Скачать книгу

erst durch einen Schleier dringen zu müssen, bevor das Mädchen sie wahrnahm. Dann nickte sie und nahm die Hose.

      Tom drehte sich um, während er wartete, bis sie sich angezogen hatte. Nach einer Weile wagte er sich wieder umzudrehen. Das Mädchen wirkte wie zerstört. Desolat blickte es mit trüben und leblosen Augen auf die Leichen der beiden Vergewaltiger am Boden. Keine Regung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Es schien, als würde sie irgendwo weit, weit weg sein.

      »Kannst du gehen?«, fragte Tom, aber sie ignorierte ihn. Er wartete eine Weile, bevor er sich sicher sein konnte, dass das Mädchen nicht reagieren würde. Dann legte er seine Hand auf ihre Schulter. Sie zuckte sofort weg, als wären seine Finger elektrisch geladen und hätten ihr gerade einen Schock verpasst.

      Dann geschah alles recht schnell. Sie beugte sich nach unten und packte die Taschenlampe, die noch am Boden gelegen hatte. Sie nahm sie auf und verschwand. Sie drehte sich nicht um, sagte kein Wort, sondern ging einfach.

      Tom blickte ihr etwas irritiert hinterher, stirnrunzelnd, ob er ihr folgen sollte oder nicht. Er machte einen Schritt hinter ihr her, blieb dann jedoch zögernd stehen. Letztlich konnte er doch nichts mehr tun, dachte er sich.

      Er schaute wieder auf die Leichen der Jungen. Sofern sie wirklich schon tot waren, was er nicht mit Sicherheit sagen konnte. Am Ende waren sie alle Leichen – manche hatten nur noch einen Puls, wie er und das Mädchen.

      Es tat ihm leid. Nicht, dass die beiden bald tot sein würden, sondern mehr, dass sie in solch einer Welt hatten leben müssen. Sie hatten sicher Träume gehabt, Hoffnungen und Ziele, die von «Bright Bob« allesamt zerstört worden waren. Er war sich sicher, dass der Mensch im Innersten gut war, genau wie diese beiden. Es waren die Umstände, die sie zu solch einer brutalen Tat getrieben hatten.

      »Jetzt geht es euch besser«, sagte er sanft, auch wenn er sich nicht des Gefühls erwehren konnte, dass er irgendwie gerade gelogen hatte.

      Vielleicht war es dieses Mal richtig gewesen, so zu handeln. Vielleicht.

      Auch er drehte sich weg und ließ die beiden zurück. Mit der Taschenlampe in seiner Hand hatte er es entschieden leichter, wieder seinen Weg zurückzufinden. Schnellen Schrittes folgte er den Gängen in Richtung der Kassen und somit zum Ausgang.

      Als er dort ankam, blieb er kurz stehen. Das Monster, welches sich davor recht leise verhalten und vielleicht das Spektakel genossen hatte, meldete sich nun noch vernehmlicher wieder und Tom wollte diesen Forderungen nur zu gerne nachkommen.

      Er ging von Kasse zu Kasse und untersuchte die Regale, ob irgendwo noch eine Schachtel Zigaretten lag. Es war die achte von insgesamt zehn Kassen, an der er fündig wurde. Nicht im Regal, sondern am Boden davor lagen vier Schachteln. Sie waren etwas platt getreten worden, aber schienen noch intakt zu sein.

      »Rauchen kann tödlich sein.« Tom lachte kurz auf. Das war nun nicht mehr tragisch, dachte er sich. Er zündete sich die erste Zigarette direkt im Laden an und ließ den Kegel der Taschenlampe nochmals über die leergefegten Regale wandern.

      Das gesamte Geschäft wirkte, als hätte man vorgehabt, es einer Grundreinigung zu unterziehen. Alles war rausgerissen worden und nichts, absolut gar nichts mehr übrig. Die Regale waren bis auf den letzten Artikel leergefegt. Für ihn, der er sein gesamtes Studium Symbole und Riten gedeutet hatte, war dies hier ein besonderes grausames Symbol: der Untergang der westlichen Welt. Alles, was diese Welt so komfortabel gemacht hatte, war geklaut worden, um vielleicht noch ein bisschen länger an diesem Lebensstil festzuhalten.

      Er zog an der Zigarette.

      Die beiden Jungs würden, falls sie wieder zu sich kämen, sicher den Weg hier raus finden. Es würde dauern, aber das würde dann bedeuten, dass sie die letzten Stunden ihres viel zu kurzen Lebens wenigstens nicht mit weiteren Gräueltaten verbringen würden.

      Wenn sie noch leben sollten.

      Mehr konnte er in dieser Situation nicht für sie tun.

      Dann drehte er sich um. Die Taschenlampe legte er auf ein Förderband und ließ sie dort liegen. Sie strahlte bis zum Ende der leeren Regale.

      Seine Finger begannen zu zittern, als ihm klar wurde, was gerade passiert war.

      Die Regale waren leer.

      Er hörte ein leises, metallisches Pochen hinter sich. Er musste sich nicht umdrehen um zu wissen, dass es dieses junge Mädchen war, das gerade die Rolltreppe hochging.

      Wo würde sie wohl hingehen? Zu ihren Eltern, zu einer Freundin? Es tat ihm in der Seele weh, wenn er sich überlegte, dass dieses arme Ding seine letzten Stunden mit dem Gewissen verbringen musste, dass es gerade vergewaltigt worden war.

      Die Welt war ein grausamer Ort.

      Tom und Chris

      Gedanken, vor allem schlechte, können wie Krebs sein. Sie beginnen zuerst winzig, auf einer Mikroebene, können sich dann jedoch immer weiter ausbreiten, bis sie einen in den Wahnsinn bzw. in den Tod führen.

      Tom wusste das. In den letzten Monaten hatte er sehr oft erleben müssen, wie ihn eine schreckliche Erinnerung immer und immer wieder gejagt und gequält hatte, bis ihm Pfarrer Wutknecht einen Gedankentipp, wie er es genannt hatte, gegeben hatte.

      »Stellen Sie sich ein riesiges Lager vor«, hatte er begonnen. »Eine Lagerhalle, mit Abertausenden von Paketen, die sich bis unter die Decke stapeln. Das sind Ihre Gedanken. Es liegt an Ihnen, Ordnung in dieses Chaos zu bringen. Nun stellen Sie sich einen Logistiker vor, der über dieses Chaos Herr ist und weiß, wo welche Gedanken sind. Er muss sie folglich nur abrufen. Und nun gehen Sie noch einen Schritt weiter: Wenn Ihre Gedanken Pakete sind und Sie der Logistiker, dann sind es auch Sie, der dafür zuständig ist, wo die Pakete stehen. Daher stellen Sie Ihre belastenden Gedanken, wenn Sie sich nicht mit Ihnen beschäftigen wollen, so weit nach hinten, wie es Ihnen irgendwie möglich ist. Sie sind immer noch da, aber sie müssen nicht sofort bearbeitet werden. Irgendwann können Sie sie dann bearbeiten, wenn Sie sich bereit fühlen.«

      Was weder Tom noch Pfarrer Wutknecht wussten, war, dass, als der Pfarrer diese Technik von einem Psychologen beigebracht bekommen hatte, in diesem selben Seminar Chris gesessen und diesen ebenfalls Ausführungen gelauscht hatte. Die Welt war klein.

      Tom hatte ihn verwirrt angeschaut und Pfarrer Wutknecht hatte gesagt: »Wissen Sie, der Dienst an Gott ist das erfüllendste, was ich mir vorstellen kann. Gleichzeitig ist es ein ungeheurer Kraftakt. Manchmal muss man sich einfach Zeit für sich nehmen, sonst würde man es nicht schaffen. Sie müssen sich auch mit schlimmen Dingen beschäftigen, derzeit mehr als irgendwer sonst. Aber Sie dürfen darüber nicht sich selbst vergessen. Kümmern Sie sich um Ihre Dämonen, aber nur dann, wenn Sie dafür bereit sind, es mit ihnen aufzunehmen.«

      Daher stellte sich Tom dies gerade bildlich vor, während er auf den roten Stufen des Einkaufszentrums saß und mit leicht zitternden Fingern seine Zigarette rauchte. Das Adrenalin pumpte immer noch durch seine Venen, als in seinem Kopf der Logistiker Tom das Geschehene nahm und in ein großes, rotes Paket packte, auf dem in Neonlettern »VORSICHT GEFAHR« stand. Dann nahm er dieses Paket und trug es in die hinterste Ecke des Lagers, wo er es ablegte, zu all den anderen roten Paketen. Es waren nicht mehr so viele, wie es schon gewesen waren, genau genommen nur noch eines.

      Beide würde Tom nicht öffnen wollen. Wenn es gut lief, dann würden diese Pakete in der Halle liegen, bis es zu Ende wäre.

      »Hey Pfaffe! Hock nicht so faul rum und hilf mir lieber!« Fast schon schuldbewusst zuckte Tom zusammen und drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Ein Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Sein Logistiker drehte gerade um eine Ecke und verschwand mit dem Paket.

      »Wenn das mal nicht der Rettungsgispel ist!«, lachte er und ging auf Chris zu, der gerade die Straße entlangkam, eine Kiste Bier in den Händen.

      Die beiden Männer trafen sich in der Mitte, Chris stellte die Kiste ab, dann umarmten sie sich.

      »Schön, dich zu sehen, mein Freund«, sagte Tom und meinte es so, wie er es sagte.

Скачать книгу