Скачать книгу

Auf diesem allgemeinen Boden epischer Kollision tritt nun die ganz individuelle epische Begebenheit auf, und in ihr bewegen sich die epischen Charaktere. Auch der Charakter des epischen Helden schwebt wie die Begebenheit in der Mitte zwischen der nationalen Basis und seiner individuellen Besonderheit. Er ist, was jeder sein kann, was jeder im Grunde ist: dies in ihm Waltende ist nichts andres als die allgemeine Lebensgrundlage, die alle trägt. Sein Streben ist kein Kampf, weder mit dem Schicksal noch mit der ihn umgebenden Volksnatur. Er will nicht die Welt umgestalten und etwas erst noch in seinen Gedanken Vorhandenes realisieren, sondern in der Realität selbst wirkend, folgt er dem Zuge der Dinge mehr in ein äußeres Geschehen verflochten als durch wirkliche That, die immer in dem Innern des Subjekts entspringend in der Welt der Objekte sich durchsetzt, die Natur nach Zwecken seiner Freiheit umformend. Im Epos ist daher kein verwickeltes psychologisches Getriebe, kein verstecktes Motiv; die Handlungen fließen aus dem Instinkt des Ganzen. Die erzählte Begebenheit strömt ruhig an uns vorüber; der äußere Vorgang, Umstände, Zufälle, Ereignisse, dasjenige, was dem Helden begegnet, nicht der Held selbst als eine innerlich von Absichten bewegte oder von streitenden Motiven aus dem Gleichgewicht gebrachte Persönlichkeit ist im Epos das Wesentliche. Danach lassen sich alle geschichtlichen Charaktere in epische und dramatische einteilen. Der epische Held ist nur eine Konzentration der Nation und der Zeit; was er will und fühlt, ist Wille und Gefühl aller. Er ist daher immer glücklich, er ist der Günstling des Geschickes und die Götter sind mit ihm. Die Macht der Umstände trägt ihn von Erfolg zu Erfolg, Hindernisse und Hemmungen weichen, sein eigenes Innere ist offen, harmonisch bewegt; keine individuelle Willkür reißt ihn los von der Lebensgemeinschaft mit allen übrigen, und, indem er ein umfassendes Werk mit Größe vollführt, ist diese Vollführung vielmehr das bewußtlose Werden der Dinge selbst. Bei den tragischen Charakteren, die der reine Gegensatz der epischen sind, ist die religiöse Harmonie zur Empörung geworden. In Zeitaltern vorgeschrittener Zivilisation isoliert sich der begabte weiter blickende Genius; er fühlt der stumpfen Masse gegenüber höhere Einsicht, überwiegende Kraft in sich; er bildet den ersten Strahl des kommenden Zeitalters; in dem Kampf gegen das Bestehende fällt er als Opfer; der zähen Gewohnheit, der Beschränktheit gegenüber verblüht er langsam; oder er überwindet den Widerstand, steigt zum höchsten Glanz empor und will die Welt nach seinen Zwecken zwingen. Aber da ereilt ihn nach dem tiefsinnigen Ausdruck der Alten der Neid der Götter, die nicht dulden können, daß ein Sterblicher sich mit ihnen messe und das Steuer der Weltregierung ihren Händen entreiße. Indem er sein individuelles Pathos zum alleinigen Gesetz macht, stört er den Gesamtkomplex der sittlichen Mächte, die in gegenseitiger Durchdringung das Leben bilden; seine Kraft und Größe nach einer Seite ist seine Schwäche nach der andern; die durchbrochene Ordnung stellt sich wieder her, die Massen reagieren gegen ihn und, wo er am höchsten stand, stürzt er am tiefsten; in dem Augenblick, wo seine Pläne dem Gelingen am nächsten waren, sinken sie in Staub. Die Götter, die den epischen Helden lieben, hassen und vernichten den tragischen. Prometheus ist der wahre Typus tragischer Helden. Cäsar, Xerxes, der in seinem Uebermut den Hellespont geißelte, Ajax, den Pallas ins Verderben stürzt, sind tragische Charaktere, die daher auch von den Dichtern, von Shakespeare, Aeschylus und Sophokles gewählt wurden. Manche Figuren der Weltgeschichte tragen, je nachdem sie aufgefaßt werden, mehr den tragischen oder den epischen Charakter, z. B. Napoleon. Im ersten Stadium seines Lebens, als Obergeneral in Italien und Aegypten ist er der epische Held, den die Schwinge des Jahrhunderts und die Strömung der Dinge glück- und sieggewährend trägt; seine Thaten sind ein sonnenbeglänztes Epos; allmählich isoliert er seine Zwecke; er verliert sich in eine immer kühnere und einsamere Höhe; die objektive Welt mit allen endlichen Bedingungen und Verhältnissen, die Völker mit ihrer nationalen Denkart werden ihm nur der gleichgültige Stoff, dem er die Form seines idealen Willens aufprägen will; da reagiert eben diese reale Welt, die sich von keinem Einzelnen aus dem Schwerpunkt rücken lassen will; die Katastrophe, d. h. das plötzliche Umschlagen erfolgt und den Vermessenen trifft ein erschütterndes Verderben. So ist auch bei Alexander dem Großen, bei Kolumbus eine doppelte Auffassung möglich: epische Helden sind beide, insofern sie nur Organ des Zeitgeistes sind; der eine öffnet den Orient, der andre den fernen Occident; beide sind von dem allgemeinen Streben der beengten Völker nach Erweiterung des Weltbewußtseins zu glücklichem Ziele getragen; in das Leben beider mischt sich aber bald das tragische Unglück, dem der eine in der Blüte der Jugend, der andre nach einer Kette von Kränkungen und Mißgeschicken verfällt.

      Die letzte Betrachtung, die wir dem Epos zu widmen haben, betrifft, nachdem wir die epische Substanz bezeichnet, die epische Haltung, die Weise der poetischen Behandlung im Epos. Diese wird die einfache Konsequenz von jener sein, und auch darin kann uns Homer das Muster sein. Da das Epos in jene frühe Zeit fällt, wo die fühlende Seele in unmittelbarer Einheit mit der Welt ist und der Wille noch keinen Kampf mit den Naturtrieben zu bestehen hat, so wird auch die ganze epische Darstellung von jenem heitern Frieden und jener ungetrübten Harmonie überall getragen sein. Da ferner der epische Dichter von einer vergangenen Zeit nur erzählt, da, was er vorträgt, nur durch den stillen Sinn des Ohres vernommen wird und nicht wie im Drama in unmittelbar ergreifende Gegenwart tritt, so wird der Gemütsanteil ein milderer, die Stimmung eine freiere und der Sänger gewinnt Raum zu plastischer Entfaltung aller Seiten und Umstände, zu ruhiger Entwicklung und ebenmäßiger Anerkennung auch des Kleinsten und Geringfügigsten. Im Drama ist der Charakter der Personen gleichsam nur von einer Seite beleuchtet, insofern sie nämlich durch eine vorherrschende Leidenschaft, durch eine besondere Stellung zum System des Ganzen in den tragischen Kollisionsfall verwickelt sind. Das Epos aber hat nicht einen besonderen Gesichtspunkt, es beleuchtet die Persönlichkeit von allen Seiten, in allen Beziehungen und stellt den ganzen Menschen mit verweilender Ausführlichkeit als eine Totalität von Neigungen, Eigentümlichkeiten und Interessen vor unser geistiges Auge. Das Drama eilt unruhig durch eine Reihe von immer heftigeren Dissonanzen seinem Ziele entgegen; von Steigerung zu Steigerung drängt es der Katastrophe zu; der Zuschauer, zwischen Furcht und Hoffnung bewegt, in sich selbst geteilt und aus dem Gleichgewicht harmonischen Selbstgefühls gerissen, findet keine Ruhe als in dem endlichen Ausgangspunkt, wo die gewaltsame Spannung sich in ideales Mitleid auflöst und die Harmonie des vollendeten Kunstbaues uns die innere Versöhnung wiedergibt. Umgekehrt bleiben wir dem epischen Erzähler gegenüber immer in der Freiheit des Gemütes und in der allseitigen Integrität unsrer Kräfte. Statt wie im Drama den Gehalt heftig zusammenzudrängen, entfaltet er vielmehr das ganze Leben, die ganze Breite menschlichen Wirkens und Daseins mit allen Nebenumständen, allen Nebenstimmungen in gleichmäßig heller Beleuchtung. Seine freundliche Ansicht der Dinge gewährt auch dem Unscheinbarsten ein Dasein im Ganzen und er verweilt gern dabei. Mit göttlicher Unparteilichkeit und Unbefangenheit gibt Homer jedem Gegenstande, dem größten wie dem kleinsten seinen Namen und sein Recht; nachgiebig und milde hebt er jede zur Seite sich anschließende Beziehung hervor, sie mag wichtig oder unwichtig sein, und sich ganz hinter der von ihm geschilderten Welt verbergend läßt er alles und jedes sich in seinen eigensten Tönen aussprechen und nach seiner eigensten Form und Stelle in das reiche und mannigfache Bild einfügen. In dem weiten Umfang seines anschauenden Geistes und in der gleichmäßigen Wärme seiner Teilnahme ist nichts als störend, überflüssig oder unbedeutend ausgeschlossen. Er berichtet uns nicht bloß, wie seine Helden hassen, lieben und kämpfen, sondern auch, wie sie die Sohlen anlegen und über das Unterkleid den Mantel werfen; er zählt uns alle Stücke der ehernen Rüstung auf von den Beinschienen bis zum Haarbusch des Helms, ebenso alle Polster und weicheren wollenen Teppiche des Bettes; er folgt der Mahlzeit in allen ihren Teilen, die Helden waschen sich die Hände, sie erhalten alle gleiche Portionen Fleisch zugeteilt, die Herolde mischen den Wein mit Wasser und gießen aus dem Mischkessel jedem Gaste das Getränk in den kleineren Becher u. s. w. Treten im entscheidenden Moment der Schlacht zwei Kämpfer einander gegenüber, schon ist die Lanze gehoben, so hat der Dichter doch noch Zeit und heitere Seelenruhe genug uns mit den bisherigen Schicksalen des einen oder des andern bekannt zu machen, wo er bisher gelebt, wer seine Mutter und sein Vater gewesen, ja wie dessen Vater geheißen und wo und wie alt er gestorben sei. Ganz von dieser epischen Ruhe sind auch Homers Dialoge, die Wechselreden der Helden und der Götter unter einander durchdrungen. Sie mögen in heftiger Leidenschaft mit einander streiten oder sie mögen Befehle geben und empfangen oder prahlend mit einander im Wortkampf wetteifern oder in Todesnot um Rettung flehen oder forschen oder erzählen, immer ist es der langsame, ruhig strömende Fluß, der nirgends anhält, aber auch nirgends mit stürmischer Gewalt fortdrängt.

Скачать книгу