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Odysseus an der Narbe am Knie erkennt. Es ist der Moment höchster Spannung: dennoch erzählt der Dichter nun ausführlich, wie Odysseus in der Jugend zu dieser Narbe gekommen, bei einem Besuch bei Autolykus auf dem Parnaß; die Eberjagd, auf der der Eber ihm die Wunde beibrachte, wird mit allen Einzelheiten geschildert; die dabei vorkommenden Reden werden mitgeteilt; endlich wird mit den Worten: »diese Narbe also erkannte die alte Amme« wieder eingelenkt. Wiederum als Patroklus getötet worden und Achilles die Waffen ergriffen, schwärmt er voll Wut und Vernichtungseifer auf dem Schlachtfelde: da trifft er auf den Lykaon, den Sohn des Priamus; ein Augenblick genügte, um den Unglücklichen zu verderben. Aber der Dichter schiebt ruhig diesen Augenblick noch auf: er erzählt uns zuerst, wie Achilles schon früher einmal den Lykaon in dunkler Nacht in des Vaters Weingarten überfallen; der Jüngling schnitt sich da mit scharfem Messer von einem Feigenbaum junge Ruten; diese Ruten sollten zu Wegweisern dienen; doch überfiel ihn nun dort unversehens der göttliche Sohn des Peleus. Aber er schickte den Gefangenen auf einem Schiffe über das Meer und verkaufte ihn ins schöngebaute Lemnos. Käufer aber war Euneus, Sohn des Jason. Von dort kaufte ihn ein Freund los, viel Gold gebend, Eetion der Imbrier, und schickte ihn nach Troja zurück in die göttliche Arisbe. Von dort heimlich entfliehend kam er ins väterliche Haus zurück. Daselbst war er elf Tage, sich des Umgangs seiner Lieben freuend, nachdem er Lemnos verlassen, am zwölften aber traf er wieder auf den Achilles. Jetzt also stehen wir wieder bei dem Moment wie vor jener Einschaltung. Aber noch fällt der tödliche Streich nicht. Achilles ist verwundert den nach Lemnos Verkauften wieder auf dem Kampfplatz vor sich zu sehen und jetzt folgt ein lautes Selbstgespräch von zehn Versen, in welchen Achilles ausruft: Fürwahr ich glaube, die von mir getöteten Troer kehren aus der Unterwelt wieder zurück; so habe ich diesen doch in die heilige Lemnos verkauft, aber das graue salzige Meer hat ihn nicht zurückhalten können und viele kommen doch wider ihren Willen im Meere um; aber nun will ich sehen, ob er, wenn er meines Speeres Schärfe erfahren, auch von da zurückkehren wird oder ob ihn die Erde bändigen wird, die ja auch den Kräftigen bändigt. Jetzt beschreibt der Dichter, wie Lykaon im Gemüte nicht sterben gemocht, in welcher Stellung Achilles ihm gegenüber gestanden, wie Lykaon darauf bittend sich ihm genaht, und nun folgt in mehr als zwanzig Versen diese Bittrede, in der Lykaon wieder Zug für Zug erzählt, wie er in dem Obstgarten gefangen worden, für hundert Ochsen nach Lemnos verkauft sei, elf Tage zu Haus zugebracht u. s. w. Ich sehe, sagt er, daß meine Mutter mich nur zu kurzem Leben geboren hat, die Laothoe, die Tochter des greisen Altes, welcher über die kriegerischen Leleger herrscht in der hohen Pedasos am Flusse Satnioeis. Dieses Altes Tochter hatte Priamus wie viele andre: wir waren von der Mutter zwei Kinder, du wirst sie wohl beide töten, den einen hast du schon getötet, den göttergleichen Polydorus u. s. w. Hierauf antwortet Achilles seinerseits ausführlich in fast ebenso langer Rede, worin er den Tod des Patroklus anführt, und nun erfolgt die Tötung, deren nähere Umstände gleichfalls genau angegeben werden. Solche Beispiele des wahrhaft epischen Tones ließen sich aus Homer unzählige anführen. Der Dichter folgt aber in der Reihe der Zeitmomente nur dem Gesetz poetischer Anschaulichkeit und, wenn er manchmal das Ausgedehnte zusammenfaßt, so entfaltet er meistens das, was sich in der Wirklichkeit zusammendrängt, z. B. wenn sich eine spannende Lage, ein heftiges Gefühl in unsrer Brust oft nur in einem kurzen Ausruf oder in einem einzigen Wort Luft macht, zu voller Darlegung des darin liegenden mannigfaltigen Gehaltes. Der epische Dichter gleicht darin ganz dem bildenden Künstler: auch dieser hält einen im Zeitflusse vorübergehenden Moment fest und stellt ihn mit festen und vollen Marmorumrissen vor unsre Anschauung, so daß wir seinen ganzen Inhalt entfaltet und bleibend vor uns haben. Daher nun auch die Neigung des epischen Dichters zu Episoden. Im Drama duldet die Angst der Erwartung kein Abspringen, es folgt immer in strenger Linie Schlag auf Schlag dem Endziele, aber das Epos ist der wahre Boden der mannigfaltigsten Episoden. Der Dichter wie der Zuhörer folgen in ihrem inneren Frieden jedem Zuge der sich darbietenden Gelegenheit; wo ein Seitenpfad sich öffnet, wird er harmlos betreten. Homer macht nichts parteiisch, weil er das Recht eines jeden Dinges kennt und bereit ist es ihm zu geben. Seine Darstellung will weder loben noch tadeln, sondern nur sich selbst genugthun. Ganze Gesänge der Ilias, kann man sagen, sind nur Episoden, so der sehr schöne fünfte, der von der Tapferkeit und den Thaten des Diomedes handelt; in den Gesängen aber sind die unzähligen kleineren Digressionen wieder, so zu sagen, für sich bestehende Epen im kleinen, Teilgebilde, die ein eigentümliches Leben führen und nur locker und lose mit dem Hauptgange zusammenhängen; polypenartig wächst Epos aus Epos hervor. Jeder Punkt in dem großen Gebilde ist für sich belebt; jeder Satz hat seine eigne Seele und ist um seiner selbst willen da; und daher auch die lose Wort- und Satzverknüpfung überhaupt, die bis in die kleinste Form von dem epischen Prinzip durchdrungen ist. Auch die häufigen ausgeführten Gleichnisse, die alle epischen Dichter dem Homer nachgebildet haben, sind von diesem Geiste ruhigen Verweilens bei Nebenvorstellungen eingegeben: indem dem Dichter bei irgend einer Situation eine ähnliche aus einem andern Gebiete einfällt, verweilt er bei dieser zweiten, die unter der Hand zu einem eigenen Ganzen wird und ein selbständiges Interesse gewinnt, was sich auch in dem Uebergange aus dem abhängigen Nebensatze in einen Hauptsatz zeigt, der bei homerischen Gleichnissen so oft vorkommt. Dieselbe epische Ruhe zeigt sich bei den so häufigen Wiederholungen: wenn bei Homer ein Bote eine Meldung zu bringen hat, so wird er den Auftrag gewiß, so lang dieser sein mag, mit allen Nebenmotiven in denselben Worten wiederholen. Auch dies ist ja nur ein Zeichen jener göttlichen Geduld, die durch die ganze epische Welt waltet, jener zwar immer schaffenden und bildenden epischen Phantasie, die aber, eben weil sie solchen Reichtum im Schoße trägt, ganz wie die gebärende Natur selbst mit ihrem Erzeugen halb zurückhaltend zögert. Das Epos, sagt Herder einmal, muß langweilig sein: dies ist in dem Sinne wahr, als es allen dramatischen Drang, alle lyrische Erreglichkeit und Unruhe ausschließt. Aber das dadurch mangelnde lebhaftere Interesse ersetzt es durch die Sinnlichkeit, durch die Plastizität, durch das helle Licht und den ununterbrochenen greifbaren Umriß, womit es den anschauenden Sinn entzückt.

      Wir haben uns scheinbar von Goethe und unserm Gedicht weit entfernt, aber in der That dadurch die wichtigsten Anhaltspunkte zu seiner Beurteilung und Charakterisierung gewonnen.

      Goethe war seiner ganzen Naturanlage nach nicht bloß ein Dichter, sondern im besondern ein epischer Dichter nach den Merkmalen, die wir oben angegeben haben. Sein ganzes Leben ist ein großes episches Gedicht und verfloß in innerer und äußrer Harmonie unter dem stillen Bilden der Lebensschicksale. Eine Altersstufe löste mit unmerklichem Werden die andre ab und jede trug im vollen Walten des Naturgesetzes die ihr eigentümlichen Blüten und Früchte. Der Strom seines Lebens stockte und wirbelte nie, von feindlichen Hindernissen gehemmt; in sanften Windungen umging er den Fuß entgegentretender Felsberge. Goethe war immer glücklich und jedes Mißgeschick verwebte er ausgleichend in den großen Zusammenklang seines Lebens und der Natur. Wohl hatte auch er innere Kämpfe zu bestehen, Kämpfe voll tiefer Spaltung und Verfinsterung der Seele, denn er war ja ein Dichter, aber immer stimmte die reiche Heilkraft seiner Natur das gebrochene Gemüt wieder zur heitern Versöhnung mit der Welt und mit sich selbst. Immer in kindlichem Zusammenhang mit der Ordnung der Natur und in ihren stillen gesetzmäßigen Gang einstimmend konnte er daher zu der Tragödie, die die Kämpfe des Subjekts mit den objektiven Mächten oder den Konflikt der letzteren unter sich poetisch darstellt, sich nicht bestimmt fühlen. Ich fühle deutlich, schreibt er an Schiller, daß der bloße Versuch eine wahre Traggödie zu schreiben mich innerlich zerstören würde. In der epischen Welt dagegen, die von jenem Leiden der subjektiven Freiheit nicht berührt wird, fand er den Frieden wieder, den die Natur und das rein und einfach Schöne gewährt. Von Shakespeare entfernte er sich, je länger er lebte, immer mehr; zu Homer fühlte er sich immer mehr gezogen; er dachte in Sizilien lange über den Plan zu einem Drama Nausikaa nach, er begann in späterer Zeit ein Heldengedicht, die Achilleis: in beiden wollte er mit Homer wetteifern. Das Epische liegt teils vor dem Tragischen, d. h. wo dieses in der ungetrübten Brust noch nicht hervorgebrochen ist, teils in der Höhe über demselben, wo nach Ueberwindung aller Qualen und Widersprüche der endlichen Welt die bewußtvolle Versöhnung und Seligkeit wieder eingetreten ist. Goethe nun stand in dieser Region echter in sich beruhigter Menschlichkeit. Die höchste Bildung war ihm die reinste Menschlichkeit; Schönheit und Sittlichkeit, ebenso Glück und Sittlichkeit war ihm eins. Der Zustand, wo die Pflicht mit der Neigung, der moralische Wille mit dem natürlichen Triebe nicht zusammenstimmt, wo wir also nicht in vollem ungeteiltem Besitz unsrer selbst sind, war ihm unerträglich. Er folgte dem schönen

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