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Devolution. Ralph Denzel
Читать онлайн.Название Devolution
Год выпуска 0
isbn 9783941717190
Автор произведения Ralph Denzel
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Er kümmerte sich nicht um seine eigene Angst, sondern jetzt nur um seine Familie und seine Kinder. Noah wühlte dies zutiefst auf. Sein Magen verkrampfte sich schmerzhaft, als der Mann sich zu seinem Sohn beugte.
»Na, Captain Flo?« Er lächelte, obwohl ihm immer noch die Tränen über das Gesicht liefen. »Ready for take off?« Er grinste sehr gequält. Dem Kleinen entging das wohl nicht.
»Warum weinst du denn, Papa?«, fragte der Junge mit einem besorgten Unterton. Sein zuvor so fröhliches Gesicht war ernst geworden und Noah bemerkte, dass auch der Vater wieder nervöser wurde. Die Fassade bröckelte langsam wie alter Putz von einer Wand.
»Ach, das ist nichts«, winkte der Vater ab. »Ich – ich hab mir den Zeh angeschlagen, wie du letzte Woche, erinnerst du dich?«
Der Junge nickte. »Ja, das weiß ich noch. Das hat ganz wehgetan.«
»Ja, und dann hast du ein Eis bekommen, nicht wahr? Und dann war es schon fast wieder vorbei, erinnerst du dich?« Die Wörter sprudelten aus in einem unaufhaltsamen Schwall aus ihm heraus.
Das Wort »Eis« ließ den Jungen wieder lächeln. »Ja, das war lecker.« Er rieb sich über den Bauch und kicherte fröhlich.
»Genau. Und nachher essen wir alle Eis, Kumpel.« Er stockte und schluckte schwer. »Soooo viel Eis, bis uns die Bäuche wehtun. Dann sind wir aufgebläht wie ein Fass.« Der Mann hielt sich die Hände vor den Bauch und blähte seine Backen, um es dem Jungen plastisch zu zeigen. Nur seine Augen spiegelten die vernichtende Verzweiflung wider, jedoch schien die Emotion nicht greifbar für das kleine Kind vor ihm zu sein.
Sein Sohn, Flo hieß er, kicherte noch etwas lauter.
Noah war starr vor Bestürzung. Er wollte schreien, der Mann sollte es lassen, er sollte den Jungen leben lassen – aber wofür? In wenigen Stunden würden sie eh alle tot sein. Und wahrscheinlich war dieser Tod gnädiger.
»Also, du fliegst jetzt ein bisschen rum, aber nicht zu weit weg, damit ich dich noch sehen kann.« Er zögerte, zog die Nase hoch und sprach dann mit brüchiger Stimme weiter. »Währenddessen hole ich das Eis aus dem Keller und bereite es vor, damit es nachher leicht geschmolzen ist, wie du es gerne hast! Und dann wecke ich die Mama auf, damit sie dich fliegen sieht, ok?«
»Ich will Schoko! Und Erdbeere!«, sagte das Kind.
»Natürlich! Ich weiß …« Eine Pause. »Ich weiß …«
»Also.« Der Mann trat hinter den Jungen, umarmte ihn noch einmal zärtlich. Nach einer gefühlten Ewigkeit löste er sich und legte seine Hände auf die Schultern des Kindes. Noah sah die Lippen des Mannes beben und wie sein Gesicht kurz davor stand, komplett in einem erneuten Heulkrampf zu entgleisen.
»Ready for Countdown!«, verkündete er und das Kind klatsche voller Vorfreude auf das »Fliegen« und das Eis in die Hände. Nervös rutschte es auf der Balustrade vor und zurück.
»10, 9, 8, 7 …«
Noah war zu einer Salzsäule erstarrt. Das Grauen, was sich vor seinen Augen abspielte, war mehr, als er sich in seinen schlimmsten Albträumen hätte vorstellen können. Er wollte schreien, über diese gesamte verdammte Situation und über diese Ungerechtigkeit, die er hier gerade erleben musste. Er wollte brüllen, aus diesem Albtraum aufwachen – er wollte sofort tot umfallen. Wenn er sich vorstellte, dass er nun noch etwas über sechseinhalb Stunden leben musste, war dies eine unerträgliche Vorstellung für ihn – die Hölle hätte wohl nicht schlimmer sein können.
»6,5,4,3,2,1 …«
Die Zeit schien stillzustehen.
»Lift off.« Der Mann weinte diese Worte mehr als dass er sie aussprach, fiel in sich zusammen, als er seinen Jungen über die Brüstung schubste.
Für wenige Sekunden schien das Kind wirklich zu fliegen. Der Strick um seinen Hals schwebte in der Luft, genauso wie das Kind.
Er schwebte einem Engel gleich, ruderte mit den Ärmchen wie ein Vogel. Die Luft war erfüllt von Hitze, Staub und dem fröhlichen Jauchzen des Jungen.
Für wenige Sekunden schien die Welt ein schöner Ort zu sein und nicht ein riesiges Massengrab.
Das Seil spannte sich.
Das Jauchzen erstarb so ungemein plötzlich.
Noah spürte, wie jegliche Kraft aus seinen Beinen wich, genauso wie das Leben aus dem Gesicht des Jungen.
Wenigstens war sein Genick sofort gebrochen, genauso wie bei seinen Schwestern – nicht auszudenken, wenn der kleine Junge jetzt dort baumeln würde, in einem letzten grausamen Todeskampf, bis sein Körper den Sauerstoffmangel nicht mehr hätte kompensieren können und er dann endlich gestorben wäre.
Noah musste sich setzen. Wenn noch irgendwelche Drogenspuren in seinem Körper gewesen waren, jetzt waren sie aus seinem Körper geschwemmt worden. Er zitterte am ganzen Leib.
Er fühlte, wie jegliche Lebensgeister aus seinem Körper wichen.
Er würde genau hier bleiben. Ja, genau hier würde er sterben.
Genau hier.
Der Mann verließ den Balkon. Eine Tür wurde aufgeschoben. Noah hörte das nur. Von seiner sitzenden Position aus konnte man nur die drei baumelnden Kinder sehen, die der Größe nach in aufgereiht leise hin und her schwangen.
Dann hörte man nichts mehr.
Er würde nie erfahren, wie sich der Mann das Leben genommen hatte.
Nie würde er wissen, dass der Mann danach zusammengebrochen war, mehrere Stunden seinen Körper von Heulkrämpfen hatte schütteln lassen, bis er keine Tränen mehr gehabt hatte. Dann hatte er seine Kinder abgehängt, mit Flo hatte er begonnen. Die blauen Würgemale an den kleinen, zarten Hälsen hatten ihn fast verrückt gemacht. Nacheinander hatte er seine Kinder in das Elternschlafzimmer gebracht und sie auf das Bett neben ihre Mutter gelegt. Auch wenn er seine Frau für ihren Egoismus hasste, so war sie doch die Mutter seiner Kinder gewesen und für dieses Geschenk würde er ihr ewig dankbar sein.
Er hatte sich zwischen seine Familie gelegt, die kalten Körper, die langsam hart und steif wurden, und hatte sie gestreichelt. Er hatte nichts mehr von der Welt mitbekommen, die wenige Stunden später in einem gleißenden Feuerball zerstört wurde und ihn von all seinen Qualen befreite. Im Tod war die Familie zu einer großen Aschewolke verbrannt.
Es war nur ein Schicksal von Milliarden, welche meistens nach dem gleichen Muster abliefen. Die Menschen mussten ihre Familie zurücklassen, sich von ihr trennen – mit der Ungewissheit, wie es danach weitergehen würde, aber mit der Gewissheit, dass es in dieser Welt kein Wiedersehen mehr geben würde.
Es dauerte, bis Noah endlich wieder die Kraft fand, sich aufzurichten. Immer noch fühlte er sich, als sei jeder Muskel in seinen Beinen durch Gummi ersetzt worden. Die Eindrücke waren erschlagend gewesen.
Es hatte überall Selbstmorde gegeben. Millionen, Milliarden vielleicht.
Aber es war eine Sache, wenn man in den Nachrichten zwischen dem Wetterbericht und den neusten Eskapaden der Bundesregierung als Lückenfüller die Nachricht hörte, dass sich wieder eine Gruppe Verrückter vergiftet hatte und etwas ganz anderes, wenn man so etwas live sah und vielleicht das Blut in seiner Nase roch – oder das Knacken von Kinderhälsen hörte.
Er erinnerte sich noch gut, als es sicher geworden war, dass der Asteroid die Erde treffen und die Menschheit vernichten würde. Das öffentliche Leben war so lange weitergelaufen, wie es irgendwie möglich gewesen war, als würde nie etwas passieren. Doch irgendwann wurde den Menschen klar, dass dies nicht mehr lange so sein würde. Die Gesellschaft zerbrach nicht sofort und schlagartig, sondern bröckelte zuerst langsam vor sich hin, bevor sie wie ein Kartenhaus zusammenkrachte.
So war es auch zu erklären, dass man hier in Konstanz im Seestadion die Leichen hatte stapeln müssen, aus Platzmangel, denn die regulären Leichenhallen