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der Schwarznägelige und der Gymnasiast, können nicht aus dem Zug in die Dunkelheit hinaus springen. Man hat Zeit. Ich kann aufstehen und die Korridore entlanggehen und die Zugbeamten im Gepäckwagen wecken. Aber was vermögen diese paar armen, waffenlosen Schaffner gegen zwei zu allem entschlossene Verbrecher, die wahrscheinlich apfelgrosse Sprengbomben in ihren Hosentaschen mit sich führen? Und der Wärter unseres Wagens gar ist ein stumpfer Greis. Ich sah ihn vorhin schon mit offenem, zahnlosem neben dem grossen Kupfersamowar unter dem Kreuz des Heilands schlummern. Nein: es war entschieden besser, bis zu einer der seltenen Haltestellen an einem grösseren Ort zu warten. Dort — dessen konnte man in Russland sicher sein — gab es auf dem Bahnhof bei Tag und Nacht schwerbewaffnete energische Gendarmen. Und, wie um mich aller Zweifel zu entheben, verlangsamte der Zug seine Fahrt durch die Nacht. Hielt. Lichter tauchten auf. Lange Holzschuppen. In grossen russischen Lettern leuchtet der Name der Station: Pskow. Oder Pleskau, wie es noch ein Jahr zuvor hiess.

      Draussen hallen, da und dort durcheinander, schwere Tritte auf dem hölzeren Boden. Ich recke mich verschlafen. Ich zünde mir eine Papyros an. Ich schlendere langsam auf den Gang hinaus. Meine beiden Abteilgefährten schlummern und merken von nichts. Ich trete auf den Bahnsteig. Reisende tummeln sich da mit Kissen un Betttüchern. Gepäckträger. Ein paar übernächtige Beamte. Aber keine Gendarmen. Ich gehe suchend nach vorn, den Zug entlang. Da ist er schon zu Ende. Da starren schon die Stapel von Feuerungsholzscheiten auf dem Tender im nächtlichen Funkenleuchten der Lokomotive. Ich kehre um und höre zugleich von einer laut schallenden, fragenden Stimme über den Bahnsteig hin meinen Namen:

      „Gospodin Küster!“

      „Hier Doktor von Küster!“ antworte ich und spähe zugleich weiter nach der unsichtbaren Gendarmerie. Ein höherer Stations-Tschinownik läuft aufgeregt auf mich zu. Er schwenkt ein Blatt in der Hand:

      „Hier ist eine Eisenbahndepesche, an Gospodin Küster, im Schnellzug Wirballen—Petersburg!“

      „Gut! Geben Sie!“ Ich will weiter. Dort, ganz hinten, gerade am anderen Ende des Zuges, sehe ich endlich die weissen Leinenröcke und Pluderhosen der Gendarmen. Der Beamte tritt mir in den Weg. Er stottert vor Ehrerbietung:

      „Eine Kronsdepesche aus Gatschina, Euer Wohlgeboren! Aufgegeben in der Kanzlei des Hofministeriums . . .“

      Also eine Nachricht von Papa! Papa wird oft zu ärztlichen Konsultationen hinaus nach Gatschina berufen. Irgendein Ehrenfräulein hat den Schnupfen oder ein Hofmeister die Gicht. Deswegen erledigt Papa seine Drahtung an mich aus den Mauern des Schlosses von Gatschina. Das ist nichts Besonderes . . .

      „Belieben Sie einen Augenblick zu warten!“ sage ich zu dem Gehilfen des Stationschefs. Ich sehe jetzt: die Gendarmen schreiten den Zug entlang, von Wagen zu Wagen. Ich laufe auf meinen Wagen zu. Als ich dort ankomme, stehen die Gendarmen gerade in meinem Abteil.

      Das Abteil ist leer.

      Einfach leer. Die beiden Knjäse sinf verschwunden. Der Zugführer mit den rotsilbernen Achselschnüren neben den Gendarmen deutet auf mich:

      „Dies ist der Barin, der mit in dem Abteil sass!“

      Ein finsterer Blick des einen Gendarmen prüft mich.

      „Wer war mit Ihnen in diesem Abteil?“

      „Zwei junge Leute. Ein Älterer mit einem Jüngeren in kaiserlicher Gymnasiastenuniform!“

      „Waren die beiden noch hier, als der Zug in Pskow einfuhr?“

      „Ja.“

      „Wohin sind sie geraten?“

      „Ich weiss es nicht. Ich trat auf den Bahnsteig hinaus.“

      „Warum? Mitten in der Nacht?“ Das Misstrauen in der Stimme des Gendarmen wächt. Es klingt darin: du hast wohl da draussen Wache gestanden, während die beiden entschlüpften?

      „Ich hörte meinen Namen rufen! Man wollte mir eine eilige Kronsdepesche übergeben!“ versetzte ich gleichgültig. Und neben mir der Stationsgehilfe, zitternd vor Diensteifrigkeit und Untertänigkeit.

      „Eine Depesche aus der Kaiserlichen Hofkanzlei an Seine Wohlgeboren!“

      Der Gendarm nimmt das Blatt. Er liest:

      „Ich bin in Gatschina. Steige dort aus, damit ich Dich sobald wie möglich wieder in der Heimat umarme. Ich erwarte Dich auf dem Bahnhof. Dein treuer Vater.“

      „Nun — und was für ein Vater ist das?“ Die Stimme des Gendarmen wird unsicher und milder. Der Tschinownik berichtet flüsternd:

      „Exzellenz von Küster. Hofarzt seiner Kaiserlichen Hoheit des Grossfürsten Oleg.“

      Der Gendarm legt ehrerbietig die Hand an den breiten Mützenschirm, während er mir das Telegramm zurückgibt. Er fragt gedämpft und respektvoll:

      „Haben Euer Wohlgeboren mit den beiden Mitreisenden gesprochen?“

      „Nur beim Einsteigen mit dem Älteren ein paar gleichgültige Worte wegen unserer Plätze.“

      „Kannten Sie diese Leute?“

      Das ist die entscheidende Frage. Mich durchzuckt die erste instinktive Regung des russischen Untertanen: Nur nichts mit Gendarmerie und Polizei zu tun zu haben! In das Protokoll geschrieben ist der eigene Name leicht. Aber durch wieviel absichtlich unnütze, zeitraubende Verhöre werden nachher die Bestechungsgelder von einem erpresst, damit der Name endlich wieder aus den Akten verschwindet! Wenn ich hätte helfen können — gewiss! Ich hatte ja die beste Absicht, das unheimliche Paar dem Arm der Obrigkeit zu überantworten. Ich war auf dem Wege. Aber nun sind sie fort. Was nutzt es jetzt, wenn ich sage: „Der Gymnasiast war ein Mädchen!“ Das wissen die Gendarmen vor mir ohnedies wahrscheinlich schon ganz genau. Ich mache mich damit nur ohne Not verdächtig, als wüsste ich noch mehr. Bestenfalls komme ich in die Geheime Überwachungsliste der dritten Abteilung und habe noch nach Jahren Scherereien und Hinderniffe, ohne dass ich weiss, woher — gerade ich — ein junger Mann mit besten Beziehungen, der in Petersburg Karriere machen will! Ich entschliesse mich, die Wahrheit zu sagen und doch nicht ganz die Wahrheit:

      „Wie sollte ich die beiden kennen?“ versetzte ich. „Ich habe sie bisher niemals in meinem Leben gesehen. Ich hörte nur in Wirballen durch den örtlichen Passrevisor, es seien zwei aus dem Ausland heimkehrende junge Knjäse!“

      Der Gendarm nickt nur trübe. „Die Zwei haben leider Gottes das Grenz-Examen als Fürsten bestanden. Irgendwie mussten sie also in der hohen Welt Russlands Bescheid wissen. Wenigstens der bleiche, brünette Gymnasiast. Der andere, mit den schwarzen Nägeln, sah freilich einem Popensohn ähnlicher als einem Nachkommen Ruriks.“

      „Die beiden müssen durch das offene Fenster nach der Rangierseite hinausgeklettert sein!“ murmelt der Oberkonduktor mit den rot-silbernen Tressen.

      Unwillkürlich blicken wir alle nach den Rangiergeleisen und in die Nacht hinaus. Es ist draussen so dunkel, dass man kaum die Umrisse der nächsten, da stehenden, mit Holz beladenen Güterwagen erkennt. Man sieht nichts von Pskow, nichts von seinem Kreml und der Pleskauer Kathedrale in seiner Mitte. Diese pechschwarze Finsternis hat die gefährlichen Eindringlinge verschluckt. Jetzt sind sie irgendwo in der grossen Weite, in der Nacht über Russland.

      Der Gendarm grüsst mich schweigend und dienstlichstramm und geht resigniert mit den anderen weiter. Sie stöbern wohl noch planlos im Zug herum, ob sich die zwei da irgendwo versteckt halten. Aber darauf ist wenig Hoffnung. Da stapfen die Gendarmen auch schon alle kopfschüttelnd in ihren schweren Kniestiefeln auf den Bahnhof hinaus. Die Glocke läutet. Wir fahren.

      Nun habe ich das ganze Abteil für mich. Aber ich sitze unruhig aufrecht. Die Geschichte hat mich aufgeregt. Ich ärgere mich hinterher: Warum, zum Teufel, musste ich plötzlich aufwachen und diesen verwünschten Gymnasiasten bei seinem Tun beobachten? Ich habe doch sonst einen Schlaf wie ein Bär an Christi Erscheinungstag. Was hat mich eigentlich geweckt? Hätte ich, nach meiner gewohnten Art, durchgeschlummert, so wüsste ich jetzt von gar nichts, und mein Gewissen wäre völlig rein . . .

      Immerhin gut, dass man aus der Sache wieder heraus

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