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geschah es. Ein großer, kantiger Stein flog mitten durch die Fensterscheibe, die klirrend zerbarst. Drunten von der Straße her tönte höhnisches Gelächter herauf.

      Susanne Schäfer stand wie erstarrt.

      Frau Schmitt, aufgeschreckt von dem Lärm, stürzte ins Zimmer, sah das weiße, entgeisterte Gesicht ihrer Untermieterin, die Scherben auf dem Teppich, überschaute die Situation. Sie drehte das Licht aus, zog die Vorhänge zu, knipste die kleine Schreibtischlampe an.

      Susanne Schäfer sah den Stein. Er war gegen den Schrank und wieder zurückgeprallt. Sie hob ihn auf, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.

      Ein Zettel war um den Stein gebunden, ein weißer Zettel, wie aus einem Schulheft herausgerissen. Darauf stand mit häßlichen, verschmierten Druckbuchstaben ein einziges Wort: „Mörderin!“

      „Geben Sie her!“ Frau Schmitt riß Susanne Schäfer den großen kantigen Stein und den Zettel, der darum gebunden gewesen war, aus der Hand. „Was soll das?“

      Die junge Lehrerin war sekundenlang unfähig zu sprechen. Ihre Lippen bewegten sich, aber sie brachte keinen Ton heraus. Sie sah ihre Wirtin mit großen, weit aufgerissenen Augen an, die fast schwarz in dem sehr blassen Gesicht standen.

      Frau Schmitt löste den Zettel von dem Stein, mit dem er durchs Fenster geflogen war, glättete ihn, hielt ihn auf Armeslänge von sich. „Mörderin!“ las sie und fügte fast im gleichen Atemzug hinzu: „Also … das ist doch wirklich die Höhe! Das werden wir uns nicht bieten lassen, Fräulein!“

      Susanne Schäfer schluckte schwer. „Es geht nur mich an, Frau Schmitt“, sagte sie mühsam und war froh, daß ihre Stimme ihr wieder gehorchte, „Sie sind ja nicht gemeint.“

      „So? Finden Sie?“ Frau Schmitts blaue, vom Alter schon ein wenig trüb gewordenen Augen blitzten. „Und wem gehört die Fensterscheibe? Und da … schauen Sie sich das an!“ Sie fuhr mit dem Finger über die tiefe, häßliche Schramme, die der Stein beim ersten Aufprall in das Furnier des Kleiderschrankes geschlagen hatte. „Ist das Ihr Schrank oder meiner?“

      „Ich werde Ihnen den Schaden bezahlen, Frau Schmitt.“

      „Also, das hätte gerade noch gefehlt! Als wenn Sie nicht schon genug mitgemacht hätten! Nein, kommt gar nicht in Frage. Bezahlen werden diejenigen, die das angerichtet haben.“ Frau Schmitt drehte sich auf dem Absatz um, marschierte geradewegs zur Tür.

      Susanne Schäfer war mit wenigen Schritten an ihrer Seite. „Wo wollen Sie hin, Frau Schmitt?“

      „Zur Polizei!“ erklärte die alte Frau entschlossen.

      „Bitte“, sagte Susanne Schäfer, „bitte, tun Sie es nicht! Das hat doch gar keinen Zweck. Wie sollen die denn herausbekommen, wer den Stein geworfen hat … und selbst wenn sie es wüßten, die denken doch gar nicht daran, mir zu helfen.“

      Frau Schmitt blieb stehen, sah die Untermieterin an und fragte erstaunt: „Wie kommen Sie denn darauf?“

      Susanne Schäfer senkte unwillkürlich die Augen vor diesem forschenden Blick. „Das wissen Sie doch selbst ganz genau.“

      „Nichts weiß ich, gar nichts“, erklärte die alte Dame energisch. „Die Polizei ist überzeugt, daß Sie unschuldig sind, wie oft soll ich Ihnen das noch sagen. Denken Sie doch bloß mal nach … sonst hätte man doch längst Anklage gegen Sie erhoben! Sie lassen sich bloß von dem dummen Benehmen der Leute einschüchtern, aber wenn man darauf was gibt, ist man gleich verloren. Nein, ich weiß genau, was ich tue. Ich gehe zur Polizei. Sie werden sehen, sie wird diesem bösen Spuk ein Ende machen!“

      „Aber“, sagte Susanne Schäfer, „es war doch ein Kind, Frau Schmitt! Sehen Sie sich den Zettel an, er ist aus einem Schulheft herausgerissen … und eine solche Schmiererei bringt kein Erwachsener zuwege.“

      Frau Schmitt untersuchte mit kritischen Augen das zerknitterte Stück Papier. „Na ja, Sie mögen recht haben“, gab sie zu, warf aber sofort wieder den Kopf in den Nacken. „Dann werden eben die Eltern dafür einstehen müssen!“

      „Gerade das möchte ich nicht“, erklärte Susanne Schäfer entschlossen, „es ist genug Leid über Eltern und Kinder gekommen. Ich will nicht dazu beitragen, daß es noch schlimmer wird.“

      „Denken Sie doch auch einmal an sich!“ protestierte Frau Schmitt. „Man darf sich nichts gefallen lassen, Fräulein, sonst zieht man immer den kürzeren … Hören Sie auf mich, ich bin dreimal so alt wie Sie, ich kenne das Leben und die Menschen!“

      Susanne Schäfer beugte sich vor, küßte die alte Dame mit flüchtiger Zärtlichkeit auf die Wange. „Vor allem meinen Sie es gut mit mir, und das werde ich Ihnen nie vergessen! Trotzdem … dies ist mein Kampf und mein Schicksal. Lassen Sie‘s mich allein ausfechten, ja?“ Sie nahm Frau Schmitt den Stein und den Zettel aus der Hand, und die Wirtin ließ es sich widerwillig gefallen.

      „Was haben Sie jetzt vor?“ fragte sie. „Wenn Sie schon nicht zur Polizei wollen, dann sollten Sie einen Rechtsanwalt …“ Sie unterbrach sich mitten im Satz, biß sich auf die Lippen, als wenn sie etwas Unpassendes gesagt hätte.

      „Sie dürfen Dr. Wünning ruhig erwähnen“, sagte Susanne Schäfer beherrscht, „das macht mir nichts mehr aus.“ Sie hatte ihre Stimme in der Gewalt, konnte aber nicht verhindern, daß ihre blassen Wangen sich jäh röteten.

      Susanne Schäfer trat auf den Flur hinaus, nahm ihren Mantel von der Garderobe. „Nein“, sagte sie, „was könnte er mir helfen?“ Sie steckte Stein und Zettel in die Manteltasche. „Bis nachher dann, Frau Schmitt … ich werde nicht lange ausbleiben.“

      6

      Tief atmete Susanne Schäfer die frische Abendluft in die Lungen. Seit Tagen war sie nicht mehr auf der Straße gewesen, sie fühlte sich plötzlich wieder befreit, alle Angst war Verschwunden.

      Weit aüsschreitend erreichte sie in wenigen Minuten die Kreuzach, einen schmalen kleinen Fluß, kaum größer als ein Bach, der sich teils unterirdisch durch die alte Stadt und den Kurpark schlängelte.

      Auf der Brücke bei der Promenade blieb sie stehen. Sie nahm den Zettel mit der bösen Anschuldigung aus der Tasche, zerriß ihn in unzählige kleine Schnipsel, ließ sie in das hurtig dahinfließende Wasser hinabschweben. Dann holte sie den schweren kantigen Stein heraus, warf ihn mit kräftigem Schwung von sich.

      Lange starrte sie in das klare, rasch dahinströmende Wasser. Der Fluß war hier nur sehr niedrig, sie konnte im Licht der Laterne die braunen und grünlichen Steine auf dem Grund sehen.

      Aber Susanne Schäfer wußte, daß die Kreuzach draußen vor der Stadt hinter dem Wehr tief und reißend wurde. Im vorigen Jahr hatte man einen jungen Mann dort geborgen, der aus Liebeskummer seinem Leben ein Ende gesetzt hatte. Wer dort einen Sprung wagte, war alle Sorgen los. Der Fluß gab keinen wieder heraus, den er einmal gepackt hatte.

      War das ein Ausweg? Die Rettung?

      Susanne Schäfer war ein gläubiger Mensch. In ihrer Vorstellung war Selbstmord nicht nur Feigheit, sondern auch Sünde. Und dennoch — was blieb ihr, da alle sich von ihr abgewandt hatten, noch anderes als der Tod? Und was hatte sie sonst verdient, wenn sie wirklich das war, was die Leute von ihr hielten — eine Mörderin? Wie konnte sie weiterleben mit dem Gefühl der Schuld, mit dem Gedanken an die verunglückten kleinen Mädchen, die doch ihr anvertraut gewesen waren?

      Susanne Schäfer zitterte nicht vor dem Tod, nicht einmal mehr vor der ewigen Verdammnis. Zu viel war über sie hereingebrochen. Sie empfand es als eine tiefe Beruhigung, als einen wirklichen Trost, daß sie die Kraft haben würde, sich selbst zu richten, wenn es keinen anderen Ausweg mehr gab.

      Sie straffte die Schultern und ging weiter.

      Sie schritt hocherhobenen Kopfes aus, ohne nach links und rechts zu sehen, aber auch ohne vor entgegenkommenden Passanten auszuweichen oder auch nur das Gesicht zur Seite zu drehen. Sie wußte jetzt, wie die Stadt über sie dachte, und nahm es hin — die Jungen, die den Stein geworfen

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