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Der flammende Sumpf. Rudolf Stratz
Читать онлайн.Название Der flammende Sumpf
Год выпуска 0
isbn 9788711507315
Автор произведения Rudolf Stratz
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Durch die staubigen kleinen Fenster der niederen hölzernen Villa sehe ich fern, zwischen laubleerem Parkgeäst und silbernen, windgekräuselten Seen den dreistöckigen Riesenpalast des Zaren mit seinen sechshundert Sälen und Gemächern, seinen seitlichen Säulengängen und Kavaliersbauten. Vor der mannshohen Mauer, die den Park gegen die Stadt zu abschliesst, karren Bauernwägelchen, spielen Kinder, gehen Bürgerfrauen spazieren. Aber zwischen ihnen reiten über die löcherigen Strassen die Kosaken mit rotgestreiften Hosen auf ihren struppigen Kleppern, alle Parktore sind grün von Gendarmerie, hinter jedem zehnten Baum lehnt ein Geheimpolizist in Bürgerkleidung. Alle die rothemdigen Arbeiter, die sich auf den Wiesen und Wegen zu schaffen machen, stehen im Dienst der Ochrana. Weiter gegen das Schloss zu spannt sich eine vielhundertfache Sperrkette der, sämtlich genau gleich grossen, russisch stumpfnasig ausgesuchten Mannschaften des Pawlowschen Regiments. Vor dem Palastportal bummeln baumlange Berg-Kaukasier des Leib-Garde-Convois in ihren roten, mit Patronentaschen benähten Knieröcken. Im Innern, auf den Paradetreppen, stehen wohl noch, mit geschultertem Pallasch, in schimmerndem Kürass, die Chevaliergarden. Dann beginnt esft, vor den Gemächern des Zaren, die eigentliche, persönliche Bewachung.
„Vor wenigen Wochen“, sagt langsam, meine Gedanken erratend, mein Vater, „fan der Zar morgens mitten auf seinem Schreibtisch sein Todesurteil. In seiner Erregung hat er, einige Tage drauf, den diensttuenden Flügeladjutanten erschossen. Dieser ahnungslose arme Graf hatte nicht bedacht, dass der dicke Teppich sein Sporenklirren dämpfte. Er tart zu hastig und lautlos hinter den Stuhl des Selbstherrschers, der ihn für einen Attentäter hielt. Aber du hörst ja gar nicht zu! Was hast du denn?“
„Weisst du, we rich bin?“ breche ich verzweifelt los. „Ein Mensch ohne Pass bin ich!“
„Was? . . .“
„Ein Mensch ohne Pass!“
„Um Gottes willen: Wie kann man seinen Pass verlieren?“
„Gestohlen wurde er mir!“ stöhne ich und erzähle alles. Als ich ende, ist das weltkundige Antlitz meines Vaters bleich vor Schrecken, aber ruhig. Er lässt sich schon lange nicht mehr von russischen Dingen überrumpeln. Er hat sich schon blitzschnell alles zurechtgelegt.
„Vor allem muss die Sache natürlich vollkommen vertuscht werden!“ versetzt er. „Die politische Polizei darf überhaupt nichts davon erfahren! Du must heute noch hinter ihrem Rücken einen neuen, gültigen, um zwei Jahre zurückdatierten Pass bekommen! Sollte dann die dritte Abteilung dich fragen, wo dein Pass geblieben ist, so zeigst du diesen neuen Pass vor und erklärst: ,Falls sich ein Verbrecher eines Ausweises auf meinen Namen bedient, hat der Halunke dieses Papier eben raffiniert gefälscht’!“
Ein wenig löst sich mir der lähmende Druck von der Brust. Papa furcht in tiefen Gedanken, als gälte es eine mathematische Preisaufgabe zu lösen, die glatte, hohe Stirne.
„Die Schwierigkeit ist nur, den Pass zu beschaffen!“ murmelt er.
„Wäre da nicht Exzellenz Tschurin . . .?“ wage ich zu fragen.
Ein rätselhaftes, düster-resigniertes Lächeln meines Vaters. Papa kann manchmal merkwürdig ironisch lächeln, so als zucke er, in kurzen Augenblicken der Besinnung, im stillen die Achseln über den Lauf der Welt, über sich, über Russland . . .
„In allen Dingen kann Tschurin helsen!“ sagt er. „Nur gerade hier nicht, mein armer Junge! Hier hat er selbst das Skelett im Hause!“
„Ich verstehe nicht . . .“
„Har er nicht vorhin erwähnt, das ser zwei Töchter hat?“
„Eine — die Irina!“
„Zwei!“
„Die andere, die Ljuba, ist doch, wie er sagt, tot . . .“
„ . . .und lebt! Mit achtzehn Jahren verliess sie das Elternhaus und ging ,ins Volk’, wie diese Feinde der Gesellschaftsordnung es nennen. Seit vielen Jahren lebt sie illegal!“
Illegal . . . Ich muss mir erst wieder die russische Bedeutung dieses Wortes in die Erinnerung zurückrufen. Illegal — so heissen hier die politischen Verschwörer, die, um den Verfolgungen der Polizei zu entgehen, ihren Namen abgelegt haben, ihre Herkunft verleugnen, und unangemeldet, unter wechselnder Verkleidung, da un dort in immer neuen Schlupfwinkeln hausen.
„Diese Ljube — das älteste Kind Tschurins“, erzählt Papa, „ging damals in das Tulasche Gouvernement und organisierte dort die Gewehrarbeiter. Man nahm sie fest und begnügte sich, aus Rücksicht auf den Vater, damit, sie in Sibirien anzusiedeln. Nach kurzem war sie wieder da. Sie wurde verhaftet . . . Gott weiss es, wie sie aus der Peter-Pauls-Festung herauskam und nach Zürich floh. Seitdem lebt sie dort. Man beobachtete sie durch die Geheimpolizei auf Schritt und Tritt. Aber . . .“
Mein Vater schliesst plötzlich seine schmalen feinen Lippen, als wollte er einen sich zum Wort formenden Gedanken im letzten Augenblick zurückhalten. Er schüttelt den Kopf.
„Nein! Lassen wir Tschurin! Hier brauchen wir einen noch viel Höheren! Für einen Grossfürsten gibt es in Russland keine Gesetze. Nur das Machtwort des Grossfürsten Oleg Igorowitsch, meines allerdurchlauchtigsten Patienten, kann uns den Pass verschaffen!“
Papa wird lebhaft.
„Ich sehe jetzt bakd drüben im Schloss als Arzt den Grossfürsten! Aber man muss vorsichtig sein — ganz unendlich vorsichtig! Solch eine Bitte mitten ins Gesicht . . . Wer kann wissen . . .? Nein: Umwege sin dimmer besser . . . Fahre du jetzt sofort mit dem nächsten Zug nach Petersburg und dort in das Palais des Grossfürsten zu deiner Base Magna. Sie ist die Erzieherin seiner Kinder. Sie kennt sich im Palais aus. Sie ist klug. Sie wird dir besser, als ich es kann, verraten, auf welche besonderen und eigentümlichen Beziehungen e shier vor allem ankommt.“
Eine dralle, barfüssige Dirne trat, ein rotes Tuch auf dem Flachskopf, mit Tee und Brot und Butter herein. Mein Vater schob sie zur Seite. „Wir haben keine Zeit, Mascha! . . . Komm!“ Dabei war er schon an der Tür. Wir sprangen in das harrende Wägelchen. Zurück zum Bahnhof! Dort stand schon der örtliche Zug nach Petersburg. Ich wollte in einen Wagen treten. Da sehe ich, wie Papa eine Bewegung macht. Er begrüsst den Wirklichen Geheimrat Tschurin, der soeben verstört, mit quittengelbem, spitzbärtigem Fuchsgesicht, vom Zarenschloss zurückkehrend, aus der Troika steigt.
„Sie müssen mir helfen, Professor, bei der Konsultation heute abend!“ versetzt er leise, schnell, matt, ohne meine Anwesenheit zu beachten. „Sie müssen meine Nerven beruhigen. Ich befinde mich in einer Erregung, dass ich kaum mehr meinen Dienst zu versehen vermag . . .“
„Ich werde mein Bestes tun, durchlauchtige Exzellenz, um wenigstens die Symptome dieser Erregung zu beseitigen, deren Ursache ich ja nicht kenne und wahrscheinlich auch nicht kennen darf.“
„Warum sollte ich sie Ihnen nicht nennen!“
Der graue, faltige Fuchskopf dreht argwöhnisch seine grünlichen Lichter nach rechts und links, wo ringsum, als harmloses Bolk aller Art verkleidet, die Ochrana ihn beschattet. Seine Stimme sinkt zu einem erschöpften Flüstern. „Unter uns: wir sind in höchster Besorgnis. Wir haben Meldungen von neuen, umfassenden, verbrecherischen Anschlägen wider den Imperator vom Ausland her. Mehrere der gefährlichsten Bösewichte haben zu diesem Zweck bereits die Schweiz verlassen. Mit ihnen ist auch — mein Gott, machen wir uns doch nichts vor — es ist ja kein Geheimnis — meine verstorbene Tochter Ljuba lebt in Zürich . . .“
„Ich weiss es.“
„Die Unselige ist seit einigen Tagen aus Zürich verschwunden. Sie ist auf dem Weg nach Russland. Alle Polizeiorgane besitzen den Steckbrief. Man wird sie schon an der Grenze verhaften.“
„Wenn dem so ware . . .“
„Und dismal wird es furchtbarer Ernst. Man hat dieses Jahr schon Sophie Günsberg zum Tode am Galgen verurteilt. Gleich nach ihr Olga Iwanowskaja, deren Vater doch ein hoher Reichsbeamter war. Wie — wenn man nun Ljuba beim Betreten Russlands festnimmt — wir haben diesesmal alle Massregeln getroffen — keine maus kann an irgendeiner Stelle