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und Kniemäulern. Für alles zusammen gaben sie mir zehn Euro, was ich für ausgesprochen knausrig hielt. In den darauffolgenden Wochen kamen immer mehr Leute wegen meines Verkaufsstandes zu den Festen, und obwohl sie besser gekleidet und genährt waren als die meisten, die in La Reine wohnten und verkehrten, bezahlten sie deutlich weniger für die Kleidungsstücke aus meiner Kollektion. Das ging so weit, dass ich eines Tages beschloss, die Verkaufspreise festzulegen, schließlich musste ich auch von etwas leben. Als ich aber die Preisschilder anbrachte an den Stühlen und Tischen, auf denen ich meine Kollektion ausgebreitet hatte, tauchte Marie auf und stellte mich aufgebracht zur Rede. Was ich hier mache, fragte sie, und warum ich ohne Absprache mit ihr und André Preisschilder anbringe, was, wie ich wohl wisse, in La Reine nicht gern gesehen sei. Mein Versuch zu erklären, dass die Leute zu knausrig seien, um auch ohne Schilder angemessene Preise zu bezahlen, versandete in Maries Redefluss, der nach und nach alle umstehenden Menschen mitriss. An jenem Abend gab ich meinen Verkaufsstand im Haus auf und beschloss, einen eigenen kleinen Laden zu eröffnen, in dem ich die Verkaufspreise bestimmen konnte.

      Die für die Eröffnung eines kleinen Ladens nötige finanzielle Unterstützung kam von Olivier, oder vielmehr von seinen Eltern. Mit ihrer Hilfe eröffnete ich ein Bankkonto, auf das ich mit einer Kreditkarte jederzeit von jedem Ort aus zugreifen konnte, und mietete ein kleines Gassenlokal in der Nähe von La Reine, das ich mit den Fundstücken, die die Marseiller Straßen und Gassen bereitstellten, einrichtete. Ich malte La Trouturière über die Eingangstür, im selben feuerroten Farbton wie das Haarsegel, das sich über der Fassade unseres Hauses ausbreitete und mir beim Betreten stets das Gefühl vermittelte, ein Schiff zu besteigen, ein Schiff mit geblähtem Segel, das nach egal-wohin fuhr, Hauptsache hinaus, hinaus aufs Meer, auf dem das dämmrige Blau einer vagen Sehnsucht bald einer klaren, sonnentrunkenen Sicht auf unbegrenzte Weiten weichen würde. Mein kleines Gassenlokal wurde mein Flagship-Store, in dem ich meine Tage damit zubrachte, die aus den Mülltonnen der Stadt herausgefischten alten Kleidungsstücke zu zerschneiden, zu zerreißen, auszufransen und zu verkaufen. Die Leute aus dem Haus kamen ab und zu vorbei, auf der Suche nach einem neuen alten Kleidungsstück oder um zu plaudern. Langsam aber veränderte sich meine Klientel und erweiterte sich, vor allem, nachdem ein kleiner Bericht in der Stadtzeitung erschienen war, über den alternativen Kleiderladen, in dem kreative Einzelstücke zu guten Preisen feilgeboten wurden.

      Ich verbrachte immer weniger Zeit in La Reine und immer mehr in Oliviers Garçonnière. Dort sprachen wir nicht mehr über die Absurdität unseres Daseins, über die Sinnlosigkeit menschlichen Strebens und die Kraft, die in der Verneinung liegt. Wir schauten Filme, spielten Schach und kochten für befreundete Paare. Olivier erwies sich als gewandter Gastgeber, dem es gelang, aus seiner kleinen Wohnung einen richtigen Salon zu zaubern. Es durfte nur indirektes Licht in den Raum fallen, die Lampen wurden so montiert, dass sie die hohe Decke und die weißen Wände anstrahlten. Auf dem Sofa waren Tücher mit orientalischen Mustern ausgebreitet, auf dem Tisch standen filigrane Weingläser mit zarten Gravuren, die von verschiedenen Flohmärkten stammten. Überall lagen Bücher von zeitgenössischen französischen Denkern herum, aufgeschlagen, als wäre eine konzentrierte Lektüre eben erst unterbrochen worden. Vor jedem geselligen Abend drapierte er diese Bücher sorgfältig auf den Stühlen, auf dem Boden und auf dem Sofa. Sie dienten als unaufdringlicher Leitfaden durch die Gespräche, die er mit Umsicht führte und die sich zumeist um aktuelle Kinofilme und Theatervorstellungen drehten, bevor sie sich zu fortgeschrittener Stunde, bei der dritten oder vierten Flasche Wein, in die Höhe allgemeinerer Betrachtungen schraubten, flankiert von halbwegs zitierten Sätzen aus den verstreuten Schriften.

      Zu dieser Zeit gab Olivier auch seine Tätigkeit bei der sans-papiers-Gruppe auf. Als ich ihn danach fragte, ob er diese Entscheidung völlig frei und ohne Illusionen getroffen habe, schüttelte er unwillig den Kopf. Ich wisse ja, dass der Abschluss seines Studiums bevorstünde, er habe nun einfach weniger Zeit. Zu seinem Einstand in einer renommierten Anwaltskanzlei kauften ihm seine Eltern eine größere Wohnung, in die ich mit einzog. Die Garçonnière vermietete Olivier zu einem, wie er meinte, fairen Preis an Pascale, die einen Rückzugsort wollte, um sich von der anstrengenden Arbeit in der sans-papiers-Gruppe zu erholen.

      Mein kleiner Laden lief so gut, dass ich mich mit Expansionsplänen trug. Ich streunte durch jene Straßen, in denen sich die Boutiquen der kleinen Mode-Labels befanden. Die ansehnlichen Preise, mit denen die weiten Hosen und Kleider aus eigenwilligen Stoffkombinationen ausgeschildert waren, beflügelten mich, und ich beschloss, in dieser Gegend ein Geschäft zu eröffnen. Alles sei eine Frage des Standortes, erklärte ich Oliviers Eltern und sie gaben mir Geld, um ein neues Verkaufslokal anzumieten und einzurichten. Auf die Wandfarbe verzichtete ich dieses Mal. Ich ließ ein dezentes Schild anfertigen, auf dem in einem nüchternen Schriftzug La Trouturière zu lesen war. Die Preise für meine gerissene Garderobe erhöhte ich dem neuen Standort entsprechend, wodurch sich meine Klientel erneut veränderte und mein Marktwert stieg. Ich trat nun nicht mehr als Kleidermacherin auf, sondern als Designerin. Mein Ruf verbreite sich über die ganze Stadt. Es kamen Leute aus den schickeren und reicheren Vierteln zu mir. Viele kauften die Kleidungsstücke, die sie zuvor wegen ein paar abgetragener, leicht abgewetzter Stellen weggeworfen hatten, zurück und zahlten dafür annähernd den Preis, zu dem sie sie einst neu erstanden hatten. Mira im Glück war ich zu dieser Zeit. Ich kreiste um meine gerissene Kollektion, und die Bahnen, die ich dabei zog, schraubten sich höher und höher. Die Sterne schienen in Griffweite.

      Eines Tages stand ein etwas untersetzter Mann in meinem Geschäft. Seine Sonnenbrille nahm er auch dann nicht ab, als er die Stücke aus meiner Kollektion eingehend in Augenschein nahm. Zuerst hielt ich ihn für einen aufdringlichen Touristen, der von meiner gerissenen Garderobe Wind bekommen hatte und sie nun vor Ort als Kuriosum französischen Modebewusstseins betrachten wollte. Als er jedoch ein Notizheft aus seiner Tasche hervorzog und begann, etwas hineinzukritzeln, wurde ich stutzig. Etwas ungehalten machte ich ihn darauf aufmerksam, dass er gerne etwas kaufen könne, dass es aber verboten sei, die Einzelstücke zu fotografieren oder abzuzeichnen. Er verzog den Mund zu einem unangenehmen Lächeln und fragte, ob die Chefin hier sei und ob er sie sprechen könne. »Me voilà«, sagte ich und trat hinter dem Verkaufstisch hervor. Er schob die Sonnenbrille auf seine Nasenspitze und sah mich von unten herauf an. »C’est vous, la patronne, vous, la petite dame?« Nun wurde ich richtig zornig. Dass er wohl nicht von hier sei, fuhr ich ihn an, dass mich alle in der Stadt kennen würden und dass er nun besser mein Geschäft verlasse. Er aber lachte nur, lobte mein Temperament und meinte, dass er in der Tat nicht aus Marseille sei, sondern aus – Paris. »Paris« sprach er aus, als handle es sich um einen anderen Stern, nein, um ein ganz anderes Universum, das das Ziel aller irdischen Sehnsüchte darstelle, aber nur wenigen Auserwählten vorbehalten sei. Ich winkte ab, erklärte ihm, dass mir das egal sei und er sich verziehen solle. Ein paar herablassende Sätze über die Provinz und das Benehmen der Leute hier, ließ er fallen, bevor er ganz nahe an mich herantrat und mir die Hand entgegenstreckte. »Félicitation«, sagte er, ich hätte den Prix de la Mode Periphère gewonnen. In zwei Monaten werde er mir – ja, in Paris – überreicht, in der Zwischenzeit komme ein Fernsehteam, um eine Reportage zu drehen über periphere Moden und meine Kollektion als mustergültiges Beispiel für die Verschränkung von urbanen Lebensrealitäten und innovativer Modeschöpfung.

      So hatte mein Ruf also auch die Grenzen von Marseille überschritten. Ich wurde nach Paris eingeladen, nahm an Modeschauen und anderen Aufsehen erregenden Veranstaltungen teil. Die Rohstoffe für meine gerissene Garderobe, die alten Kleidungsstücke aus den Abfällen Marseilles, konnte ich nun nicht mehr selbst besorgen, zu beschäftigt war ich mit Interviewanfragen und Einladungen. Ich beauftragte andere Menschen damit, mir neue alte Kleidungsstücke zu bringen. Ich kaufte sie ihnen zu einem Preis ab, der dem Materialwert entsprach. Das Zerschneiden, Zerreißen und Ausfransen musste natürlich weiterhin in meiner Hand bleiben, schließlich war es mein Stil, mein unverwechselbares Design, das meiner Kollektion ihre ganz spezielle Note, ihren kaum hoch genug zu schätzenden Wert verlieh. Mit zunehmender Bekanntheit allerdings kam ich immer weniger dazu, die alten Kleidungsstücke zu präparieren. Ich rief eine neue Kollektion aus meiner gerissenen Garderobe ins Leben, La Mode Trouvée, die gefundene Mode. Ich verkaufte die aus den Müllcontainern gefischten Jacken, Kleider, Hosen, Hemden und T-Shirts so, wie sie gefunden wurden, ohne sie zu bearbeiten. Der Erfolg war berauschend, die Stücke aus der

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