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gerade noch rechtzeitig ins Auto springen, um dem Kranken auf der mehr als zweistündigen Fahrt Beistand zu leisten. Dort, wo Matomora etwa vier Jahre zuvor die ersten Weißen gesehen hatte, war von genau diesen Männern inzwischen eine einfache Krankenstation errichtet worden: zwei Räume mit vier Betten für Frauen und vier Betten für Männer, dazu eine Veranda, die als Ambulanz diente – das alles zwar ohne Strom und fließendes Wasser, aber immerhin mit einem häufig genutzten OP. In den brachte man den Großvater, und Dr. Stein, im Gegensatz zu Wobig ein »echter« Arzt und sogar ein ausgebildeter Chirurg, warf im Schein der großen Taschenlampe einen Blick auf den Großvater. Er betrachtete kurz seinen Bauch, fühlte seine heiße Stirn, sah in seine roten Augen – und begann sofort mit der Operation. Etwa zwei Wochen später fuhr ein Fahrer den vollkommen genesenen Großvater, jetzt auf der Rückbank sitzend statt liegend, wieder nach Kalulu. Ein Bruch mit einer strangulierten Harnröhre hätte den alten Mann ohne einen Eingriff wohl kaum noch zwei Tage überleben lassen.

      Die Freude im Dorf war groß – und das Erstaunen noch größer, als der Fahrer es ablehnte, für den eigenen Einsatz und den des »Daktaris« Geld zu nehmen. Nichts wollte er annehmen, selbst das wiederholte Händeschütteln schien er eher unwillig über sich ergehen zu lassen. Er gab sich Mühe, nicht grob unhöflich zu wirken, aber er machte sich doch los, sobald es möglich war, sprang in den Wagen und verschwand.

      Was blieb, war ein erstauntes Rätselraten, das die Dorfbewohner noch lange Zeit beschäftigte: warum nur waren diese Männer in ihre Gegend gekommen? Was hielt sie davon ab, Geld zu verdienen, wo sich doch die Gelegenheit bot? Welchen Hintergedanken hatten sie bei dem, was sie taten?

      Matomora hatte die Heimkehr des Großvaters verpasst, weil er die Ferien nutzen musste, um einige Meilen entfernt in einem anderen Dorf mit einem Ferienjob zu seinem Schulgeld beizutragen. Doch er rätselte genau wie alle anderen, nur dass er, der Weitgereiste, nicht beim ungläubigen Staunen bleiben wollte. Matomora nahm sich vor, der Sache auf den Grund zu gehen. Er würde fortan die Nähe der Weißen suchen und ihre Motive ergründen.

      Doch so bald bot sich keine Gelegenheit. Im Gegenteil: gegen Ende des Jahres sah es so aus, als würden alle Weißen das Land verlassen. Am 12. Dezember 1961, kurz vor dem Ende des Schuljahres, wurde Tansania unabhängig. Schon im Mai hatte Tanganjika eine Verfassung bekommen, Nyerere, ein Sozialist und Katholik, der in England studiert hatte, wurde erster Premierminister, aber erst im Dezember erlangte das Land die volle Unabhängigkeit. Aus der Verschmelzung der Worte Tanganjika, Sansibar und der historischen Bezeichnung Asania für diesen Teil Ostafrikas wurde das neue Wort Tansania zur Bezeichnung einer freien Nation gebildet. Am großen Tag stand Matomora auf einem Platz in Tunduru und lauschte einem Mann, der ein Gedicht vortrug. Das war es auch schon. Nicht einmal eine Fahne wehte, denn die Flagge des neuen Staates musste erst noch entworfen werden. Einen Staatsakt hatte sich Matomora anders vorgestellt, aber ihn bewegte ohnehin vor allem ein Gedanke: würden die Engländer und die anderen Weißen jetzt verschwinden? Würden sie bleiben? Oder würden manche gehen und andere bleiben?

      Ende Januar begann das neue Schuljahr. Und siehe da: in Songea fanden sich alle Lehrer ein, als wäre nichts geschehen: schwarze und weiße, Tansanier und Engländer, genauso wie einige wenige Amerikaner, die zum Lehrerkollegium gehörten. Matomora war erleichtert; die Spur der Weißen, auch der Deutschen, würde sich also vermutlich nicht so leicht verlieren. In Tansania schien ein sanfter Übergang in die neue Zeit zu gelingen.

      Noch eine zweite Überraschung erwartete die Schüler an diesem Januartag: die neue Regierung erließ allen das Schulgeld. Der Zugang zu Bildung sollte jedem Kind unabhängig von den finanziellen Möglichkeiten der Eltern offenstehen – ein hehrer Grundsatz, der sich jedoch nicht lange durchhalten ließ. Eines Tages war einfach kein Geld für Lehrer, Gebäude und Internate mehr da, und die Eltern wurden wieder zur Kasse gebeten – doch da war Matomoras Schulzeit schon vorbei.

      Gern wäre Matomora ja seiner Neugier, was die Motive der Deutschen anging, schon eher nachgegangen, aber erst in den folgenden Sommerferien bot sich dazu die Gelegenheit. Wieder einmal brauchte er einen Ferienjob (die gute Angewohnheit, in den schulfreien Wochen Geld zu verdienen, sollte er, so fand sein Vater, doch bitte beibehalten), und diesmal suchte er ihn gezielt in Tunduru, wo die Weißen inzwischen die Aufgabe übernommen hatten, das kleine, marode Krankenhaus auf Vordermann zu bringen – mit einem einzigen Arzt. Weil dieser Ort gut sechzig Kilometer von seinem Heimatdorf entfernt lag, musste Matomora eine Unterkunft finden. Und er fand sie wieder bei einem jungen Mann, bei dem er schon zweimal zuvor gewohnt hatte: Ali Saidi Ligombaji. Nur dass dieser plötzlich nicht mehr Ali Saidi, sondern Imanueli hieß. Als Ali Saidi war er market clerk gewesen, eine Art Steuereintreiber, der auf dem Marktplatz die angebotene Ware wog und vom Anbieter eine entsprechende Steuer einnahm. Zwei Sommer lang hatte Matomora ihn für jeweils sechs Wochen vertreten. Der Job war sehr begehrt und eine Art Auszeichnung, die er seinen guten Schulnoten verdankte. Im Dezember dann hatte sich jeweils ein zweiter Job angeschlossen: Zusammen mit einem messenger, der den eisernen Tresor trug, zog Matomora, den Tresorschlüssel in der Hosentasche, über die Dörfer, um bei den Bauern Steuern zu kassieren.

      Nun also, im Sommer 1962, stand er dem alten Bekannten, aber neubekehrten Imanueli gegenüber, einem der ersten getauften Christen im Tunduru-Distrikt. Und einen neuen Job hatte der auch: statt market clerk war er nun facility manager – Mädchen für alles auf dem Gelände der Weißen. Die Ankunft der Deutschen hatte Imanuelis Leben völlig umgekrempelt, merkte Matomora. Kaum hatte er seine Matte in Imanuelis kleinem Haus ausgebreitet, da erzählte der ihm schon begeistert von allem, was er im letzten Jahr erlebt hatte. Gleich bei der ersten Begegnung war es nicht nur der selbstlose Einsatz der weißen Männer für die ihnen völlig fremden, kranken Menschen gewesen, der Imanueli beeindruckt hatte, er verstand auch schnell, dass es ein anderer Glaube war, der hinter ihrem Engagement stand.

      An die Weißen heranschleichen brauchte Matomora sich jetzt wohl nicht mehr. Imanueli wurde für seinen jungen Untermieter in diesem Sommer zu einem Türöffner in eine neue Welt. Jeden Morgen ging Imanueli zur Morgenandacht der Missionare zu deren Haus hinüber. Die Brüder (so nannten sie sich) sangen und beteten auf Kisuaheli, so dass er der Andacht folgen konnte. Auch die Bibel wurde auf Kisuaheli gelesen.

      »Komm einfach mit«, sagte Imanueli zu seinem Gast, »am Sonntag kannst du dann sogar einen ganzen Gottesdienst erleben. Oder traust du dich nicht?«

      »Doch, doch. Warum sollte ich mich nicht trauen?«, antwortete Matomora, auch wenn ihm nicht allzu klar war, was dieses »Gottesdienst« wohl bedeutete. Er lachte. Sah er etwa aus wie ein Angsthase?

      Neugier und Vorfreude wuchsen auf der Stelle. So schnell also würde er die Missionare aus nächster Nähe erleben.

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