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gestrichenen Fensterläden bestand.

      In dem Augenblick, als Susanne Schäfer klingelte, drohte Unsicherheit sie aufs neue zu überfallen: wenn Rektor Kagerer nun gar nicht da war, wenn er mit seiner Familie verreist war?

      Aber dann hörte sie schon leichte Schritte im Innern des Hauses, das Licht im Treppenhaus flammte auf, die Tür wurde geöffnet. Susanne Schäfer sah sich ihrem Vorgesetzten gegenüber, einem schlanken, zierlichen Mann, dessen graues Haar weit aus der Stirn zurückwich und den Eindruck von ruhiger Intelligenz, den er ausstrahlte, noch verstärkte.

      „Guten Abend, Herr Rektor“, sagte die junge Lehrerin, „entschuldigen Sie, bitte, daß ich Sie überfalle …“

      Er unterbrach sie. „Ich habe Sie schon seit langem erwartet, Fräulein Schäfer!“ Er ließ sie eintreten, schloß die Tür hinter sich. „Um die Wahrheit zu sagen … es war einer der Hauptgründe, warum ich meine Familie vorerst allein aufs Land geschickt habe.“

      Susanne Schäfer hatte plötzlich das Gefühl, sich entschuldigen zu müssen. „Ich war krank, Herr Rektor … und ziemlich durcheinander, deshalb habe ich erst jetzt …“

      Wieder fiel er ihr ins Wort. „Das ist mir völlig klar, Fräulein Schäfer, ich mache Ihnen keinen Vorwurf.“

      Er ging vor ihr her, öffnete die Tür linker Hand, die in sein großes, ebenerdiges Arbeitszimmer führte. Der Schein der Schreibtischlampe fiel auf Bücher und Hefte, ließ die Farben eines kleinen handgewebten Teppichs aufleuchten. Bücher, Hefte, Zeitungen, Zeitschriften und Kunstkalender lagen auf den Sesseln.

      Rektor Kagerer schaffte für Susanne Platz. „Man merkt, daß die Frau nicht da ist“, sagte er, „ich gehöre leider zu den Männern, die dann ganz schnell wieder in ihre Junggesellengewohnheiten zurückfallen … darf ich Ihnen etwas anbieten, Fräulein Schäfer? Vielleicht ein Glas Wein?“

      Sie hätte gern zugestimmt, aber sie wollte ihm nicht noch mehr Mühe machen — sie hatte den Eindruck, daß er nicht recht wußte, wo die Gläser standen, und daß die Küche noch voll benutztem Geschirr war. „Nein, danke“, sagte sie deshalb, „sehr nett von Ihnen.“

      Sie setzte sich auf den Stuhl, den er ihr anbot, sehr aufrecht, die Füße nebeneinander, die Knie aneinandergepreßt. Er zog sich einen Sessel zu ihr heran, rückte an seiner Brille, als wenn er sie noch besser betrachten wollte.

      „Tja“, sagte er endlich, „da sind wir in eine schlimme Geschichte hineingeraten.“

      Susanne Schäfer atmete tief durch. „Bitte, Herr Rektor, sagen Sie mir ganz ehrlich … war es meine Schuld?“

      „Nun ja, vom Standpunkt Goethes ausgehend … wie sagt doch der Dichter? ,Ihr laßt den Armen schuldig werden, dann überlaßt ihr ihn der Pein …‘“

      „Entschuldigen Sie, Herr Rektor“, sagte Susanne Schäfer schärfer, als sie es beabsichtigt hatte, „der Standpunkt Goethes interessiert mich überhaupt nicht. Das ist ja alles schon so lange her.“

      Rektor Kagerer hob die schmale Hand. „Und doch ewig wahr. Sehen Sie, Fräulein Schäfer, man kann jedes Geschehen und somit auch diesen entsetzlichen Unfall von den verschiedensten Aspekten aus betrachten.“

      „Das weiß ich“, sagte Susanne Schäfer, „die Leute hier in Bad Kreuzfeld geben mir die Schuld daran … aber ich will wissen, ich muß wissen, wie Sie darüber denken, Herr Rektor!“

      Rektor Kagerer legte die Fingerspitzen seiner beiden Hände gegeneinander, betrachtete angestrengt seine sehr kurz geschnittenen Nägel. „Nun, es steht fest“, sagte er zögernd, „Sie haben sich Ihrer Aufgabe nicht ganz gewachsen gezeigt. Sie wissen ja selbst, daß es auf dem kürzesten Weg zwischen Freibad und Schule einige ziemlich gefährliche Straßenübergänge gibt …“

      „Ja, aber wir hatten uns verspätet! Hätte ich es denn riskieren sollen, daß die Eltern sich Sorgen wegen der Kinder machten?“

      „Natürlich nicht“, sagte Rektor Kagerer ruhig, „der Fehler, den Sie tatsächlich gemacht haben, geschah schon früher. Sie hätten die Kinder so rechtzeitig aus dem Wasser holen sollen, daß Sie auf keinen Fall in Zeitnot hätten geraten können. Man muß immer unerwartete Zwischenfälle, wie etwa das Absacken der beiden kleinen Jungen, miteinkalkulieren, verstehen Sie, wie ich das meine?“

      Susanne Schäfer ließ den Kopf sinken. „Ja, Sie haben recht, Herr Rektor. Ich … das Schreckliche ist, ich habe von Anfang an das Gefühl gehabt … es ist meine Schuld. Aber ich wußte nicht, was ich falsch gemacht habe. Erst jetzt, da Sie es mir sagen …“ Sie erhob sich. „Ich danke Ihnen, Herr Rektor!“

      „Wohin denn so eilig? Aber bleiben sie doch, Fräulein Schäfer! Wir haben doch gerade erst angefangen, miteinander zu reden.“

      „Danke. Ich weiß jetzt alles. Alles, was ich wissen wollte.“ Susanne Schäfer ging mit steifen Schritten zur Tür.

      Rektor Kagerer sprang auf, erreichte sie mit wenigen Schritten, packte sie bei den Schultern. Er war einen halben Kopf kleiner als sie, dennoch strahlte sein ganzes Wesen eine Autorität aus, der sich auch die junge Lehrerin nicht entziehen konnte.

      „Bleiben Sie und setzen Sie sich wieder!“ befahl er. „Unser Gespräch ist noch nicht zu Ende. Sie werden nicht eher gehen, als ich es erlaube.“

      Susanne Schäfer gehorchte. Sie starrte mit blicklosen Augen vor sich auf den bunten Fleckerlteppich. Ohne es selbst zu merken, zerrte und drehte sie ihr Taschentuch zwischen den Fingern.

      „Ich muß Ihnen das sagen, Fräulein Schäfer“, erklärte Rektor Kagerer, „es soll Ihnen eine Lehre für die Zukunft sein. Kinder sind unberechenbar. Es ist falsch, sich darauf zu verlassen, daß alles wie am Schnürchen läuft, wenn man vierzig Kinder beieinanderhalten muß.“

      Susanne Schäfer sagte immer noch nichts. Sie hatte nur den einen Wunsch, daß Rektor Kagerer sie so bald wie möglich gehen lassen sollte. Sie wollte allein sein, keinen Menschen mehr sehen, niemanden mehr sprechen.

      Aber Rektor Kagerer ließ nicht locker. „Verstehen Sie, was ich Ihnen sagen will?“ fragte er eindringlich.

      Susanne Schäfer nickte stumm.

      „Sie haben also einen Fehler gemacht … aber tatsächlich steht dieser Fehler in keinem Verhältnis zu dem, was später passiert ist. Die Art, wie Sie dann mit der Klasse die Straße überquert haben, war völlig korrekt.“

      Susanne glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. „Aber dann …“

      „Selbst wenn die Klasse wie eine Hammelherde über die Straße gelaufen wäre“, sagte Rektor Kagerer, „hätte der Lastwagenfahrer rechtzeitig bremsen müssen. Schließlich befanden sich alle Kinder auf dem Zebrastreifen. Nein, eine Schuld im juristischen Sinn kann Ihnen nicht angelastet werden, Fräulein Schäfer … um ehrlich zu sein, nicht einmal eine menschliche. Denn wer möchte schon von einem jungen Mädchen Vollkommenheit erwarten?“

      „Aber die Leute“, sagte Susanne Schäfer, „alle sehen in mir die Schuldige. Sie wissen nicht, wie das ist. Sie können es sich nicht vorstellen … man schneidet mich auf der Straße. Was soll ich denn nur tun, um mich zu verteidigen?!“ Sie konnte sich nicht länger beherrschen, rief verzweifelt: „Helfen Sie mir, Herr Rektor … nur Sie können mir helfen!“

      Rektor Kagerer bewegte sich unruhig. „Nun, ich hoffe, daß unsere Aussprache Ihnen doch in gewissem Sinn Klarheit geschenkt hat …“

      „Ja, ja! Ich bin froh, ich bin unendlich froh, daß Sie mich nicht wie die anderen für eine Mörderin halten! Ich hatte schon begonnen, an mir selbst zu zweifeln, ich konnte einfach nicht mehr klar sehen. Jetzt weiß ich endlich wieder …“

      Rektor Kagerer fiel ihr ins Wort. „Schön“, sagte er, „sehr schön. Das freut mich ungemein, Fräulein Schäfer. Sie wissen ja, ein gutes Gewissen ist der beste Trost, den es in schweren Zeiten geben kann.“

      „Wenn Sie auf meiner Seite stehen“, sagte Susanne Schäfer, „habe ich keine

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