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Gummi, Muscheln, die ihr der Nasse, der vom Lehrer geschlagen wurde und der sie so Ungerechtigkeit lehrte, geschenkt hat in der dritten Klasse, eine Spieluhr, die nicht mehr ging und die, als sie noch funktionierte, in glockenhellen Tönen »Guter Mond, du gehst so stille« spielte. Wenn sie an die Spieluhr denkt, hört sie das Lied.

      Anders als damals ist die Schatzkiste, in die sie die Göttlichkeit der Bäume hineinlegte, nur in ihr. Sie behält das für sich. Sowieso, mit wem soll sie darüber sprechen? Nie aber wird sie vergessen, wie sie als Teenager, noch auf dem Dorf, in der Wohnung stand und sich weinend die Ohren zuhielt, weil sie den Baum, der im Garten gefällt wurde, schreien hörte. Ein alter Ahorn war es, sie hatte ihren Stiefvater angefleht, den Baum stehen zu lassen, er störe doch nicht, im Gegenteil, er spende Schatten im Sommer. Der Stiefvater aber sagte, er verschatte das Zimmer, sie solle sich nicht so anstellen, ein Baum sei nur ein Baum. Sie spürte, wie die Säge kreischend in seinen Stamm drang.

      Um aufzuatmen, denn sowohl die Erinnerung als auch das Schreiben erschöpfen, steht Maria auf, legt den Stift zur Seite, zieht ihre Jacke an, zieht sie wieder aus, zieht sie doch wieder über und verlässt die Wohnung.

      Sie geht in den Gemeinschaftsgarten, entstanden auf einer alten Brache unweit des Leopoldplatzes. Zufällig war sie dort vor Monaten vorbeigekommen. Es ist ein Garten für alle, und aus einer Laune heraus fragte sie, ob sie ein Beet haben könne. Sie konnte. »Tun, nicht reden«, hat der Mann gesagt, den sie fragte. Jemand hatte die Freude am Gärtnern verloren, seine Beete, die nicht auf dem Boden angelegt sind, sondern in zusammen­gezimmerten Kisten, überließ er ihr.

      Damals, als sie fragte, ob sie mitmachen könne, war Herbst, die Beete abgeräumt. Da war nichts als brauner Grund. Sie nahm ihn in die Hände, roch daran. Anders als Sand, von dem sie findet, dass er metallisch riecht, ein Geruch, der sich ihr eingebrannt hat, seit jenem Tag, an dem ihr Leben in zwei Teile brach, erinnert der Duft der krümeligen Erde sie an feucht gewordene Kleider.

      Was sie anpflanzen wolle, hatte jemand gefragt. Und ohne zu zögern, sagte sie »Brombeeren«. Nichts sonst. Mit einer Entschlossenheit, die es denen, die sie gefragt haben, unmöglich machte, nein zu sagen: Nein, doch keine Brombeeren. Da brauche sie sich nicht solche Mühe machen, die wüchsen doch überall von alleine. Nur einer hat wissen wollen, ob sie die großen, die ohne Dornen nimmt, und da hat sie genickt, obwohl sie bis dahin gar nicht wusste, dass es welche ohne Dornen gibt.

      Seither wachsen in ihren Kisten Brombeeren, die die Finger schwarz färben, so schwarz wie die Nacht mit violettfarbenem Schatten, so schwarz wie das Blau hinter geschlossenen Lidern, so schwarz wie das Haar des Kindes in ihren Träumen. Wenn sie die Beeren isst, sagt sie »Mora« und saugt die erdige Süße aus ihnen, als stille die Beere sie.

      Im späten Winter aber, wenn die Sträucher schon Knospen ansetzen, isst sie auch diese. Sie schmecken nach Pistazien, und obwohl die Knospen hell sind, gräulich und von einem pastelligen Braun, das fast blau wirkt, sieht sie sie grün.

      Kommt sie aber im Frühling und Sommer im Garten vorbei, setzt sie sich auf eine einfache Holzbank, die jemand zwischen die Hochbeete gebaut hat, und schaut den Pflanzen beim Wachsen zu. Und manchmal, bei der Zucchini im Nachbarbeet etwa, dort, wo auch die Butterkürbisse über den Rand der Kiste hängen, meint sie, die sich streckenden Fasern, die immer länger, immer härter werden, zu sehen. Sie kann ihre Wahrnehmung in die Zeitlupe verschieben und da geht das schon.

      Im letzten Sommer hat es angefangen, dass sich dieser Mann neben sie setzte auf diese zusammengezimmerte Bank. Sie sprachen nicht miteinander, nicht mit Worten jedenfalls, nur mit den Augen. Ja, sie grüßen sich, aber der Gruß ist mehr ein Nicken. Bald sagen die anderen, die dort auch gärtnern, »die Schweigende« zu ihr. Ihn nennen sie »den Biologen«. Je länger der Sommer geht, desto näher rücken die Worte. »Drüben sitzen die Schweigende und er«, sagt jemand. Eine andere: »Ach, auch da, sie und der Biologe.« Und während sie es sagen, schauen sie die beiden nicht an, betrachten sie nur aus den Augenwinkeln, um ja keine Bewegung zu verpassen.

      Wenn der Biologe aufsteht, streicht er sich die Hose glatt, als wäre er nicht im Garten, sondern auf einem Amt, hätte eine Wartenummer gezogen, die gerade aufgerufen wird. Steht sie indes auf, ist es, als wolle sie eine Last abwerfen. Und da ist ja auch eine. Deshalb kann sie mehr als seine wortlose Nähe nicht ertragen.

      Müde vom Zuschauen der sich reckenden Pflanzen macht sie sich vom Garten auf den Weg nach Hause, mit einer Mohrrübe in der Hand, zwei Blättern Russischem Kohl, die er ihr nickend gibt, die sie dann schneiden will, dünsten und essen. Und doch nicht isst. Sie weiß, dass es etwas anderes gibt als die Leere, aber sie ist noch nicht bereit dafür.

      Auf dem Rückweg verlangsamt sie den Schritt, wenn sie die Mädchen auf der Bank unter den Bäumen in der To-go-Straße entdeckt. Mitunter setzt sie sich auf die zweite Bank, die etwas abseits steht und nicht so geschützt ist, aber doch nah genug, um die Mädchen im Blick zu haben und ihre Worte aufzufangen, wenn kein Flugzeug über die Straße fliegt. Dieses etwas zu hohe »Süüüüüß«, dieses zu schrille »Heyyyy«, dieses etwas zu langsame »Moooorgen«, das kein Morgen sein wird, sondern immer ein Jetzt. »Komm, wir gehen.«

      Maria F. sitzt auf der Bank und knüpft die Erzählfäden der Mädchen zu einem Teppich, in dem jeder Knoten aus Sehnsucht und Erwartung besteht, nicht aus Schmerz, und sie weiß dennoch nicht, wo das hinführt, denn beim Teppichknüpfen ist alles Gegenwart.

      Beide, sie und die Grünäugige, wedeln mit der Hand und vertreiben Schmeißfliegen. Weil Hundebesitzer ihre Hunde auf der Wiese hinter dem Platz mit den Bänken ausführen, gibt es viele davon.

      »Hey, komm«, sagt Gülüstan, bewegt sich aber nicht vom Fleck, und auch Maria F. bleibt auf der Bank sitzen und fragt sich, wie sie je diesem Journalisten sagen soll, was sie denkt und wie ihr Leben ist. Und dass da dieses Kind war, das sie nicht beschützt hat, und dass sie jetzt die Grünäugige beschützen möchte, obwohl es bisher keinen Anhaltspunkt für diese Absicht gab.

      5

      Schwer vorstellbar, dass Maria F. einmal eine Fröhliche war, ein fröhliches Mädchen. Und doch war es so. Ist sie damals als Kind in ein Zimmer gekommen, haben sich die Leute zu ihr umgedreht. »Ah, sie!«, »Ah, wie schön!«. Locken und Lachen und ein Gehen, das einem Springen gleichkam. Nie hat sie sich langsam genähert, sondern ist in die Gegenwart gesprungen. »Sie bringt Wind mit«, haben die Leute damals noch auf dem Dorf, wo sie aufgewachsen ist, gesagt, wenn sie einen Raum betrat; »sie strahlt«, sagten sie, wenn sie ihr auf der Straße begegneten.

      Maria wusste das, sie hatte es gehört. »Windlicht« nannte sie sich dann manchmal selbst. »Hier bin ich, Maria Windlicht« – und das war für eine, die noch kein Teenager war, doch auch zu erwachsen und zu sehr in die Leute hineinblickend. Die aber fanden es lustig, weil dieses Mädchen etwas hatte, was ihnen verloren gegangen war: Neugier, Lebenslust, Ungestümheit, Frechheit, Ge­wagtheit. Sie kletterte auf Bäume, sprang von Schaukeln, sie konnte das.

      Lebenslust ist der Lebensfaden gewesen, an dessen anderem Ende die Mutter hing, die ihre Depressionen bekämpfte, vor allem, nachdem der Vater weg war, gegangen, Zigaretten holend verschwunden. Insgeheim hat das Mädchen den Vater verstanden, der, einmal eine Richtung eingeschlagen, nicht mehr umkehren konnte. Umkehren kam ihr wie Einknicken vor. Auch ihr fiel das schwer, aber weil sie lachend stur blieb, war es mehr ein Ahnen denn Gewissheit, dass das Lachen sie schützte.

      Die Abwesenheit des Vaters brachte nicht Wind, sondern Wolken. Er hat sie doch sonst immer mitgenommen! »Komm, Windfang«, »komm Sonnenschein«, »komm, mein Regenbogen« – seine Kosenamen hatten mit dem Wetter zu tun. Dabei war er gar kein Bauer, der morgens auf das Barometer schaute und in den Himmel, er war Handwerker, reparierte alles, was aus Metall war. Er schlug dagegen und lauschte dem Ton. Als könne er hören, was kaputt ist. Der Schlag gegen einen Kotflügel: blechern, gegen ein Rohr: dumpf, gegen einen Kofferraumdeckel oder eine Motorhaube: hell und scheppernd, gegen einen Zinkzuber: hoch, gegen eine Radkappe: hohl, gegen eine Egge, mit der die Bauern den Boden lockerten: tief. Alles, was aus Metall war, brachte er zuerst zum Klingen, bevor er es reparierte. Als stimme er ein Ins­trument.

      Dass ihr Faible für schrille Musik, für solche ohne Harmonie, für Kompositionen, die Pfeifen und Schlagen und Kratzen

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