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und gibt der Aesthetik fruchtbare Gelegenheit, ihre allgemeinen Prinzipien daran zu messen.

      Hermann und Dorothea ist ein Epos oder, wie Jean Paul es noch näher bezeichnet, ein episches Idyll. Wir werden also, um dem Gedicht seine Stelle, gleichsam seine substanzielle Heimat anzuweisen, im folgenden uns ausführlich daran erinnern müssen, welches das Wesen und die Gesetze der epischen Dichtung überhaupt sind; wir werden dann zu Goethe zurückkehren und finden, daß er durch eine einzige Gunst der Natur ganz zum epischen Dichter geboren war und daß das Wesen seiner Dichtung mit dem Wesen der epischen Dichtung auf das glücklichste zusammenfällt. Wir werden darauf zusehen, ob die Zeit und Nation, in welche der Dichter fiel, dem Epos günstig war oder nicht, welches sein Verhältnis zu den großen politischen Begebenheiten von damals und zu der ihn umgebenden nationalen Welt war, ob es leicht war hier einen epischen Stoff zu finden und ob der Dichter eine glückliche Wahl dabei getroffen. Wir werden dann weiter die Begebenheit selbst, die der Dichter uns erzählend vorführt, die Personen und Charaktere, die er in Handlung setzt, sowie die ganze Art der Darstellung und Behandlung näher ins Auge fassen. Auch die Diktion, der sprachliche Ausdruck, der Versbau gehört zur Charakteristik des Gedichts, sowie zum Schluß die Begleichung mit den beiden epischen Vorgängern unsres Gedichts in der deutschen Literatur, ich meine mit Klopstocks Messias und Voßens Luise dazu dienen wird, die Eigentümlichkeit und den Wert unsres Gedichts ins Licht zu setzen. Dies also der Faden, an dem unsre Betrachtung fortlaufen wird.

      Die inneren Gesetze der epischen Poesie werden wir nirgends sicherer erkennen und in reinerer Gestalt wiederfinden können, als bei dem Vater aller epischen Poesie, dem alten Homer. Das glückliche Volk der Griechen war ja so künstlerisch und poetisch organisiert, daß bei ihnen die einzelnen Gattungen der poetischen Idee sich in naturgemäßer Stufenfolge eine aus der andern entwickeln und sich selbst ihre notwendige Form erschufen, so daß die inneren Momente des Begriffs nirgends so rein mit der Wirklichkeit, die Poetik mit der Geschichte der Poesie zusammenfällt. Goethe selbst hatte, indem er Hermann und Dorothea dichtete, den Homer als Vorbild vor Augen und so ruft er eben mit Bezug auf seinen Hermann:

      Denn Homeride zu sein, auch nur als letzter, ist schön.

      Wir werden also, indem wir die Grundzüge der epischen Poesie entwerfen, dies immer im Hinblick auf Homer thun.

      Epos, Wort, Sage ist die Poesie im Kindheitsalter der Völker, in den Anfängen der Geschichte. Die epische Poesie blüht in jener Morgendämmerung, wo ein Volk schon aus der Wildheit und Stumpfheit des ersten Naturdaseins zum Geiste erwacht ist, wo aber die geistigen und sittlichen Mächte noch nicht als etwas Bewußtes, klar Erkanntes und als eine abgesonderte feste Gewalt dem Menschen gegenüberstehen, sondern dieser auf ganz naive Weise mit dem sittlichen Gebot noch eins ist. Es gibt in dieser Periode zwar schon ein Staatsleben, aber noch nicht in Form bestimmter Gesetze und fester Rechte, die die Freiheit des Einzelnen zügeln. Jeder trägt vielmehr die politische Sitte in seiner eignen Brust und, indem er ihr folgt, weiß er nicht, daß es anders sein könnte. Gesetz und Empfindung sind noch nicht geschieden und die Empfindung ist es eben, die den politischen Zustand geschaffen hat. So ist Agamemnon zwar König, aber diese Herrschaft beruht auf keinem geschriebenen Gesetze. Wenn er den besten Anteil von der Beute erhält, so versteht sich dies bei jedem von selbst. An welchem Punkte seine Macht aufhört und die der Aristokratie, der Geronten und Basileis beginnt und die letztere wieder durch die Volksversammlung beschränkt wird, dies ist nicht durch feste Satzung bestimmt, sondern durch das Allgemeingefühl der Einzelnen von selbst gegeben. Eine durch Reflexion bestimmte, durch Beratung zu stande gebrachte geschriebene promulgierte Verfassung gibt es nicht; die politische Ordnung hat keinen andern Boden als die unbefangene Gesinnung aller. Ebenso ist auch das Recht und die Rechtspflege nicht eine für sich bestehende Welt; die Bestimmungen derselben sind schwankend; es hat keine andre bindende Form, als die ihm durch das unmittelbare Volksleben, durch das Rechtsgefühl und den Billigkeitssinn gegeben wird. Hat einer z. B. einen Mord begangen, was bei dem frischen Dasein der homerischen Menschen nichts Seltenes ist, so sucht er die Familie des Getöteten durch eine Buße zu versöhnen oder er verläßt fliehend die Heimat: eins oder das andre macht ihm die Sitte zur Pflicht. Streiten zwei um ein Gewicht Goldes, so bildet das Volk im Freien einen Kreis, die Greise als Richter sitzen auf erhöhten steinernen Stufen, das Szepter als Zeichen richterlichen Ansehens und erfahrener Weisheit in der Hand: hin und her wird gestritten, das Volk fällt von beiden Seiten schreiend ein, die Herolde gebieten Ruhe; endlich geben die Greise nach eigenem Sinne und unmittelbarem Wahrheitsgefühl die Entscheidung. So ist auch das Kriegswesen der homerischen Zeit ohne äußerlich zwingende Norm und gestaltet sich aus dem Grunde des in allen Teilnehmern lebenden kriegerischen Sinnes. Keine Disziplin braucht wie in späteren Zeiten die widerstrebende Willkür der Individuen zu zügeln; wenn sich die Reihen fest zusammenschließen, wenn ein Kämpfer dem andern hilft, wenn um den Leichnam des Gefallenen die Ueberlebenden rettend und schirmend sich scharen, so geschieht dies nicht nach Befehl, sondern durch eine innere Nötigung, die jeden von selbst drängt. So handelt in diesem epischen Zeitalter das Individuum ganz naiv und unbewußt nach dem Zuge seiner Menschlichkeit; es ist von dem Volksgeist in allem, was es thut und fühlt, bestimmt und in den allgemeinen Mächten, die das Leben und die Sitte bilden, völlig enthalten. Es sind mit einem Worte objektive, substanzielle Menschen. So wie nun in einer späteren Periode der Geschichte die Trennung des Subjekts von der Substanz vor sich geht, treten wir aus der spezifisch epischen Welt heraus. Das Gemüt und die Gesinnung des Einzelnen sind nicht mehr im Einklang mit dem Geltenden: was früher bei seinem Thun eine innere Notwendigkeit war, das steht ihm jetzt gegenüber als ein moralisches Gebot; es gibt feste Rechte und Gesetze, die sich dem Gefühl des Einzelnen als Schranke entgegensetzen; der Staat tritt auf als eine bestimmte Verfassung mit besondern Satzungen, geschaffen durch Gesetzgeber; letzterer freilich faßt auch nur die geltende nationale Empfindung in Sätze und Formeln, dennoch ist schon diese Form des geschriebenen Gesetzes die erste Stufe der Reflexion; das poetische Gesamtleben der episch-heroischen Zeit wird zu einer prosaischen Ordnung der Dinge. Wird nun das in sich gebrochene Gemüt, das aufgehört hat ein totales zu sein, in sich selbst zurückgetrieben, um dort in subjektiven Empfindungen und Betrachtungen zu weilen, so gibt diese Beschäftigung des Subjekts mit sich selbst der lyrischen Poesie Entstehung; drängt es umgekehrt den Zwiespalt mit der bestehenden Welt nach außen und sucht praktisch und handelnd sein Inneres in der objektiven Welt geltend zu machen, so führt dieser Kampf individueller Zwecke und Charaktere mit den allgemeinen objektiven Mächten zur dramatischen Poesie.

      Wie aber in der Periode des Epos die Kräfte des Menschen überhaupt noch in Einheit sind, so ist auch sein sinnliches Dasein noch nicht von dem geistigen unterdrückt. Die homerischen Helden sind ganze volle, zugleich herrlich sinnliche und edel geistige Menschen, stehen im engen Verkehr mit der äußern Natur, und die physischen Bedürfnisse und deren Befriedigung gelten ihnen eben so sehr, als wir sie zu verhüllen streben. Essen und Trinken ist in ihrem Lebenslauf keine Nebensache, und die äußeren Verrichtungen, die dazu nötig sind, stehen nicht unter ihrer Würde. Der Held schlachtet selbst seinen Ochsen und zerlegt und reinigt ihn und brät das Fleisch; der Sessel, auf dem er sitzt, das Bett, in dem er schläft, die Matten, Segel und Ruderbänke des schnellen hohlen Schiffes, mit dem er übers Meer gekommen, sein Helm, sein Schild, sein Panzer und der Speer, mit dem er sich zur Schlacht wappnet, der Wagen, mit dem er über die troischen Gefilde eilt, die Zügel, die Pferde — alles dies gehört wesentlich zum Kreise, in dem seine Persönlichkeit gegenwärtig ist. Und indem er in diese sinnlichen Beschäftigungen und physischen Bedürfnisse sein ganzes Ich hineinlegt, werden diese Verrichtungen selbst geadelt und gleichsam menschlicher. Für uns arbeiten Maschinen und Fabriken; wir beteiligen uns an den sinnlichen Geschäften nur halb, unser edleres Selbst ist nicht dabei zugegen; Diener thun es für uns hinter unserm Rücken; Handwerker verfertigen unser Gerät; die Speisen kommen uns künstlich bereitet schon zu und diejenige Klasse, die sich mit jenen Verrichtungen abgibt, hat dafür den geistigen Adel eingebüßt, den die homerischen Menschen bei all ihrem Thun bewahren. So macht es jetzt einen rührenden Eindruck auf uns, wenn Penelope, die Fürstin von Ithaka, und Helena, die Gattin des Königssohnes Paris, selbst ihr Gewand weben, daß Nausikaa selbst am Meeresufer mit ihren Mägden ihre Kleider wäscht und trocknet. Wenn von dem einen Helden gerühmt wird, daß die Beredsamkeit von seinen Lippen geflossen wie süßer Honig (ein sehr geistiges Lob), so preist der Dichter dafür andre wegen ihrer mächtigen Stimme, wegen der Schnelligkeit ihrer Füße und der Kraft,

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