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Matomora Matomora. Hanna Schott
Читать онлайн.Название Matomora Matomora
Год выпуска 0
isbn 9783862567058
Автор произведения Hanna Schott
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
»Wenn du willst, kannst du ruhig noch ein paar Jahre zur Schule gehen. Wir kommen schon zurecht«, sagte sein Vater eines Tages.
Und ob er wollte!
Ende des Jahres 1955, kurz vor Beginn der Regenzeit, die das Reisen unmöglich machen würde, wechselte Matomora zur Mittelschule nach Mbesa, etwa 160 Kilometer von zu Hause entfernt. Ein Elfjähriger, der an einen Ort zog, den er zuvor noch nie gesehen hatte, um dort mit Kindern zu leben, die er nicht kannte und von denen manche eine andere Sprache sprachen als er, in einem Internat, dessen Regeln extrem streng waren und zur Not auch mit Gewalt durchgesetzt wurden. Seine Familie würde er fortan nur noch in den Ferien sehen. Und doch betrachtete er das alles nicht als Zumutung, schon gar nicht als Strafe, sondern als ein Privileg: er, Mohamedi, war kein kleiner Dorfjunge mehr, er war ein Mittelschüler, ein beschnittener, vollwertiger Muslim auf dem Weg zu Bildung und Ansehen!
KAPITEL 3
Primus
Mbesa war langweilig. Genauso langweilig wie Kalulu, eher noch ein bisschen langweiliger. Zu dieser frustrierenden Erkenntnis kam Matomora schon nach wenigen Wochen. Der Ort war zwar größer als das Heimatdorf, aber das Leben im Internat gehorchte viel strengeren Regeln als das Leben in der Familie. Wecken, Schlafsaal fegen, ein Marschlied singen und dabei in Zweierreihen zum Brunnen gehen, sich waschen, erste Unterrichtsstunden, süßer Maisbrei in der Pause, weitere Unterrichtsstunden, praktische Arbeit in Gruppen, Maisbrei mit Bohnen, Hausaufgaben, Schlafen. Wenn der Unterricht spannend gewesen wäre, hätte man das alles ja ertragen können. Aber das war er nicht. Der Drill war groß, die geistige Ausbeute gering. Matomora war unterfordert, aber dass jemand ausscherte oder gar so etwas wie eine individuelle Förderung bekam, war einfach undenkbar. Nicht nur die kurzen Khakihosen und weißen Hemden waren für alle gleich, auch Unterrichtsstoff, Tempo und pädagogischer Stil waren den Lehrern geradezu kasernenmäßig verordnet und duldeten keine Abweichungen.
Matomora war zwölf Jahre alt und ging seit einem Jahr auf die neue Schule, als sein Geduldsfaden auch schon riss. Im Frühstücks-Ugali, dem gesüßten Maisbrei, hatte er wieder einmal allerhand Lebendiges gefunden. Der Mais war von Ungeziefer befallen, und was da gekocht wurde, waren oft mehr Reste von Hülsen als Maismehl. Und offensichtlich waren auch die nicht lange genug gekocht worden.
Matomora setzte sich hin und schrieb seinem Vater einen Brief. »Hol mich hier raus! Ich will nicht in Mbesa bleiben. Es ist schrecklich in diesem Internat!«, war die kurze Botschaft, die er mit ein paar Beispielen dringlich machte. Viel Zeit für ausführliche Schilderungen blieb nicht, schließlich gab es für die Schüler kaum einen unbeobachteten Moment.
Auf eine Reaktion musste Matomora nicht lange warten. Allerdings reagierte nicht der Vater, sondern der Rektor der Schule. Zu einer Anstalt wie dieser gehörte natürlich auch die Zensur von Briefen. Das Schreiben des aufmüpfigen Schülers hatte das Schulgelände gar nicht erst verlassen, und die Strafe folgte auf dem Fuß: eine Schulversammlung wurde anberaumt, und Matomora musste sich vor aller Ohren anhören, wessen er sich schuldig gemacht hatte: er hatte Lügen verbreitet, und zwar über seinen Klassenlehrer, den Rektor, den Aufseher der Schulbehörde, den District Officer, die Kolonialregierung – ja, im tiefsten Grunde hatte er die Spitze des Staates angegriffen: die englische Königin!
Bei den ersten Sätzen des Rektors war Matomora erschrocken. Aber dass die Rede des Rektors mit grober Übertreibung und blankem Unsinn endete, das begriff auch ein Zwölfjähriger wie er. Und dass es wohl doch kein Hochverrat war, erkannte jeder an der Strafe: Matomora musste eine Woche lang die Affen vom Maisfeld vertreiben.
Einige Zeit später hatte der aufgeweckte Schüler eine weitere Erkenntnis: Weiße sind gar nicht weiß. Auf Englisch heißen sie nur so. In Wirklichkeit sind sie beige wie das Fell einer hellen Maus, manche auch eher rosa wie Mäusebabys, am Kopf und am Hals manchmal richtig rot. Ihre Hände haben innen und außen fast dieselbe Farbe. Das ist besonders seltsam.
Matomora war dreizehn Jahre alt und weiterhin Internatsschüler, als er das, was er über Wazungu, die Weißen, gehört hatte, zum ersten Mal mit eigenen Augen sah und auf seinen Wahrheitsgehalt prüfen konnte. Drei Männer gingen über den Platz zwischen dem Unterrichtsgebäude und dem Schlafsaal der Schule. Zusammen mit anderen Schülern stand Matomora am Rande des Platzes, leise kommentierten die Jungen, was sie sahen. Welche Sprache die drei Männer sprachen, konnten sie nicht ausmachen.
Am Abend dann eine Überraschung: die Weißen trugen ihr Gepäck in den Schlafsaal der Schüler. Nur zwei, drei Nächte sollten sie bleiben, dann würden sie im Ort ihr eigenes Quartier beziehen. Die drei waren gerade erst aus Europa angereist, hieß es: ein Engländer und zwei Deutsche. Offensichtlich sprachen sie außer Englisch und Deutsch auch Kisuaheli. Wo hatten sie das bloß gelernt?
Niemals hätte sich Matomora getraut, die Männer anzusprechen. Wie sollte er, einer von den vielen schwarzen Jungen hier, sich anmaßen, Fremden, die durch die halbe Welt gereist und sicher unglaublich reich waren, eine Frage zu stellen? So dreist war er nicht, auch wenn die Neugier ihn plagte.
»Die Weißen sind Missionare.« Das sprach sich auch so bald herum. »Christliche Missionare.«
»Und sie wollen in Mbesa bleiben.« Jeder hatte etwas gehört.
»Das glaube ich nicht. Sie werden bald wieder abreisen.«
»Warum glaubst du das?«
»Weil sie keine Frauen dabei haben. Wenn sie vorhätten dazubleiben, hätten sie doch ihre Frauen mitgebracht.«
»Vielleicht wollten sie erst mal schauen, wie es hier ist.«
»Dann werden sie also bald wieder abreisen.«
Alle grinsten. Traurig, aber wahr: die Gegend um Tunduru hatte schon innerhalb von Tansania einen schlechten Ruf. Das Ende der Welt. Warum sollten Leute, die sich doch mit dem Finger auf dem Globus irgendeinen schönen Ort aussuchen konnten, ausgerechnet hier wohnen wollen?
»Wir werden’s ja erleben; ich wette, dass sie bald weg sind.«
Die Weißen blieben. Und bald schon tauchten auch weiße Frauen auf. Wie es mit den merkwürdigen Gästen weiterging, konnte Matomora allerdings nicht mehr verfolgen, denn er wechselte zur Mittelschule nach Tunduru, der Hauptstadt des Distrikts. Die lag zwar nur gute sechzig Kilometer von Mbesa entfernt, aber in einer Weltgegend ohne Telefon und Zeitung, von Internet und Handy einmal ganz abgesehen, spielte es eigentlich keine Rolle, ob man sechzig, hundert oder zweihundert Kilometer voneinander entfernt war – man war von den Menschen, mit denen man eben noch gelebt hatte, abgeschnitten und konzentrierte sich schon nach kurzer Zeit auf die neue kleine Welt, die sich unmittelbar um einen herum auftat. Sich als Schüler zu Hause melden, um kurz Bescheid zu sagen, dass es einem gut ging? Unmöglich! Wer im Internat war, von dem hörte das Dorf und hörten die Eltern erst wieder etwas, wenn sie ihn auch wieder sahen: in den Ferien. Und selbst dann tauchten Jungen wie Matomora, die schon alt genug waren, um etwas Geld zu verdienen, nur kurz zu Hause auf, schließlich mussten sie einen Ferienjob finden, und im Heimatdorf gab es meist nichts zu verdienen.
Im kolonialen Tanganjika zahlte man Schulgeld, und die Lebenshaltungskosten im Internat mussten ohnehin beglichen werden. Aber wer das große Privileg hatte, einen Vater zu haben, der einen zur Schule gehen ließ, und außerdem gesund und kräftig war, der konnte sich nun wirklich nicht beklagen, wenn er in der unterrichtsfreien Zeit dann doch mal mit der Kraft seiner Muskeln statt mit purer Geisteskraft tätig werden musste. Dabei konnte es auch in der Schule nicht schaden, wenn man eine eher robuste Natur hatte. Nicht nur das Heimweh wollte ertragen sein, Schläge gehörten zu den ganz normalen Disziplinarmaßnahmen. Matomora trafen sie selten, denn er war ein braver und tatsächlich am Stoff interessierter Schüler. Seine Intelligenz fiel auf – was ihn allerdings bei den Mitschülern nicht unbedingt