte das Gefühl, daß ihr ein Wunder bevorstand und wollte es sich auch nicht ausreden lassen.

      Nele lag da wie immer. Die Augen geschlossen, die leichten Atemzüge hoben und senkten ihren Brustkorb. Es war warm im Zimmer.

      »Nele, ich bin es, Mama.«

      Julia beobachtete ihre Tochter voller Spannung. Sie merkte nicht, daß ihre Stimme viel optimistischer, kraftvoller klang.

      »Nele, wach auf. Draußen ist es jetzt so schön! Wir können Eis essen gehen. Patrick wartet so sehr darauf, daß du wieder nach Hause kommst. Er mag gar nicht allein losziehen. Immer sagt er, daß ihm das Eis nicht schmeckt, wenn er nicht mit dir streiten kann, wer schneller fertig ist.«

      Sie sog sich diese Geschichte aus den Fingern. Sie klang so… lebendig. Geschwisterstreit, das Normalste der Welt. Normal, wenn nicht ein Kind im Koma lag. Dann sehnte man sich sogar nach solchen Banalitäten, über die man sich sonst vielleicht aufregen würde.

      »Nele…, ich möchte dein Zimmer gern neu tapezieren. Aber du mußt dir die Tapete selbst aussuchen. Ich weiß nicht, ob du gelb oder lieber blau möchtest…«

      Neles Hand in ihrer zuckte. Julia starrte darauf, als könnte das gar nicht möglich sein.

      »Nele, deine Hand… drück noch mal…«

      Wieder spürte sie das eindeutige, wenn auch schwache Zucken.

      »Oh, Nele, wach auf! Du kannst es! Alles ist gut! Du kannst bald nach Hause…«

      Nele schlug die Augen auf. Sie sah blicklos vor sich hin. Julia bekam einen furchtbaren Schreck, aber dann zog sich der Schleier von den Augen ihrer Tochter zurück. Ihr Blick wurde klarer, als er ihre Mutter erfaßte.

      »Mama…«

      »Ja, Nele, ich bin es… Ach, ist das wunderbar! Du bist wieder aufgewacht…«

      Ihre Stimme hatte eine Schwester herbeigelockt. Sie kam jetzt ans Bett und schaute fassungslos auf Nele hinunter. Dann sah sie Julia an.

      »Sie haben es geschafft… Wie schön. Ich hole gleich den Doktor.«

      »Mama…«, flüsterte Nele noch einmal.

      Dann schloß sie die Augen wieder.

      Der Arzt sah anhand des Monitors, daß Nele nicht wieder in die Bewußtlosigkeit zurückgesunken war, sondern schlief.

      »Na, sehen Sie, Frau Bogner. Sie wird wieder gesund. Jetzt wird sie bald wieder munter sein.«

      »Ich bin so glücklich…«

      Julia fühlte sich schwach und taumelig, aber eher so, als hätte sie zuviel Champagner getrunken.

      »Bleiben Sie schön sitzen. Die Schwester bringt Ihnen einen Kaffee. Sie müssen ja einen richtigen Schock erlitten haben.«

      »Ja, irgendwie schon.«

      »Das ist verständlich. Obwohl man jeden Tag, jede Stunde auf diesen Augenblick wartet, ist es doch überraschend.«

      Immer wieder schaute Julia ungläubig Nele an. Sie hätte sich am liebsten überzeugt, daß sie wirklich nur schlief, indem sie sie aufweckte. Aber das durfte sie natürlich nicht tun. Der Arzt belog sie sicher nicht. Leider konnte sie die Linien und Zahlen auf dem Monitor nicht deuten.

      Nele bewegte sich und stöhnte leise.

      Dann hob sie die Hand an die Wange und schlief in ihrer vertrauten Haltung weiter. Julia begann zu weinen. Ja, Nele war auf dem Weg, gesund zu werden. So hatte sie ihre schlafende Tochter oft betrachten können.

      Sie betete leise vor sich hin, dankte Gott für seine Güte, daß er ihr ihr Kind neu geschenkt hatte. Julia wollte am liebsten alle Welt anrufen, um über das Wunder zu sprechen, aber sie blieb sitzen.

      Diesmal wartete sie, bis Thomas kam. Er sollte es von ihr hören. Auch hier hatten die Worte von Frau Dorn etwas bewegt.

      Er kam herein und stutzte, als er sie sah.

      »Guten Abend, Julia…«

      »Guten Abend, Thomas. Ich habe eine wunderbare Nachricht. Nele ist heute aufgewacht. Sie schläft jetzt.«

      »Ist das… wahr?«

      Sie sah die Tränen, die in seine Augen stiegen. Noch nie hatte Thomas geweint.

      »Ja, es ist wahr. Es ist ein Wunder. Sie wird wieder gesund.«

      »Oh, Julia…, danke, daß du es mir selbst sagst. Ich komme mir vor wie… ein Schwein…«

      »Ich weiß. Ich kann dich verstehen. Ich habe mir auch Vorwürfe gemacht, und auch… dir. Ich habe dich… gehaßt. Aber jetzt, nein, das tue ich nicht mehr. Ich bin dir nicht mehr böse. Ich würde mich freuen, wenn wir uns wie… Freunde verhalten könnten…«

      Thomas umarmte sie. Julia spürte nichts als eine große Erleichterung.

      »Ja,

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