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wird dies indes so nicht sehen. Aus einem Mangel an ihrem eigenen In-der-Welt-sein-wollen hält sie sich an die Grünäugige und folgt ihr. Folgt ihr jetzt, wo diese sich wortlos von den anderen Mädchen, die noch immer auf der Bank unter den Bäumen herumlungern, abwendet, die Togostraße schräg überquert, um nicht am Imbiss der Bärtigen vorbeigehen zu müssen, weil die Männer, die dort Pizza verkaufen, »ha, Pizza«, gleichzeitig ihren Kunden aus dem Koran vorlesen und jungen Frauen wie ihr abfällige Bemerkungen nachwerfen, da sie gern Haut zeigen. Maria folgt der Grünäugigen, die bis zur Ecke schlendert, in die Kameruner Straße einbiegt und dort ihren Weg fortsetzt bis zur Müllerstraße, ein wenig zu langsam eigentlich, um ihr unbemerkt nachgehen zu können.

      Aber Maria ist eine Frau, die nicht auffällt in ihrem grünlich schimmernden T-Shirt, ihrer grauen Jeans, ihren graublonden Haaren. Einzig ihr Gesicht ist zu jung, fast wächsern, die Haut noch so glatt, vierundvierzig Jahre alt ist sie, da könnten schon Falten sein. Die Glätte ihrer Haut, das ist das Ende. Als hätte sie einmal, vor geraumer Zeit, aufgehört zu leben. Als wäre sie eine Figur bei Madame Tussauds, Gott bewahre.

      An der Ecke schaut sich die Grünäugige um. Kennt sie jemanden von denen, die am Imbiss stehen, vor Lidl, vor Real? Jemand, der sie nicht mit Namen ansprechen wird, sondern mit »hallo« und »hey«, und ihr Wortfetzen in einer Sprache zuwirft, die nur sie verstehen: »Ne wa?« »Gel doch!« »Mir egal.« »Alles korall?« (»Was wa?« »Hau ab!« »Alles super?«)

      Der Grünäugigen zu folgen, strengt Maria an, weil sie nur von außen auf ihre Welt schaut, sie nur halb versteht, manches denkt sie sich auch aus. Jetzt, wo das alles aufgeschrieben wird – wer schreibt? Sie? Jetzt also, wo sie das alles aufschreibt, erst recht.

      Sie fühlt sich wie eine, die aus einem schweren Marmorblock mit Hammer und Meißel Stücke herausschlägt, alles noch grob und doch soll schon Kontur erkennbar sein. Da, eine Figur, ein junges Mädchen, pausbäckig und leichtfüßig, das, wenn es um sich schaut, in alle Richtungen blicken kann, weil es niemandem vertraut, wie auch Maria F. in nichts und niemand Vertrauen hat außer in ihre Hände, mit denen sie mit dem Handwerkszeug die Geschichte aus dem Marmorblock schlägt.

      Noch ist sie roh und ihre Finger sind blutig von der schweren Arbeit. Sie umwickelt sie mit Stoffstreifen, die sie von einem alten Laken reißt. Denn es scheint ihr nur richtig, sich in gebrauchte Dinge zu hüllen, die eine Geschichte haben, um sich so aus ihrer eigenen zu stehlen.

      Dies ist auch der einzige Grund, aus dem sie der Grünäugigen folgt: Sie will das Leben der anderen. Will es sich zu eigen machen, will sich ihr anverwandeln. So, meint sie, kann sie sich selbst verwandeln, noch einmal von vorne beginnen und eine Zukunft haben, die glänzt.

      Plötzlich erstarrt die Grünäugige. Sie hat jemanden entdeckt. Es muss der Mann sein, der vor der Eckkneipe steht, die in­zwischen geschlossen ist. »Zum Korken« hieß sie, die Buchstaben des Schriftzugs hängen schief noch an der Fassade.

      Unauffällig gekleidet ist der Mann, so unauffällig wie Maria F., das Gesicht mit dunklem Stoppelbart, der um den Mund heller wirkt, grau. Auch die Haare noch dunkel.

      Die Grünäugige rennt über die Straße, die Fußgängerampel schon rot. Da, in der Bewegung, entdeckt er sie. Es dauert eine Sekunde. Dann kommt Leben in ihn. »Kiss!«, ruft er, will ihr hinterherrennen, aber die Autos sind zu schnell, er schafft es noch hinkend, ein Bein nachziehend, bis auf den engen Mittelstreifen, sieht sie im Einkaufszentrum verschwinden.

      Er überquert die zweite Fahrspur, achtet nicht auf den Verkehr, es bremst, es hupt, er humpelt zum Eingang, geht hinein, kommt wieder raus, will erst nach rechts, dann nach links, entscheidet sich zu bleiben, zu warten, setzt sich auf einen der Bögen, an denen Fahrräder angeschlossen werden. Eine andere Sitzgelegenheit gibt es nicht, wo man warten kann und den Eingang im Blick hat. Es sei denn, man hockt sich wie die Bettler auf den Boden. Der Mann zündet sich eine Zigarette an.

      Maria F. ist mittlerweile auch auf der anderen Straßenseite. Aus dem Abstand hat sie alles beobachtet. Es erinnert sie an etwas. An was? Zu kurz nur hat sie den Mann von vorne gesehen, und jetzt nähert sie sich ihm von hinten. Das geht so nicht. Sie rennt noch einmal über die Straße, mehr auf ihn als auf die Autos achtend, die eben wieder anfahren, weil die Ampel umgesprungen ist, läuft bis zur nächsten Fußgängerampel nur wenige Meter entfernt, immer den Mann im Blick. Ist er noch da? Ist er noch da?

      Es dauert, bis die Fußgängerampel auf Grün schaltet und sie ihm nun entgegengehen kann, sein Gesicht ganz grau. Sie zieht selbst Zigaretten aus der Tasche, holt, während sie ihn anschaut, eine aus der Packung, und als sie das tut, begreift sie es. Sie sieht es an seinem Blick. Sie hat das schon oft gesehen. Diesen Hohlraum, der sich auftut, wenn man in die Augen schaut, als läge zwischen Jetzt und Hier eine Steinwüste. (Andere, die etwas gemeinsam haben, Mandeläugige, Homosexuelle, Beinprothesenträger, erkennen sich auch am Blick. Bei denen jedoch liegt zwischen dem Hier und dem Jetzt ein Meer, also Wasser, nicht Dürre und Trockenheit.)

      Sie bittet den Mann um Feuer und da, in diesen Sekunden, die sie sich schweigend gegenüberstehen, erkennt er sie auch.

      Wie lange?, fragt Maria F., ohne es auszusprechen. Sie fragt nur in ihrem Kopf, er indes hört die unausgesprochene Frage: Drei Jahre, zwei Monate, denkt er. Und du?, fragt er, ohne etwas zu sagen. Sie antwortet nicht, gibt ihm das Feuerzeug zurück, geht weiter, spürt, wie er ihr mit den Augen folgt, und weiß nun, dass sie nicht unsichtbar ist.

      7

      Diese Geschichte der Grünäugigen nimmt Kontur an. Darauf war Maria F. nicht vorbereitet. Obwohl sie sich in das Leben des Mädchens hineinschmuggeln wollte, hat sie es sich als ein einfaches vorgestellt. Natürlich nicht ganz ohne Dramatik, das nicht, aber sie wollte es ohne Abgründe. Wie jemand, der Blumen liebt und sich durch deren unvorstellbare Großzügigkeit – Farbe, Form, Geruch, Bewegung – die Kleinlichkeit der menschlichen Existenz ersetzt. (Dass sie welken, wird ausgeblendet.) Wohl aber will sie das Leben, das sie sich für die Grünäugige ausmalt, auch mit ein wenig Wehmut. Denn ohne wäre es kein Leben.

      Auch Romantik soll darin vorkommen, ein wenig verbrauchte Romantik. Denn nichts ist mehr wie früher, als es der größte Traum der Mädchen war, in Weiß zu heiraten, und ihre Tanten schenkten ihnen schon im Kindergartenalter eine riesige Flasche zum Geburtstag, damit sie Pfennige sammeln können, um eines Tages die Brautschuhe davon zu kaufen. Manche blieben ledig. Wenn der Zeitpunkt für Ehen weit überschritten war, ver­schwanden die Flaschen aus dem Regal und verstaubten irgendwo auf dem Dachboden. Gefüllt. Ein Schatz. Der wird später von anderen Kindern mit großen Hoffnungen gefunden. Sie schreiben ihre eigenen Geschichten, denn um die ledigen Tanten geht es nicht. (Um die geht es nie.)

      Es geht um das Leben.

      Maria F. begreift, dass, sollte sie sich weiter in das Leben der Grünäugigen drängen, der Moment kommt, an dem sie sie nicht mehr abschütteln kann, sondern Verantwortung übernehmen muss für Erfahrungen, die es noch nicht gibt, für Sätze, die noch nicht geschrieben sind, und für Worte, nicht gesagte, wo es doch eigentlich, denkt sie, nicht viel zu sagen gebe: ein Mädchen, straßenklug, mit grünen Augen, das vor einem Mann davonläuft, der es »Kiss« nennt. Kiss also.

      Ein Flugzeug fliegt über die Straße, steigt in den Himmel. Als es vorbei ist, hört sie, wie jemand hinter ihr näher kommt, und beschleunigt selbst ihren Schritt.

      8

      Das grünäugige Mädchen ist in das Einkaufszentrum gerannt, geht aber nicht in den Supermarkt, sondern biegt um die Ecke und läuft zum Aufzug, mit dem sie in den oberen Stock fährt, aufs Dach. Im Aufzugspiegel betrachtet sie sich, legt den Kopf zur Seite, zieht die Schultern hoch, streicht vom Oberarm aus zum Unterarm über ihr Gesicht, eine Geste, die sie sich angewöhnt hat, als tröste, als liebkose sie sich selbst. Und während sie dies tut, behält sie die Stockwerkanzeige im Blick. Auf der fünften Etage hält der Aufzug. Obwohl sie weiß, dass er der Mann ihr nicht folgt, pocht ihr Herz.

      Oben auf dem Dach treffen sich die Jugendlichen, hängen rum, rauchen, knutschen, ein Treffpunkt, wo sie sich unbeob­achtet fühlen, den Berliner Fernsehturm im Blick.

      Das Mädchen ist allen entwischt, dem Mann, Maria.

      Vorsichtig

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