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die letzten beiden Stunden ins Freibad führen konnte.

      Es war in der Pestalozzischule durchaus üblich, daß die Lehrkräfte im Sommer ihre Klassen zum Schwimmen führten, und auch Susanne Schäfer fand es ganz selbstverständlich, die diesbezügliche Anordnung Rektor Kagerers zu befolgen. Sie gönnte ihren Kindern das Vergnügen von Herzen. Dennoch war sie immer froh, wenn sie alle wieder heil und sicher zur Schule zurückgebracht hatte.

      An diesem Dienstag wimmelte es im Freibad von kleineren Kindern, die mit ihren Müttern oder auch in Gruppen gekommen waren. Der Lärm und das Geplansche waren unbeschreiblich. Es war sehr schwül, und obwohl sich am blauen Himmel keine Wolke zeigte, war das heraufziehende Gewitter deutlich zu spüren.

      Susanne Schäfer war ein wenig nervös, aber sie zeigte es nicht. Sie wußte, daß es ihrer ganzen Autorität bedurfte, um die Kinder im Zaum zu halten.

      Mit Mühe hielt sie ihre Schar davon ab, sich, kaum daß sie umgezogen waren, kopfüber ins Wasser zu stürzen. Sie achtete streng darauf, daß jeder einzelne erst die Handgelenke und die Herzgegend abkühlte, bevor er ins Wasser ging, sie machte es sogar vor. In ihrem einfachen leuchtend blauen Badeanzug und der weißen Kappe wirkte sie selbst wie ein ganz junges Mädchen.

      Nur drei Schüler konnten wirklich schwimmen. Ein vierter, der schwarzlockige kleine Franz, hielt sich mit einer Art Hundepaddelei ganz wacker über Wasser. Aber ein Freischwimmerzeugnis hatte niemand. Deshalb hielt Susanne Schäfer ihre Schar unerbittlich im Nichtschwimmerbecken zusammen, was allerdings gar nicht so einfach war. Immer und immer wieder, bis sie es schon selbst nicht mehr hören konnte, mußte sie rufen: „Hierher! Franz, Jochen, Petra … hiergeblieben! Nein, keiner darf ins große Becken! Wenn ihr nicht folgt, müßt ihr raus … ich ermahne euch nicht noch einmal!“

      Während der größte Teil der Kinder vergnügt herumplanschte, im niedrigen Wasser harmlose Schwimm- und Tauchversuche unternahm, turnten diejenigen, die sich mehr zutrauten und sich über die anderen erhaben fühlten, in der Nähe der Absperrung herum und schmollten.

      Es war wirklich nicht einfach, hier die Aufsicht zu führen, denn es genügte ja nicht, daß Susanne Schäfer aufpaßte. Die Kinder erwarteten auch, daß sie sich mit ihnen beschäftigte, Spiele und Übungen anregte und selber vormachte. Susanne Schäfer atmete auf, als es endlich soweit war, daß sie die Kinder aus dem Wasser treiben durfte.

      Prompt kamen die üblichen Betteleien. „Schon?“ — „Ach, Fräulein, wir sind doch gerade erst gekommen!“

      „Noch ein bißchen … bitte, bitte!“

      Und ein Witzbold rief: „Die Uhr geht vor!“

      Sie planschten, spritzten, entwischten, und Susanne Schäfer mußte jeden einzeln einfangen und an Land bringen. Es entwickelte sich ein Spiel mit richtigen Regeln daraus — wer einmal gefangen war, durfte nicht mehr ins Wasser zurück, die Kinder wachten streng darüber.

      Endlich konnte auch die junge Lehrerin, Rosel an der Hand, die sie zuletzt erwischt hatte, die kleine Treppe hinaufklettern. Sie hob ihr Handtuch auf, begann sich abzutrocknen.

      „Los Kinder, schnell abzählen, und dann in die Kabinen!“ rief sie.

      Die Zahlen flogen von Mund zu Mund: „Eins …. zwei … drei … fünf … neun …“

      Susanne Schäfer zählte mit. Klaus fehlte, er war schon mit seinen Eltern in die Ferien gefahren, ein anderer Junge hatte nicht mit schwimmen gehen dürfen, weil er überempfindliche Ohren hatte, ein Mädchen war wegen Krankheit entschuldigt — also mußten es insgesamt neununddreißig Schülerinnen und Schüler sein.

      Aber die Kinder kamen nur bis siebenunddreißig.

      Noch regte Susanne Schäfer sich nicht auf. Vielleicht waren zwei der Kinder schon zu den Kabinen gelaufen oder hielten sich aus Spaß versteckt.

      Aber da rief Petra: „Fräulein, Fräulein …. der Franz und der Jochen, die schwimmen im großen Becken!“

      Die Augen der jungen Lehrerin folgten dem ausgestreckten Zeigefinger, und tatsächlich — sie entdeckte die Köpfe der beiden Jungen mitten im tiefen Wasser. Sie lief zum Rand, wollte sie zurückrufen. Doch sie kam nicht mehr dazu, denn da geschah es: Jochen sackte ab, und Franz, der sich mit seiner Hundepaddelei mit Müh und Not selber oben hielt, konnte ihm natürlich nicht helfen. Er schrie, bekam Wasser in den Mund, schluckte, prustete.

      Mit einer einzigen Bewegung warf Susanne Schäfer das Frottiertuch ab, tauchte mit einem Hechtsprung ins Wasser, war mit wenigen kräftigen Stößen bei den beiden Jungen, packte sie, einen mit der linken, den anderen mit der rechten Hand und brachte sie, nur mit den Beinen schwimmend, an den Beckenrand zurück.

      Es war nichts Ernsthaftes geschehen. Jochen war grün im Gesicht, mußte spucken und schließlich erbrechen. Danach fühlte er sich besser. Franz kam sich mächtig tüchtig vor und prahlte mit seiner Heldentat, bis die Lehrerin mit einer Strafarbeit, die sie den beiden Jungen auftrug, auch seinen Übermut dämpfte. Titel der Niederschrift: „Warum ich nicht ins tiefe Wasser hinausschwimmen darf, wenn ich nicht richtig schwimmen kann.“

      Nein, es war nichts Ernsthaftes passiert, aber es war spät geworden, und bis sie endlich alle angezogen waren, wurde es noch später. Als die Uhr eins schlug, erschrak Susanne Schäfer. Die Kinder hätten jetzt eigentlich schon auf dem Weg nach Hause sein sollen, und doch mußten sie erst noch in die Schule zurück, um ihre Sachen zu holen.

      Sie entschloß sich, nicht den Umweg durch den Park zu machen, sondern den kürzeren Weg zu nehmen, auf dem einige Straßen überquert werden mußten. Die Kinder waren hungrig geworden und hatten es jetzt eilig. Sie stellten sich brav in Zweierreihen auf und marschierten los. Alles klappte vorzüglich.

      Die letzte Straße, die sie überqueren mußten, war sehr breit und in der Mitte durch eine langgestreckte schmale Insel aufgeteilt.

      Vor dem Fußgängerüberweg versammelte Susanne Schäfer ihre Kinder um sich. „Alles herhören!“ rief sie. „Sobald ich euch ein Zeichen gebe, geht ihr hinüber bis zur Insel, und dort wartet ihr auf mich! Habt ihr mich verstanden?“

      „Ja!“ erscholl es im Chor.

      Susanne Schäfer betrat den Fußgängerüberweg, nahm mit ausgebreiteten Armen in der Mitte zwischen Insel und Gehsteig Aufstellung, winkte den Kindern zu, die jetzt paarweise hinübereilten. Der von rechts kommende Verkehr stoppte.

      Sie wartete, bis auch das letzte Kind die Insel erreicht hatte, um dann erst zu folgen — da sah sie, wie eine Gruppe von Mädchen, unter ihnen auch Rosel und Petra, Hand in Hand dem jenseitigen Gehsteig zustrebte. Sie wollte rufen, unterließ es dann aber doch, um nicht noch größere Verwirrung zu stiften. Sie war verärgert über die Unfolgsamkeit der Schülerinnen, aber durchaus nicht besorgt; schließlich befanden sie sich ganz ordnungsgemäß auf dem Zebrastreifen und waren nicht zu übersehen, Rosels roter Schopf leuchtete in der Sonne.

      Mit wenigen Schritten hatte die Lehrerin die Insel erreicht, auf der der größte Teil der Klasse wartete, die Autos hinter ihr begannen zu rollen. Rosel, Petra und ihre Kameradinnen waren fast beim jenseitigen Gehsteig angekommen. Da brauste ein Lastwagen mit überhöhter Geschwindigkeit heran und raste mitten in die Mädchengruppe hinein.

      Ein Schrei gellte auf, ein wahnsinniger, entsetzter Schrei — Susanne Schäfer wurde es nicht bewußt, daß sie es war, die so schrie.

      Die Bremsen quietschten, der Lastwagen fuhr halb über den Gehsteig und kam etwa fünfzig Meter hinter dem Fußgängerüberweg zum Stehen.

      Auf der Fahrbahn lagen, blutig und verrenkt, die Körper von fünf kleinen Mädchen, die eben noch gesunde, lebendige und lebensfrohe junge Menschenkinder gewesen waren.

      Autos, Motorräder, Fahrräder stoppten. Menschen stürzten auf die schwerverletzten Mädchen zu.

      Noch in der Besinnungslosigkeit des ersten Entsetzens tat Susanne Schäfer das Vernünftigste: Sie führte den Rest ihrer Klasse durch die herandrängenden Menschen auf den jenseitigen Bürgersteig.

      Aber ihre Stimme war kaum mehr als ein Krächzen,

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