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und Hosenbeinen baumelten.

      Mein neues Outfit hat im Haus Aufmerksamkeit erregt, und angestachelt durch das eine oder andere Kompliment habe ich meine gerissene Garderobe sukzessive erweitert, habe immer neue alte Kleidungsstücke aus den Müllcontainern gefischt und auf meine Art und Weise präpariert. Dabei ist es durchaus ausschlaggebend gewesen, aus welchem Teil der Stadt die Kleidungsstücke stammten: In der Gegend rund um unser Haus, um unsere La Reine, sind es zunächst Second-, manchmal auch Thirdhand-Stücke gewesen, die ich aus dem Müll gezogen habe. An ihnen habe ich mich austoben können, ihre brüchigen und löchrigen Gewebe habe ich mit allerhand Schnittmustern und Fransen versehen. Ein paar Straßen weiter sind die Hemden, T-Shirts und Röcke, die in den Containern gelandet sind, in einem viel besseren Zustand gewesen. Ein paar wenige aufgeriebene und ausgebleichte Stellen haben ihre früheren Trägerinnen dazu bewogen, die Teile, die vorwiegend von kleinen, lokalen Mode-Labels entworfen worden waren, wegzuwerfen. Bei ihnen ist mir oft nichts anderes übrig geblieben, als ein paar Quasten anzubringen. In den wirklich reichen Vierteln, dort, wo mit ungetrübtem Blick aufs Meer die Stadtvillen stehen, habe ich vor allem Kleidung mit gediegenen Schnitten und Mustern gefunden. Mit großer Hingabe habe ich sie entstellt, ich habe sie zerschnitten, ausgebeult, mit den farbenprächtigen Stoffresten aus den ärmsten Gegenden versehen und sie so in flatternde Monumente der Vielfältigkeit dieser Stadt verwandelt.

      Marie und André sind es schließlich gewesen, die mich auf die Idee gebracht haben, dass ich Teile meiner Kollektion bei einem der Hausfeste ausstellen und verkaufen könne. An jenem Abend, an dem ich zum ersten Mal meinen Verkaufsstand öffnete, war ich sehr aufgeregt. Zur Feier des Tages trug ich meine ersten Stücke, den marineblauen Pullover, dessen linker Schulterteil zerrissen gewesen war und den ich weiter aufgeschnitten hatte, sodass die Schulter keck hervorragen, sich kalt oder anschmiegsam, ganz nach Lust und Laune, zeigen konnte, sowie die gelbe Hose, die am rechten Knie aufgerissen war und die ich so bearbeitet hatte, dass das Loch wie ein vor Staunen aufgerissener Mund mit gelben Fransenzähnen aussah. Die zum Kauf angebotenen Kleidungstücke breitete ich auf Stühlen und Tischen aus, gleich neben der Bar, sodass die auf ihre Getränke Wartenden einen Blick darauf werfen konnten. Mit Marie und André hatte ich vereinbart, dass ich die Stücke aus meiner Kollektion zu freien Preisen anbieten würde. Der Abend war ein voller Erfolg, die Partymenschen kauften begeistert die mit sternenförmigen Löchern gespickten T-Shirts und die Hosen mit unterschiedlich langen Beinen. Auch die Jacken mit den luftigen Ellbogenherzen fanden reißenden Absatz.

      Von nun an habe ich bei jedem Fest, bei jedem Konzert im Haus ausgewählte Stücke aus meiner gerissenen Garderobe zum Kauf angeboten. Auf diese Art und Weise habe ich meinen Lebensunterhalt verdient und mir bei den Menschen, die in La Reine gewohnt und verkehrt haben, einen Namen gemacht. La Trouturière haben mich alle genannt, und bei jedem Streifzug durch die Stadt habe ich meine Kollektion erweitert. Im Laufe der Monate ist mir aufgefallen, dass sich die Inhalte der Müllcontainer veränderten. Immer mehr der kaum abgetragenen, aus eigenwilligen Stoffkombinationen gefertigten Stücke der kleinen Mode-Labels sind in der Gegend um unser Haus aufgetaucht. Dafür habe ich aus den Containern in Noailles, im Marktgebiet im Zentrum der Stadt, nun jene abgewetzten und verschlissenen Second- und Thirdhand-Teile gezogen, die mich am meisten inspiriert haben. Konstant gediegen sind nur meine Fundstücke aus den reichsten Gegenden geblieben. Es ist aber zusehends schwieriger geworden, sie mit den rauen und farbenprächtigen Stofffetzen aus den ärmeren Vierteln zu versehen, immer höher habe ich die Rue de la République hinaufsteigen, immer tiefer ins Gassengewirr des Panier hineingehen müssen, um aus den Containern letzte Gewebereste herauszufischen.

      In dieser Zeit bin ich auch öfter zu den Treffen gegangen, die Renée, Pascale, Georges und Martine veranstaltet haben, um die Aktionen für die sans papiers zu koordinieren, für jene Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung, deren Ankommen von den Behörden, aber auch schlicht von Mittellosigkeit blockiert und boykottiert worden ist. Ehrlich gesagt ist es mir dabei weniger um die allgemeinen Infoveranstaltungen oder die Demonstrationen bei Polizeirazzien und Abschiebungen gegangen, die besprochen und organisiert worden sind, als um die Rechtshilfe, die für mich nur ein Gesicht und einen Namen getragen hat – Olivier. Olivier war ein Student der Rechtswissenschaften, mit strahlend blauen Augen und einem verschmitzten Lächeln, mit dem er die Welt um sich herum bedachte und, wie ich es sah, beglückte. Er wohnte nicht bei uns im Haus, sondern in einer Garçonnière, die seine Eltern für ihn gekauft hatten. Seinen Eltern verdankte ich auch, dass ich ihn bei den Treffen kennenlernte. Sie hätten ihn lieber in einer anständigen Anwaltskanzlei gesehen, doch er hatte sich, um ihnen eins auszuwischen, für das ehrenamtliche Engagement in der sans-papiers-Gruppe entschieden. Obwohl er, pour ainsi dire, von Haus aus privilegiert sei, läge ihm viel daran, ein besseres Leben für alle zu ermöglichen, pflegte er zu sagen, und ich dachte an Pete von der Alten Mühle, der auch immer davon gesprochen hatte, die Welt verändern zu wollen, zumindest ein bisschen:

      Die Eindrücke, die ich beim ersten Fest in der Alten Mühle gesammelt hatte, hatten mich lange beschäftigt. Ich wollte herausfinden, was Menschen aus verschiedenen Städten und Ländern dazu bewegen konnte, in das Dorf zu kommen, und machte mich in den Tagen nach dem Eröffnungsfest auf den Weg zur Alten Mühle. Über den Kirchplatz ging ich, die Straße hinter zum Fluss, über die Brücke und dann die zwei Kilometer durch das Flusstal in den Auenwald hinein. Am ersten Tag kam ich bis zur letzten Biegung vor dem alten Steinhaus, dann verließ mich der Mut und ich machte kehrt. Am zweiten Tag pirschte ich mich näher heran. Hinter einem Holzstoß hockte ich und beobachtete den Platz vor dem Haus. Immer wieder gingen Menschen ein und aus, viele trugen Holzbretter und Eimer. Alles wirkte sehr friedlich und entspannt, den letzten Schritt hin zum Haus aber wagte ich auch dieses Mal nicht. Am dritten Tag saß ich wieder hinter den Holzscheiten und behielt das Kommen und Gehen im Auge. Nach einer Weile kam die Frau mit den kurzen, grauen Haaren, setzte sich in einen Schaukelstuhl vor dem Haustor und spielte auf ihrer tränenförmigen Gitarre. Zu weit entfernt war ich, um den wundervollen Klang des Instrumentes hören zu können, also schlich ich mich näher heran. Auf allen Vieren kroch ich zwischen den Sträuchern hindurch und versteckte mich hinter einer niedrigen Buche wenige Schritte vom Haus entfernt. Von dort aus lauschte ich dem Saitenspiel. Ich war so tief darin versunken, dass ich nicht bemerkte, wie sich jemand von hinten näherte. Als sich eine Hand auf meine Schulter legte, kippte ich vor Schreck nach hinten. Ein tiefes, volles Lachen schwappte über mich: »Was machst du hier? Warum versteckst du dich?«

      »Ich … ich, äh, ich … habe Musik gehört.«

      »Warum kommst du nicht zum Haus und setzt dich zu uns?« Das Gesicht des Mannes, der sich über mich beugte, war viel schmaler, als es sein Lachen und seine Stimme vermuten ließen. Seine Augen waren klar und himmelblau, auf seiner linken Augenbraue hing einer kleiner Goldring, seine dünnen blonden Haare waren zu einem struppigen Kamm hochfrisiert. Langsam richtete ich mich auf und klopfte mir das Moos von den Hosen. »Ich … ich will euch nicht stören«, murmelte ich, da aber hatte mich der Mann schon am Arm genommen und ging mit mir Richtung Steinhaus.

      »Ich bin übrigens Pete«, meinte er und lächelte mich an.

      »Mira«, sagte ich, und mein Name erschien mir so fremd und eigenartig wie noch nie zuvor.

      »Freut mich, Mira, und jetzt komm, ich stell dir Agnès vor, die mit der Oud.«

      Die Frau mit den kurzen, grauen Haaren erhob sich aus dem Schaukelstuhl, als wir auf den Platz vor dem Eingang zur Alten Mühle traten. Sie streckte mir die Hand entgegen und sah mich an. Grün leuchteten ihre Augen, nicht grasgrün wie meine, sondern dunkel-, beinahe smaragdgrün.

      »Agnès, das ist Mira. Mira, das ist Agnès.« Pete verbeugte sich mit einer ausholenden Geste vor uns. »Mira hat dir dort hinten im Gebüsch zugehört. Ich glaube, ihr gefällt, wie du die Oud spielst.«

      Von diesem Tag an bin ich beinahe täglich zur Alten Mühle gegangen. Alle, die dort gelebt und gearbeitet haben, lernte ich kennen. Da waren Ali und Samira mit ihren kehligen H, Katja mit ihren harten Auslauten, Simón mit dem rollenden R, Jana mit dem singenden M und natürlich Agnès mit ihrem näselnden N und Pete mit dem kecken L. Sie waren aus allen möglichen Ländern zunächst in die Hauptstadt und schließlich hierhergekommen. Sie hatten auf Baustellen und Schiffen, in großen Fabriken und Läden gearbeitet und sich eines Tages auf den Weg

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