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um meine Schulter und lachte: Hier gebe es doch die hübschesten Frauen, das sei schließlich … Ich musste ihn sehr erschrocken angesehen haben, denn sofort wurde er ernst: »Hier können wir unser Gemüse, unser Obst selbst anbauen. Hier gibt es genügend Platz für unsere Werkstätten, und außerdem …«, die Grübchen in seinen Wangen vertieften sich und seine Augen funkelten wie Regentropfen im Sonnenlicht, »wollen wir die Welt verändern, ein bisschen zumindest.«

      Ich fragte ihn, was sie denn hier im Dorf verändern wollten. Das müsse er mir ins Ohr flüstern, meinte er und zog mich an sich heran. Mir wurde schwindelig, ich fühlte, wie mein ganzer Körper steif wurde, ein morscher Ast war ich, der jederzeit zu zersplittern drohte.

      »Pete, what the fuck?!« Agnès war aus dem Haus getreten. Pete ließ mich los und machte eine vage Bewegung mit den Schultern. Agnès schüttelte den Kopf. »Mira, komm, setz dich zu mir.« Sie zog zwei Stühle zu dem Tisch vor dem Eingang. »Was wollte Pete von dir? Hat er dir wehgetan?« Ich schüttelte den Kopf und erzählte ihr von unserem Gespräch, davon, das ich wissen wollte, was sie hier im Dorf verändern wollten. »Schließlich kommt doch niemand außer mir zur euch. Abgesehen vom Fest.«

      Agnès’ Augen lagen ruhig auf mir. »Warum kommst du zu uns?« Ich versuchte, ihr von der fremden Saite in mir zu erzählen, von den Klängen der singenden Säge und der tränenförmigen Gitarre, wie sie mich berührt hatten und warum die anderen nichts davon wissen durften. Die Worte aber blieben mir im Hals stecken, einzelne nur brachte ich hervor, sie kullerten über den Tisch, zusammenhanglos wie die Perlen einer gerissenen Halskette. Agnès stand auf und ging ins Haus. Ich dachte schon, dass ich sie gelangweilt hätte, da stand sie wieder in der Tür mit zwei Gläsern, in denen eine bernsteinfarbene Flüssigkeit schaukelte. »Lass uns einen Schluck trinken, da erzählt es sich besser«, sagte sie und stellte eines der Gläser vor mich hin. Ich steckte die Nase ins Glas, wie feuchtes Holz roch die schimmernde Flüssigkeit. Mit geschlossenen Augen nahm ich vorsichtig einen kleinen Schluck. Die Schärfe, die sich auf meine Zunge gelegt und mich zunächst erschreckt hatte, verwandelte sich in Wärme, in eine angenehme Wärme, die von meinem Hals in meine Brust und meinen Bauch wanderte. Ich nahm noch einen Schluck und spürte, wie sich meine Zunge löste, wie meine Worte wieder ihren Zusammenhang fanden. »Weißt du, Agnès«, sagte ich, »ich habe eine Saite in mir, die ich nicht verstehe. Die niemand versteht. Dabei versuche ich doch, alles richtig zu machen.« Und dann erzählte ich ihr, wie mir plötzlich alles im Dorf eng und öd, klein und schäbig erschienen war. »Ich will, dass diese fremde Saite in mir reißt, dass sie verschwindet, dass sie mich nicht mehr stört, dass ich …« Meine Knie wurden weich und meine Augen feucht.

      »Wie wäre es, wenn du lernst, die Saite zu spielen, anstatt sie zerreißen zu wollen?« Ernst und streng klang Agnès’ Stimme. Sie ging ins Haus und kam mit der tränenförmigen Gitarre in der Hand zurück. »Da, spiel!« Sie legte mir das Instrument auf die Oberschenkel.

      »Aber ich kann doch gar nicht …«

      »Dann wirst du es lernen. Spiel!« Jede Widerrede wäre zwecklos gewesen, also nahm ich die Gitarre in die Hand, strich mit den Fingern über die glatte Oberfläche und tastete mich den Saiten entlang. Als ich eine anschlug, grub sie sich tief in meine Fingerkuppe, so fest und straff war sie. Ich ließ sie los, sie federte zurück und gab einen kurzen, metallenen Klang von sich. Der erste Ton, den ich mit meinen Händen produziert hatte, war das gewesen. Ich zupfte jede Saite einzeln an, strich dann mit der ganzen Hand über die Saiten, spürte, wie sie vibrierten, wie ihre Klänge durch meine Finger gingen. Agnès ließ mich nicht aus den Augen.

      »Wenn du möchtest, zeige ich dir ein paar Griffe.«

      Ich nickte und sie setzte sich neben mich, ordnete meine Finger auf dem Hals der Oud an und bedeutete mir, dass ich nun über alle elf Saiten streichen solle. Ein ganz anderer Ton flog auf, unbeholfen flatterte er zwischen Agnès und mir herum und zog sich erleichtert wieder in den tränenförmigen Gitarrenkörper zurück. So hatte ich begonnen, die Oud zu spielen. Mit jedem Tag waren die Klänge, die mir durch die Finger gingen, weiter geflogen. Ich hatte Gefallen daran gefunden, neue Griffe und Akkorde für mich zu erobern.

      Olivier war es nun, den ich in Marseille erobern wollte. Die Zeit bei den Treffen der sans-papier-Gruppe verbrachte ich damit, mit allen Mitteln seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Ich meldete mich zu Wort und zu Telefondiensten, ich zitierte Sätze aus La Peste und trug die schönsten Stücke aus meiner gerissenen Garderobe.

      An einem Abend, bei einem Fest, war es schließlich so weit. Mit Hilfe von Bier und Marihuana habe ich mir selbst so viel Mut zugesprochen, dass ich Olivier einfach küsste. Es war der erste Kuss meines Lebens und ich wusste nur ungefähr, aus Filmen und von Beobachtungen, wie es funktionierte. Ich presste meine Lippen auf seine und streckte meine Zunge schnell in den vor Staunen aufgerissenen Mund. In der Mundhöhle angekommen verlor meine Zunge allerdings die Orientierung und glitt hilflos über Zahnreihen und Gaumen. Da aber kam mir seine Zunge zu Hilfe und nahm sich meiner an. Sie verwickelte sie in ein Spiel, das mir gleichzeitig sehr angenehm und sehr peinlich war wegen der Speichelfäden und des warmen Zungenfleisches, das sich ineinanderschob. Wir ließen unsere Zungen an diesem Abend noch oft zusammen tanzen, und zu einer fortgeschrittenen Stunde fuhr Olivier mit seiner Hand unter die Fransen meines froschgrünen Häcksel-T-Shirts. Über meine Taille, meinen Bauch hinauf zu meinen Brüsten wanderte seine Hand, mit kreisenden Bewegungen umspielte sie meine Brustwarzen, und eine warme Gischt brandete über meinen Körper. Mein Verlangen war so groß, dass ich ihn fragte, ob wir auf mein Zimmer gehen wollten. Dort lagen wir auf meinem Bett, zwei Körper, die sich aneinanderpressten, die wogten, zuckten und stöhnten bis in die frühen Morgenstunden hinein, die einen grauen, milchigen Lichtschleier über uns breiteten.

      Olivier und ich haben uns seitdem regelmäßig gesehen, er hat in meiner Kammer und ich in seiner Garçonnière übernachtet. Die Leute aus dem Haus haben mich geneckt und gemeint, ich hätte jetzt einen petit ami, mit dem ich ausgehen würde. Tatsächlich sind wir aber kaum ausgegangen, ab und zu in ein kleines Lokal, um zu essen, aber meistens sind wir in La Reine gewesen. Ganze Nächte haben wir damit verbracht, Betrachtungen über die Welt anzustellen, über die Absurdität unseres Daseins, über die Sinnlosigkeit menschlichen Strebens und die Kraft, die in der Verneinung liegt.

      »Worum es geht, ist die Klarsicht, dass alles, was wir unternehmen, umsonst ist. Wenn wir das begreifen, sind wir frei.«

      Zunächst dachte ich, dass er sich mit Sätzen dieser Art darüber hinwegtrösten wollte, dass Menschen, die er beraten hatte, immer wieder abgeschoben wurden. Ich versuchte, ihn aufzumuntern, indem ich ihm von Rieux, dem sagenhaften Arzt aus La Peste erzählte, der sich mit großer Beharrlichkeit und Ausdauer gegen die furchtbare Seuche stemmte. Olivier lachte und meinte, dass auch dieser Kampf vergeblich sei, worüber sich Rieux, d’ailleurs, durchaus im Klaren sei, ich müsse nur an den Schluss des Buches denken. »Und doch wusste er, dass dies nicht die Chronik des endgültigen Sieges sein konnte«, das stünde doch dort, »n’est-ce pas?«

      »Oui, mais …« Dort stand auch, dass sein Bericht über die Pest in Oran ein Zeugnis davon war, was all die Menschen vollbringen mussten, die trotz ihrer inneren Zerrissenheit gegen die Herrschaft des Schreckens ankämpften und die die Heimsuchung nicht anerkennen wollten. Olivier küsste mich, »T’es mignonne«, sagte er und klärte mich darüber auf, dass es im Grunde egal sei, was wir taten, es ohnehin sinnlos sei. Wie in einem Spiel taumelten wir von Entscheidung zu Entscheidung, die wir, je nach der Rolle, die wir gerade einnahmen, treffen würden. Das Wichtigste, la chose la plus importante, sei, sich dafür zu entscheiden, frei zu sein und ohne Illusionen zu leben, tu comprends? Ich habe damals nicht verstanden, was Olivier meinte, schließlich ging er regelmäßig zu den Organisationstreffen und versuchte auf seine Art, den Menschen zu helfen. Während der langen Abende, die ich bei meinem Verkaufsstand im Haus verbrachte, dachte ich darüber nach, suchte nach Fragen und Argumenten, mit denen ich Olivier beim nächsten Mal konfrontierten wollte.

      An einem dieser Abende kamen Leute, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, zu mir und wollten Stücke aus meiner gerissenen Garderobe kaufen. Sie seien nur wegen mir hier, erklärte mir einer, an einem Bekannten hätten sie die außergewöhnlichen Kleidungsstücke gesehen und wollten nun auch welche erwerben. Ich verkaufte

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