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Der flammende Sumpf. Rudolf Stratz
Читать онлайн.Название Der flammende Sumpf
Год выпуска 0
isbn 9788711507315
Автор произведения Rudolf Stratz
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Der Grossfürst hat die Gnade, mir die Hand zu reichen. Ich ziehe mich mit dreimaliger, ehrerbietiger Verbeugung zurück und sehe noch, durch die sich schliessende Ausgangsportiere, wie die Krasnopolska ihn strahlend am Ohrläppchen beutelt. Und der finstere Machthaber schaut zärtlichfügsam zu ihr auf und lacht . . .
IV
Ich trete aus dem koketten kleinen Palais der Krasnopolska. Ich atme in tiefen Zügen den kalten, herbstlichen Abendnebel der Newa, in dem schon etwas von Schnee und baldiger Winternähe wittert. Der Albdruck wegen des Passes ist von meiner Brust gewichen. Nun bin ich erst wieder Mensch. Nun fühle ich mich erst wieder daheim in diesem riesigen, feierlichen, alten Petersburg. Nun freue ich mich erst wirklich und aus ganzer Seele, wieder im Elternhaus zu sein. Ich fahre dorthin. Ich greife unterwegs alle Augenblicke nach der Brieftasche, die das Innenfutter meiner Weste wölbt, und lächle still vor mich hin . . .
Gott sei gelobt! Ich bin nicht mehr ein Mensch ohne Pass! Es kann wir niemand mehr etwas anhaben! Herausfordernd mustere ich die Stadtsoldaten an den Ecken der Prospekte, die vielen Beamten und Offiziere auf den schon abendlich dunklen Strassen. Überall Uniformen. Wer trägt in Russland keine Uniform? Selbst die Schüler . . . Der grüne Gymnasiast heute nacht . . . Eine Sekunde ist mir nicht wohl zumute — ach was . . . Fahr zu, Iswoschtschik! So — da sind wir . . .
Oben, im hellerleuchteten, blauen Salon geht Papa mit langen, schnellen Schritten auf und nieder. Es ist selten, dass man Papa so unbeschäftigt sieht. Auf seinem glattrasierten, verbindlichen Diplomatengesicht spielt unterdrückte Unruhe. Sien grossen, klugen, grauen Augen spähen, wenn er stehenbleibt, erwartungsvoll auf die Strasse hinunter. Ich trete auf den Fussspitzen an ihn heran und flüstere es ihm glückselig ins Ohr, so dass Mama, die an ihrem Schreibtisch sitzt, nichts hört:
„Papa — ich hab’ ihn! . . . Ich hab’ den Pass . . .“
„Könnte man nur den Kopf der Krasnopolska auf die Schultern unserer Machthaber setzen!“ sagt mein Vater in Gedanken, und schaut hinaus in die schwarze Nacht.
„Uff! Nun ist alles gut!“
„Es ist noch lange nicht alles gut!“ Papa überzeugt sich durch einen Blick, dass Mama ganz in ihre Papiere vertieft ist. Mama hat den grossen Weg von der estländischen Pastorentochter zu der deutsch-russischen Petersburger Exzellenz zurückgelegt. Sie trägt Würden und Bürden in Menge. Sie schichtet drüben am Tisch, leise vor sich hinmurmelnd, Zuschriften vom Vorstend der lutherischen Peterskirche drüben, vom deutschen Handwerkerverein „Zur Palme“, vom deutschen Wohltätigkeitsverein in der Twerskaja, vom deutschen Alexanderhospital. Mein Vater deutet auf die Michailoeskaja hinab.
„Überall auf der Strasse unten steht Geheimpolizei!“ sagt er. „Exzellenz Tschurin kommt in den nächsten Minuten zu mir zur Konsultation!“
„Das hat er doch schon oft getan!“
„Aber nicht, wenn irgendein Verbrecher mit dem Pass meines Sohnes sich durch die Ochrana unten in meine Wohnung einscheicht und ihm auflauert!“
Papa geht unruhig, alle Winkel musternd, durch die hellerleuchteten Zimmer. Er greift im Flur nervös in das Bündel der dort hängenden Pelze und Mäntel, als stände dahinter ein schwarzer Mann. Aber es ist nur Papas Schlittendecke aus Persianerfell. Er kehrt in die Wohnung zurück. Wie lehnen, Papa und ich, am geöffneten Fenster, durch das die kalte Nachtluft hereiweht. Wir schauen zusammen in die Finsternis hinaus. Um uns ist, in der tiefen Stille, jene unheimliche Atmosphäre, die Tschurin voraussendet — der lebensgefährliche Dunstkreis um solch einen russischen Würdenträger herum . . .
Nicht zu erraten, aus welcher Richtung Seine Hohe Exzellenz in die Michailowskaja einbiegen wird. Er haust eigentlich schon ausserhalb Petersburgs, am Ende der Welt, auf der Newaspitze der Apothekerinsel, beim Botanischen Garten, in einer freistehenden, rings von der Polizei bewachten Kronsvilla. Von da fährt er, jedesmal verschieden, über irgendwelche Brücken auf unvermuteten, weiten Umwegen in die Innenstadt. Er kann selbst von der Wilhelmsinsel herkommen, aus der Wiborgschen Vorstadt — wer weiss es . . .
Papa erzählt mir das halblaut, während wir lauschen und warten. Alles still. Nun jäh — durch das Schweigen der Nacht — in der Richtung von der Simeonbrücke her, ein kurzer, scharfer Knall. Gleich darauf noch einer. Wieder tiefe Ruhe . . .
„Man hat auf ihn geschossen!“ sagt mein Vater. In den dunklen Gruppen der Ochrana unten auf der Strasse ist eine erwartungsvolle Bewegung. Ein Zweispänner biegt in ruhigem Trab um die Ecke. Hält vor unserem Haus. Ein kleiner, dürftiger Herr in schwarzer Lammfellmütze und schwarzverschnürtem, pelzbesetztem, dunklem Mantel, steigt schnell aus und verschwindet, geräuschlos in seinen Galoschen, im Tor wie eine Ratte im Loch.
Wir beobachten es durch das geöffnete Fenster. Dann eilt mein Vater dem hohen Besuch an die Flurtür entgegen. Tschurins gelbliches, faltiges Gesicht zwinkert so schläfrig wie sonst mit den halbgeschlossenen, stechenden Augen. Er muster sich aufmerksam im Spiegel. Er fährt sich mit der welken Hand über den spärlich behaarten Grauschädel und den dünnen, grauen Spitzbart und reicht sie dann meinem Vater.
„Durch wen diese Spitzbuben es nur immer wissen, wohin ich in Peterburg fahre!“ sagt er kopfschüttelns, widerwillig anerkennend, in seiner leisen, höflichen Art. Etwas Nervosität zittert doch in der Stimme. Aber seine undurchdringlichen, still aufmerksamen Züge heucheln tiefste Gleichgültigkeit.
„Schoss man wirklich auf Eure Hohe Exzellenz?“
„Man schoss. Zweimal. Beide Male daneben. Aus einem Fenster im zweiten Stock eines Hauses, gleich hier um die Ecke hinter dem Justizministerium! Unter den Augen des Justizministers — das ist ein Bonmot für morgen!“ Boris Tschurin kichert plötzlich mit einme fuchsschlauen Aufflimmern der grünlichen Pupillen fast lautlos in sich hinein. Er scheint dem Justizminister nicht gewogen. Wo hat er keine Feinde?
„Hat man den Übeltäter festgenommen, Eure Hohe Exzellenz?“
„Noch weiss ich es nicht! Die Gendarmen drangen in das Haus. Ich fuhr sofort weiter. Man darf sich bei solchen Gelegenheiten nie aufhalten. Man weiss nie, wer sich noch in der Nähe befindet! Denken Sie an das Schicksal des Zar-Befreiers — gerade dort drüben, Ihrer Wohnung gegenüber. Auch ihn traf erst der zweite Bombenwurf! Nun — und was ware an mir gelegen?“ Der Vater der Lüge fasst sich an seine grosse, kolbige Nase und trippelt, schwächlich, zittrig vor meinem Vater in die Zimmerflucht. „Ein Diener des Zaren weniger! Aber dieselbe ruchlose Hand, die heute auf mich zielt, richtet sich morgen gegen den Imperator! Diese bevorstehende Reise nach der Krim . . . Mir stockt das Blut, wenn ich an alle Möglichkeiten denke . . . Es muss vorher völlige Beruhigung geschaffen werden . . . Mit allen Mitteln . . .“
Er seufzt. Er sieht eine Sekunde alt und verfallen aus. Er lächelt liebenswürdig wie ein alter Pariser. Er reicht mir seine Hand. Sie ist eiskalt gleich der eines Toten.
„Lassen Sie sich morgen im Salon meiner Frau sehen! Ich sprach ihr von Ihnen!“ versetzt er höflich. „Und nun zur Konsultation!“
Papa geleitet, mit den gewandt gleitenden Bewegungen eines alten Hofmarschalls, den hohen Besuch in sein Studierzimmer.
„Es muss etwas für Ihre Gesundheit geschehen!“ lispelt er dabei. „Eure Hohe Exzellenz beherrschen sich mit bewunderungswürdiger Energie. Aber dem Auge des Arztes entgeht die Erschöpfung Ihrer Nerven nicht!“
„Nun — wie sollte ich mich wohlbefidnen — ich — der Vater einer dem Antichrist verfallenen Tochter?“ versetzt Boris Tschurin leise und trocken. „Noch weiss ich nicht, ob sie es war, die in Russland eindrang . . . dieser Gymnasiast im Wirballener Zug. Noch ist Hoffnung, das seine andere Übeltäterin — Man ist ihr auf der Spur . . . doch immerhin . . . oh, die Welt — Kommen Sie, Professor . . .“