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und entwarf still einen Plan: Nach dem Abschluss der Mittelschule in Tunduru wollte er nicht nach Hause zurück, sondern nur noch weiter weg und noch höher hinaus: in die Oberschule nach Songea. Nicht dass er dort schon einmal gewesen wäre oder dass er allzu genau gewusst hätte, was ihn dort erwartete. Aber Songea, das klang nach Stadt, nach Leben, nach Bildung. Auch etwas nach Abenteuer, schließlich war Songea ein Zentrum des Maji-Maji-Krieges gewesen. Anfang des Jahrhunderts hatten sich dort über zwanzig verschiedene Völker gegen die Deutschen verbündet. Sie hatten auf einen Wasserzauber gesetzt und verloren – das war leider wahr. Doch von ihrem Mut und von ihrer gewitzten Guerillataktik sprachen die Alten immer noch.

      1959 erlebte der Tunduru-Distrikt eine bildungspolitische Premiere: Achtzehn Schüler stellten sich der Aufnahmeprüfung für die Oberschule in Songea. Noch nie hatten es die »Landkinder« auch nur versucht, bis auf die entfernte Regierungsschule zu gelangen. Fünf Schüler bestanden die Prüfung, zwei wurden tatsächlich aufgenommen. Matomora war einer der beiden.

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       Das erste Foto, das es von Matomora gibt. Er ist zirka fünfzehn Jahre alt

      Saidi Matomora, sein Vater, machte aus seinem Stolz keinen Hehl. Sein Sohn, der Erstgeborene, würde eines Tages Lehrer oder Arzt sein! Denn eins von beidem würde er werden, nun, da er in diese Sphären aufstieg. Was für eine Perspektive: ein Lehrer oder Arzt in ihrer Familie, in ihrem Dorf!

      Auf dem Weg dorthin durfte man nicht knauserig sein. Ein Sack Mais kostete zehn Schilling, ein Jahr Schulbesuch 220 Schilling, also 22 Säcke. Ein durchschnittlich erfolgreicher Bauer erntete etwa drei Säcke im Jahr, aber er, der Händler, setzte täglich mehr als zweihundert Säcke im Laden um. Er konnte sich den Schulbesuch seines vielversprechenden Sohnes also durchaus leisten. Und doch fand er noch einen günstigeren Weg: im Auftrag der Kolonialregierung reiste gerade ein Engländer über die Dörfer. Er sollte herausfinden, in welchen Familien es begabte, förderungswürdige Schüler gab, deren Eltern sich den Schulbesuch ihrer Kinder jedoch nicht leisten konnten. Ihnen durfte er ein Stipendium oder zumindest eine finanzielle Unterstützung anbieten. Anders als erwartet, stellte sich das Verteilen der großzügigen Förderung allerdings als schwierig heraus.

      »Geschenktes Geld? Unserer Familie braucht niemand Geld zu schenken. Uns geht es gut. Wir haben alles, was wir brauchen, schließlich bestelle ich meinen Acker und habe ein paar Ziegen.«

      Die Bauern wollten vor dem Mzungu, dem Weißen, gut dastehen und taten alles, um ihre Lage in ein günstiges Licht zu rücken, so elend sie in Wirklichkeit auch sein mochte. Was sie dem Fremden gegenüber empfanden, war eine Mischung aus Angst und Ehrfurcht. »Vielen Dank, aber mein Sohn kommt schon klar. Vielleicht kann ein anderer Ihre Hilfe gebrauchen.«

      Der arme Engländer verabschiedete sich also und ging weiter, aber auch der Familie in der nächsten Hütte war sein Besuch offensichtlich unangenehm. Einen Tag lang zog er frustriert durch das Dorf – bis er vor Saidi Matomoras Hütte trat. »Ich bin ein armer Bauer und habe sieben Kinder«, log der. Wofür hatte er auf Sansibar den Umgang mit Weißen gelernt? Es gab Menschen, die wollten einfach betrogen werden. »Mein Sohn könnte auf die Oberschule gehen, er ist ein wirklich kluger Kopf. Aber schauen Sie sich um: Wie soll jemand aus unserem Dorf es bis nach Songea schaffen?«

      War dieser Mann tatsächlich ein Habenichts? Der Engländer blickte sich kritisch um. Zwischen dieser und der nächsten Hütte, die vermutlich auch noch der Familie gehörte, wuselten allerhand größere und kleinere Kinder herum; wie sollte er prüfen, wer hier zu wem gehörte und in welchen Verhältnissen lebte? Schließlich ließ er sich auf einen Kompromiss ein: den Habenichts ließ er dem beredten Vater nicht durchgehen, aber einen Teilsieg gönnte er ihm: von den 220 Schillingen jährliches Schulgeld für seinen besonders begabten Sohn erließ er ihm 140. Nur die restlichen 80 Schillinge würde er zahlen müssen.

      Wie gut, dass ich Händler geworden bin, dachte Saidi Matomora, als der Fremde das Dorf verließ.

      Matomoras neuer Lebensabschnitt begann mit einer Schuluntersuchung, wie man sie in Europa von der ersten Einschulung kennt. Es war keine besonders gründliche medizinische Untersuchung, aber doch eine, die bei dem angehenden Schüler der gymnasialen Oberstufe einen bleibenden Eindruck hinterließ. Bei dieser Untersuchung sah Matomora nämlich zum ersten Mal im Leben mit eigenen Augen einen Arzt, genauer: einen schwarzen Arzt, Dr. John Omari, dessen Namen er nie vergessen würde. Es ging also wirklich zusammen: schwarz sein und Arzt sein. Wenn das möglich war – warum sollte er, Matomora, es nicht schaffen?

      Fortan hatte er ein Ziel vor Augen, das noch weiter wies als Songea. Dabei konnte er sich selbst Songea nicht vorstellen: einen Ort, in dem zigtausend Menschen lebten und der täglich wuchs – wie sollte man dort leben, ohne sich zu verlaufen und zu verlieren? Egal. Alles, was jetzt kommen würde, konnte weder er noch irgendjemand aus seiner Familie oder aus seinem Dorf sich vorstellen. So war es jetzt, und so würde es bleiben. Entschlossen packte Matomora sein Bündel und bestieg den Bus.

      KAPITEL 4

      Was wollen die Weißen?

      Für Deutsche ist 1961 das Jahr des Mauerbaus. Für US-Amerikaner das Jahr, in dem John F. Kennedy Präsident wurde. Für Russen blieb in Erinnerung, dass Juri Gagarin 1961 als erster Mensch den Weltraum bereiste. Für Tansanier ist 1961 das Jahr, in dem ihr Land unabhängig wurde. Für Matomora war es dennoch mehr als alles andere das Jahr, in dem er seinen Großvater rettete und dabei die seltsamen Weißen aus Mbesa wieder traf.

      Tansania liegt nur wenig südlich des Äquators, und deshalb sind die Sommerferien die Ferien, in denen es angenehm kühl ist und man sich am besten erholen kann – ganz im Gegensatz zu den Weihnachtsferien, mit denen bei Staub und Hitze das alte Schuljahr endet, bevor im Januar, meist mit Beginn der Regenzeit, das neue Schuljahr beginnt. Als Matomora am ersten Ferientag im Sommer 1961 nach einer langen nächtlichen Busfahrt gegen Morgen Kalulu, sein Heimatdorf, erreichte, sein Bündel nahm und erleichtert aus dem Bus stieg, kam ihm einer seiner jüngeren Halbbrüder entgegengelaufen: »Geh nicht nach Hause! Hol lieber gleich Hilfe. Wir brauchen dich. Jetzt, sofort, du kannst doch Englisch.«

      Matomora verstand kein Wort und wollte schon weitergehen. Aber der Kleine stellte sich ihm so breitbeinig, wie es nur ging, in den Weg. »Vater sagt, wir sollen uns von Großvaters Hütte fernhalten. Der schreit so schrecklich laut, das hält kein Mensch aus.«

      Großvater? Der war in den letzten Ferien doch noch frisch und munter gewesen. Nicht der alte Matomora, der erfolgreiche Jäger. Der lebte schon lange nicht mehr. Großmutter hatte nach seinem Tod noch einmal geheiratet – oder müsste es heißen: sie wurde noch einmal verheiratet? Auf jeden Fall war der Großvater, der jetzt offensichtlich schwer krank war, nicht Matomoras biologischer Großvater. Aber er war doch derjenige, der in seiner Kindheit die wichtige Rolle des alten Mannes und Oberhauptes der Familie eingenommen hatte.

      »Ich bin doch kein Baby, lass mich durch!«

      Matomora machte am Bruder vorbei ein paar Schritte auf sein Zuhause zu, da kam ihm auch schon sein Vater entgegen.

      »Kibwana, es ist irgendwas mit Großvaters Bauch, da kommt was raus, die Eingeweide oder ich weiß nicht was. Es muss höllisch wehtun. Renn nach Matemanga, da ist ein Mzungu, der kann helfen. Bestimmt versteht er Englisch. Aber schnell!«

      Der Wortschwall des Vaters ersetzte die Begrüßung nach fünf Monaten der Trennung von Vater und Sohn. Matomora drückte sein Bündel dem kleinen Bruder in die Hand und machte sich auf den Weg. Fünfzehn Meilen, 25 Kilometer. Wie gut, dass es noch Morgen war, außerdem Sommer und nicht so schrecklich heiß wie bei seinem letzten Besuch in Kalulu.

      »Beeil dich! Das ist so schlimm wie ein Schlangenbiss; es kommt auf jede Stunde an!«, hatte ihm der Vater noch nachgerufen.

      Matomora sputete sich, und in Matemanga war der Mzungu schnell ausfindig gemacht. Arno Wobig hieß der »bunte Hund«, der seit ein paar Monaten im Dorf wohnte. Er sprach bereits ganz passabel Kisuaheli, das heißt, eigentlich sprach er am liebsten weder Deutsch noch Englisch noch Kisuaheli, denn er war ein zugeknöpfter

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