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Gerne wäre sie noch einmal im Atlantik geschwommen, die tosende See hielt sie jedoch davon ab. Vanessa schaute sich um. Nur der Aussteiger saß in der Grotte, den Blick in die Ferne gerichtet. Aber er wohnte ja hier. Für längere Zeit auf jeglichen Luxus zu verzichten, musste ein nachhaltiges Erlebnis sein. Es gehörte sicher Mut dazu, alles hinter sich zu lassen.

      „Am besten setze ich mich heute Nacht an den Strand. Dann kann ich vielleicht nachvollziehen, wie es ist, hier zu leben“, dachte sie. Ihr war aber bewusst, sie würde niemals ganz loslassen können. Besonders schwerfallen würde es ihr, den ganzen Tag mit niemandem zu reden. Gutes Essen und ab und zu ein Glas Wein würden ihr ebenfalls fehlen. Aber jetzt war Vanessas Chance gekommen, sich so gut wie möglich vom Überfluss loszueisen.

      Sie dachte über die vergangene Woche nach. Obwohl sie sich vorgenommen hatte, sich die Sehenswürdigkeiten von Lagos anzuschauen und ausgiebige Spaziergänge ins nahe gelegene Naturschutzgebiet zu unternehmen, hatte sie sich ausschließlich an der Praia da Dona Ana aufgehalten. Sollte sie den Urlaub nicht ein oder zwei Wochen auf Tonis Kosten verlängern? Vielleicht würde er ihr sogar noch ein paar freie Tage gönnen. Aber nein, das konnte sie nicht bringen. Sie würde am nächsten Tag wie geplant nach Deutschland zurückfliegen. Eine Rückkehr nach Lagos schloss sie allerdings nicht aus. Jetzt hieß es erst einmal Abschied nehmen.

      Vanessa erhob sich, drehte sich einmal im Kreis. Versuchte, sich jeden Zacken und Winkel der Bucht einzuprägen.

      „Wie werde ich diesen Ort vermissen! Wenn die Hektik im Alltag zu heftig wird, muss ich mich in Gedanken hierherbeamen“, dachte sie.

      Sie hatte den Strand auf unzähligen Fotos verewigt, um Evelyn neidisch zu machen. Das Meeresrauschen und die Rufe der Möwen gaben die Bilder jedoch nicht her.

      Den Aussteiger würde Vanessa ebenfalls vermissen. Wie gerne hätte sie ihn gefragt, warum er so zurückgezogen lebte. Wie alt mochte er sein? Vermutlich wesentlich jünger, als er aussah.

      Als die Sonne verschwand, unternahm Vanessa einen letzten Spaziergang. Der Mann hockte inzwischen tief in der Höhle. Sie konnte nur seine Silhouette sehen. Der Hund lag im Eingang und sah in ihre Richtung. Wie gerne hätte sie ihn gestreichelt.

      Eilig packte sie kurz darauf ihre Sachen, klemmte sich die Tasche unter den Arm und betrachtete ein letztes Mal die gigantische Felswand. Oben am Weg erblickte sie fünf bis sechs Jugendliche, die über eine Absperrung geklettert waren. Einer stand mit dem Rücken zum Abgrund und hielt ein Handy in die Höhe. Er trat einen Schritt zurück. Rutschte ab. Eine Frau kreischte. Der Typ hatte sich auf einen Vorsprung gerettet. Wenn der abbrach, würde er in die Tiefe stürzen.

      Vanessa griff zum Smartphone, jederzeit bereit, einen Notruf abzusetzen. Die anderen eilten ihm zu Hilfe, vorsichtig genug, um sich nicht ebenfalls in Gefahr zu begeben. Es gelang ihnen, den Verunglückten auf die sichere Ebene zurückzuziehen.

      Sie ärgerte sich über das leichtsinnige Verhalten. Schaute noch einmal Richtung Höhle. Winkte dem Hund zu. Dann stieg sie die lange Treppe hinauf.

      *

      10

      Leon zog sich früher als sonst in die Höhle zurück. Der Sturm war inzwischen so heftig, dass er es auf dem Plateau nicht mehr aushielt.

      Kaum hockte er in seinem Reich, erschien die Frau am Strand. Außer ihr hielt sich niemand in der Bucht auf. Sie ließ sich von dem Sturm nicht beirren und setzte sich in den feuchten Sand. Immer wieder blickte sie sich um, betrachtete die Felsen. Nahm sie Abschied?

      Er erinnerte sich, wie sie vor ein paar Tagen mit Sparky gesprochen hatte. Leon hatte in dem Moment das Bedürfnis verspürt, mit ihr zu reden. Wie lange hatte er nicht mehr mit einem Menschen unterhalten?

      „Sparky, ich bin eigentlich nicht für die Einsamkeit geschaffen“, flüsterte er. „Werde ich jemals wieder unter Leute gehen können? Eine Partnerin finden?“ Männer und Frauen passten gut zusammen, das hatten ihm seine Mutter und Pepe jahrelang vorgelebt.

      Die Urlauberin erhob sich. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie die Bucht verlassen würde.

      Leon griff sich das Angelzeug. Wollte die Frau noch einmal aus der Nähe sehen. Dieses Mal würde er nicht davonlaufen, wenn Sparky den Kontakt zwischen ihnen herstellte.

      „Auf geht’s“, rief er. Der Hund flitzte zum Höhlenausgang.

      Plötzlich ertönten laute Stimmen von oben.

      Was war da los?

      Wahrscheinlich handelte es sich um unvorsichtige Spaziergänger, die an der Kante herumkletterten. Soweit Leon es mitbekommen hatte, war hier zum Glück noch nie jemand abgestürzt.

      Er machte einen Rückzieher. Beschloss, abzuwarten, und beobachtete stattdessen die Frau. Ihr Blick haftete auf einer Stelle oberhalb der Höhle. Sie schien zunächst verwundert, dann entsetzt. Zückte ihr Handy.

      Erst nach einer guten Weile entspannte sich ihre Miene wieder. Die Stimmen der Leute waren verstummt.

      Leon wollte runter an den Strand. Die Frau winkte und lächelte. Meinte sie ihn? Nein, das Lächeln galt Sparky, der ebenfalls in ihre Richtung schaute. Mit erhobenem Kopf eilte sie davon.

      *

      11

      Vanessa ließ den Tinto Douro die Kehle hinunterlaufen. Eine wohlige Wärme breitete sich in ihrem Körper aus. Vor zwei Jahren hatte sie ein Weinseminar besucht und sich unter anderem Kenntnisse über die Vielzahl der portugiesischen Rebsorten angeeignet. Anlässlich ihres letzten Abends in Lagos hatte sie sich eine Flasche des fabelhaften Roten bestellt. Sie hob das Glas erneut und sagte leise: „Auf Toni und Manu. Werdet glücklich miteinander!“

      Sie ging zum Büfett, das eine gelungene Mischung aus lokalen Spezialitäten und internationalen Gerichten bot. Wer wusste schon, wann sie noch einmal dermaßen schlemmen konnte.

      Nach dem Verzehr einer Gazpacho stellte sie sich einen Teller mit in Öl und Knoblauch eingelegten Karotten, Schafsmilchkäsehäppchen und Spinatpasteten zusammen. Vanessa bevorzugte vegetarische Speisen. An den Fischgerichten wie Bacalhau, Robalo und Sargo kam sie jedoch nicht vorbei. Zum Nachtisch gönnte sie sich ein Pastéis de Nata, ein in Blätterteig gebackenes Sahnepuddingtörtchen.

      Der Kellner, der ein weißes Schild mit der Aufschrift Isolino auf dem schwarzen Hemd trug, war an diesem Tag offensichtlich nur für ihren Tisch eingeteilt. Schenkte ihr abwechselnd Wasser und Wein nach, räumte das Geschirr weg, wenn sie sich den letzten Bissen auf der Zunge zergehen ließ, und brachte in Rekordzeit einen Espresso. Zum Abschluss der köstlichen Mahlzeit servierte er einen Medronho, einen Obstbrand, und zwinkerte ihr zu.

      Sie betrachtete seinen Bizeps. Sollte sie sich demnächst in einem Fitnesscenter anmelden? Wichtiger waren die Jobsuche und der Umzug. Per Voicemail hatte sie Evelyn am Vortag mitgeteilt, dass sie das Angebot, bei ihr einzuziehen, annehmen werde.

      Satt und zufrieden verließ sie das Restaurant. Als sie auf den Aufzug wartete, legte sich eine Hand auf ihre Schulter. Sie zuckte zusammen und drehte sich um. Der Mund des Kellners näherte sich ihrem Ohr. Er flüsterte: „Please meet me in front of the hotel at midnight“, und war schon wieder verschwunden.

      Vanessa bekam eine Gänsehaut. Warum wollte er sie treffen? Bestimmt nicht, um ihr die Stadt zu zeigen oder ihr seine Schwester vorzustellen. Sie checkte die Uhrzeit auf dem Smartphone. Noch zwei Stunden bis Mitternacht. Sie beschloss, einen allerletzten Abstecher an die Praia da Dona Ana zu machen. Vielleicht träfe sie am Strand auf den Aussteiger. Sie wollte so gerne wissen, warum er in der Höhle lebte. Bei dem Gedanken, er säße entspannt am Feuer, grillte sich Fische und redete mit dem Hund, wurde ihr warm ums Herz.

      Vanessa eilte in ihr Zimmer, tauschte die Pumps und das kurze Schwarze gegen flache Schuhe, Flickenjeans und einen Pullover. Darüber zog sie eine Steppjacke. Dann verließ sie das Hotel.

      War

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