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er ob seines sportlichen Outfits als „der Engländer in Narrentracht“. 1899 organisierte Bensemann – im heftigen Widerstreit mit den meisten der damaligen Regionalverbände – die „Urländerspiele“ gegen ein englisches Auswahlteam, nachdem er die Football Association zur ersten kontinentalen Tournee ihrer Geschichte überredet hatte. Zwei Jahre später ging er nach Großbritannien, wo er von 1910 oder 1911 bis 1914 an der Birkenhead School in Birkenhead unterrichtete. Birkenhead, Heimat des Profiklubs Tranmere Rovers, liegt am Ufer des Mersey gegenüber von Liverpool auf der Halbinsel Wirral. Von hier fahren die Fähren nach Belfast.

      An der Birkenhead School unterrichtete Bensemann hauptsächlich Französisch und Sport. Offenbar sah er viel Rugby. Er fuhr mit seinen Klassen mehrfach nach Frankreich, Deutschland und in die Schweiz. 1919 schrieb Bensemann, er habe 70- bis 80-mal den Kanal überquert. Der Sportverkehr, der sich um die Jahrhundertwende zwischen England und Frankreich entwickelt hatte, trug nach Bensemanns Ansicht wesentlich zu einem Verständigungsabkommen zwischen den beiden Staaten bei. Bensemann schrieb 1910 von England aus für das DFB-Jahrbuch: „Die Entente Cordiale ist nicht so sehr das Werk König Edwards VII. gewesen als vielmehr die Folge von vielen Hundert internationalen Wettspielen, die Vorurteile beseitigt und achtungsvolles Einvernehmen begründet haben.“

      1912 und 1913 habe seine oberste Klasse „den Preis des Präsidenten der französischen Republik für die besten Leistungen einer englischen Mittelschule in französischer Sprache und Literatur erhalten“. Ein 17-jähriger Schüler von ihm habe „für seine Grafschaft und Nordengland Fußball gespielt“. Bensemann war gut bekannt mit dem geschäftsführenden Direktor des in Birkenhead beheimateten Schiffsbauunternehmens Cammell, Laird & Company, dessen beiden Söhne zu seinen Schülern zählten. In der 1903 gegründeten Werft, die aus den Birkenhead Iron Works hervorging, lief 1920 mit der „Fullagar“ das weltweit erste vollständig geschweißte Seeschiff vom Stapel.

      Über Bensemanns Tätigkeit in der Birkenhead School berichtet W.E. Woodhouse in seiner Abhandlung über die Geschichte dieser Lehranstalt (One in Heart. Reminiscences of Birkenhead School 1860–1960, Liverpool 1967). Offenbar hatte Bensemann in Birkenhead einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. „Es war in jenen Tagen, dass die Ankunft von Herrn Bensemann den Modern Studies eine völlig neue Bedeutung gab. Dieser man-mountain wurde über Nacht eine Berühmtheit. Er schien mithilfe von Magie zu arbeiten – nach allgemeiner Ansicht mithilfe von schwarzer Magie.“ (Gemeint ist: Er half seinen Schülern ein wenig illegal bei Prüfungen …) Bensemann sei dann plötzlich verschwunden und habe „eine Wolke von Gerüchten“ hinterlassen. „Deren harmlosestes war, dass das Adelphi habe schließen müssen. Seine verschwenderischen Dinner-Partys verursachten im Nachhinein wilde Spekulationen.“ Der Anglist und Bensemann-Forscher Heiner Gillmeister schrieb über das Adelphi: „Das Adelphi, ein Hotel in der Liverpooler Innenstadt, war 1914 berühmt für seine französische Küche. Es war das weithin bekannte Stammlokal begüterter Amerikaner, die dort während des ‚Grand National‘ in Aintree abstiegen.“ Der Hafen von Liverpool war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein wichtiger An- und Abfahrtsort für Transatlantik-Reisende. Das Adelphi war bei reichen Passagieren sehr beliebt. Hier verbrachte man die letzte Nacht, bevor man nach Nordamerika aufbrach. Zu den Gästen des Hotels gehörten berühmte Politiker und Staatsmänner wie Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill. Auch Künstler nächtigten im Adelphi – so Frank Sinatra, Stan Laurel und Oliver Hardy, Judy Garland, Bob Dylan und Roy Rogers.

      „The Britannia Adelphi“ überlebte Bensemanns Abgang. Es existiert auch heute noch am Ranelagh Place im Herzen Liverpools und galt lange Zeit als das größte, traditionsreichste und vornehmste Hotel der Stadt. Auch der FC Liverpool feierte hier wiederholt. Heute macht es einen eher ranzigen und abgewohnten Eindruck. Bei booking.com reicht es nur zu 6,5 von zehn möglichen Punkten. Hingegen zählt die Birkenhead School noch heute zu den besseren Adressen unter den englischen Privatschulen.

      Zu Beginn der Sommerferien, am 28. Juni 1914, reiste Bensemann nach Deutschland. Am gleichen Tag kam es zum Attentat in Sarajevo, und der Weltkrieg begann. Nach seiner Abreise erschien in Birkenhead ein Vertreter der Geheimpolizei von Cheshire, um zu überprüfen, ob es sich bei Bensemann eventuell um einen deutschen Spion gehandelt habe. Der Schuldirektor erklärte ihm, dass man wohl kaum Kurzsichtige mit solchen Missionen beauftrage.

      Bensemann hätte sich möglicherweise dauerhaft in England niedergelassen, wäre nicht der Erste Weltkrieg dazwischengekommen. Nach dem Krieg gründete er in Konstanz jene heute noch existierende Fußballzeitung, der er zum Entsetzen seiner Mitstreiter einen bewusst englisch klingenden Namen verpasste: den Kicker. Bensemann sah sich durch den Ersten Weltkrieg in seiner internationalistischen und pazifistischen Idee vom Sport bestätigt. Den Krieg habe er „doppelt empfunden“. Es seien „Jahre der Trauer“ gewesen, „um meine eigenen Landsleute, deren Pyrrhussieg mir das Ende nicht verschleiern konnte; Jahre der Trauer um liebe Kollegen, liebe Schüler aus meiner (…) Tätigkeit in England.“ Engstirniges Nationaldenken war dem polyglotten Fußballpionier nun mehr denn je zuwider: „Auf den Geburtsort des Menschen kommt es so wenig an wie auf den Punkt, von wo er in den Hades fährt.“ Seinen Kicker betrachtete Bensemann als „Symbol der Völker-Verständigung durch den Sport“. 1921 schrieb der unermüdliche Optimist: „Wenn man die Unmenge der internationalen Spiele betrachtet, möchte man fast doch daran glauben, dass wir endlich wieder in unserem zerfleischten Europa einen wirklichen Frieden haben; nicht mehr den, der nur ein verdeckter Krieg ist, sondern einen wirklichen, wahrhaftigen Frieden. Unser Fußballsport hat den Frieden gemacht – das ist einmal gewiss.“

      Richard Kirn war zu Bensemanns Zeiten ein freier Mitarbeiter des Kicker und avancierte nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem der bekanntesten deutschen Sportjournalisten. Im Juli 1930 schrieb der junge Journalist anlässlich des zehnjährigen Jubiläums des Kicker: „Der Kicker entstand in schlimmer Zeit. Ist die jetzige besser? Man darf es bezweifeln. Wesentlich scheint mir: Die geistige Haltung des Kicker, und das will heißen: Walther Bensemanns, ist immer die gleiche geblieben. Wo andere in trüber Zeit auf ein armselig-schlappmäuliges Nationalistentum spekulierten, waltete über dieser Fußballwochenzeitschrift der wohltuende Geist eines anständigen Menschentums, eines Humanismus, der auch durch Enttäuschungen nicht zu Grunde ging, eines hoffnungsvollen ‚guten Europäertums‘. Darum ist es, dass wir diese Zeitung lieben.“

      Das war zeitlos passend formuliert. Wie zeitlos passend, beweisen aktuelle Entwicklungen in Europa: Nationalismus und Rassismus sind wieder en vogue, auch im „Mutterland“ von Demokratie und Fußball, wie die Pro-Brexit-Kampagne dokumentiert, deren Protagonisten einen britischen Alleingang propagieren und von einer zweiten Auflage des Empires träumen – ungeachtet dessen, dass die britische Jugend europäisch denkt und auch Schotten, Nordiren sowie Liverpudlians dabei nicht mitmachen wollen. Im Zuge der Pro-Brexit-Kampagne haben rassistische Attacken gegen Migranten stark zugenommen.

      Liverpool-Coach Jürgen Klopp ist ein entschiedener Gegner des Brexits und ein überzeugter Europäer. „Ich bin 51 Jahre alt, also habe ich noch nie einen Krieg erlebt. Wir sind in unserer Generation wirklich gesegnet, aber die Vergangenheit hat uns gezeigt, dass Europa, solange starke Partner zusammen sind, ein viel sichererer Ort ist. Mir gefällt es nicht, dass es wieder geteilt wird. Wir leben unter wunderbaren Umständen. Ja, wir haben Probleme. Aber die sind lösbar. Ich hoffe immer noch, dass jemand am Ende seinen gesunden Menschenverstand einsetzt.“ Der Brexit habe seiner Meinung nach „massive Auswirkungen auf die Jugendlichen und die Städte“. Er habe „kein Verständnis für Politiker, die Lösungen anbieten sollen und stattdessen Stimmungen und Ängste verstärken. Viele Menschen, die für den Austritt gestimmt haben, sind im fortgeschrittenen Alter. Das Referendum war für mich ein Missverständnis von Demokratie. Da ging es um eine existenzielle Zukunftsfrage.“

      PS: Walther Bensemann emigrierte 1933 nach Montreux in die Schweiz, wo am 12. November 1934 im Hause des Freundes und späteren IOC-Mitglieds Albert Mayer starb.

      „Lish“ und „Dixie“

      In den Spielzeiten 1921/22 und 1922/23 gewann der FC Liverpool die Meistertitel drei und vier. Für den im Mai 1915 im Alter von 56 Jahren verstorbenen Erfolgscoach Tom Watson hatte nach dem Krieg zunächst David Ashworth die Mannschaft übernommen. Der vierte

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