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Der flammende Sumpf. Rudolf Stratz
Читать онлайн.Название Der flammende Sumpf
Год выпуска 0
isbn 9788711507315
Автор произведения Rudolf Stratz
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
In der kurzen Stille nach seinem Weggang tritt plötzlich ein gut aussehender junger Mann mit den melancholischen, länglichen Zügen eines Kleinrussen vor das Mädchen im Schaukelstuhl hin und versetzt ganz laut und traurig, mit stiller Verzweiflung in der Stimme:
„Warum wollen Sie mich nicht heiraten, Irina Borissowna?“
Sie antwortet nicht. Sie schaukelt weiter und sieht den Frager über den Rauch der Papyros hinweg seelenruhig an. Jetzt weiss ich, was ich die ganze Zeit schon hoffte: Dies Mädchen ist die Tochter des Hauses, Irina Tschurin, das ehemalige Hoffräulein der greisens Grossfürstin Marija Petrowna. Der alte Tschurin heisst der Vater der Lüge. Aber er hat gestern in Gatschina wahrlich nicht zuviel von der Schönheit seiner Jüngsten gesagt. Der junge Mann vor ihr stammelt zerknirscht — er weiss in seiner Verliebtheit offenbar kaum mehr, was er redet.
„Einmal müssen Sie doch heiraten!“
„Weshalb denn?“ Irina Tschurin hebt neugierig die braunen Augen und streift dei Asche ihrer Zigarette ab.
„Ich bin vielleicht der reichste Erbe Russlands“, stottert der verstörte junge Mann weiter. „Unsere Kiewer Zuckerfabriken . . . Wenn schon Ihr Herz nicht spricht — warum lassen Sie den Verstand nicht wählen? Warum werfen Sie mich zu den übrigen?“
„Du bist da in einer sehr guten und zahlreichen Gesellschaft“, sagt einer seiner Freunde, und führt den vor Liebeskummer unzurechnungsfähigen jungen Krösus aus dem Zimmer.
Ein anderer lacht: „Man wollte schon in Petersburg einen Klub der abgewiesenen Freier gründen. Aber man fand keine Räume, die gross genug waren!“
Irina Borissowna tat, als hörte sie es nicht. Der Mönchpriester Damaskin beugt sich von hinten über ihren Schaukelstuhl. Sie wendet ihren schönen Kopf über die Schulter zu ihm empor. Die beiden unterhalten sich eifrig un leise, wie alte Freunde. Dann erklärt Irina mit einem Blick in die Runde:
„Ich bereite bei Vater Kyrill meinen Eintritt in ein Nonnenkloster am Weissen Meer vor. Ich verschiebe es von Monat zu Monat. Es ist feige von mir, mich Gott zu entziehen. Aber bald bin ich entschlossen!“
Und mit hellerer Stimme — plötzlich ein paar unheimliche, düstere Querfalten auf der niederen, weissen Stirn:
„Neulich schon, als ich Jan Aymerich da drinnen in seinem Helbschlaf die Hand auf die Stirn legte, hat er mir Scgreckliches für die Zukunft prophezeit! Was — wollte er durchaus nicht sagen!“
„Wahrscheinlich war der Spitzbube betrunken“, brummt neben mir ein Infanterist, der nicht zur Garde gehört, in dies vornehme Haus? Ich erkenne meinen Vetter Sascha von Etwein vom Revaler Armeekorps, von dem ein Teil auch in Petersburg steht. Er drückt mir die Hand und erläutert.
„Ich habe Gott sei Dank Verbindungen! Ich betreibe meinen Austritt aus der Armee und meine Einstellung in das Gardekorps. Hier, in diesen Räumen, werde ich es erreichen! Wie? — Du kennst Irine Borissowna noch nicht? Was hast du im Westen für Formen gelernt? Komm — ich werde dich vorstellen!“
Mein Herz hämmert. Ich stehe vor Fräulein Tschurin. Sie reicht mir geistesabwesend ein paar Fingerspitzen. Es würgt mich in der Kehle vor Glück und Angst. Ich möchte ihr etwas sagen. Aber da raschekt schon ihre Schleppe wie eine Schlange über den Teppich. Sie stürmt auf Monsieur Jules Ruben zu, den spitzbärtigen Finanzmann mit dem roten Bändchen der Ehrenlegion auf der Rockklappe. Er soll ihr von den neuesten Pariser Wintermoden berichten! Ich bin für sie so interessant wie eine Fliege. Ich ziehe mich betrübt in einen Winkel zurück. Mein Vetter Etwein steht neben mir.
„Wer ist denn nur diese Irine Borissowna?“ frage ich erbittert, beinahe mit Tränen im Auge.
„Ein Rätsel!“
„Wie, Sascha?“
„Oder das Rätsel! Das grosse Rätsel von Petersburg. Über das zerbrechen sich ganz andere Leute als du den Kopf!“ sagt Alexander von Etwein. Er ist nu rein Linienleutnant, aber ein fixer Junge. Er hat in Petersburg die Augen offen gehalten. Er bewegt sich schom mit der Sicherheit eines Preobraschenzen oder Chevalier-Garden auf dem Parkett dieser Newa-Salons, das so glatt ist wie das Eis der Newa selber, und dem Ungewohnten so gefährlich, wie ihr braunes Moorwasser dem Durstigen.
„Sie ist zweiundzwanzig!“ sagt er halblaut zu mir, mit einem Blick auf die lachende Sphinz dort drüben. „Sie ist schön wie eine göttin. Sorgfältig im kaiserlichen Institut erzogen. Ehrenfräulein im Hause Romanow. Ihre Mutter eine Fürstin. Ihr Vater Hohe Exzellenz. Vor zwei Jahren kam er zu seiner heutigen Macht. Warum nutzt sie nicht die Zeit, wo sie auf der Höhe ist? Sie braucht nur zu wählen. Petersburg liegt zu ihren Füssen. Die Männer sind blind und toll. Du sahst den Unzurechnungsfähigen — den Erben von hundert Millionen —, den man vorhin wegbrachte. Nun — derlei erlebt sie jeden Tag. Und gähnt — oder lacht — oder wirft mit dem Pantoffel — je nach ihrer Stimmung . . .“
„Und was bedeutet das?“
„Das ist es ja: worauf wartet sie? Heute zittert Petersburg noch vor ihrem Vater. Morgen vielleicht schon ist er tot. Einmal, in kurzer Zeit, sicherlich! Dafür werden die Feinde des Staates schon sorgen! So gewiss jeder Stadthauptmann von Petersburg ermordet wird, so gewiss stirbt ein Mann in der Stellung Tschurins nicht in seinem Bett. Dann sind für die Tochter die Tage des Glanzes vorbei. Kümmert sie das? Nicht im gerungsten! Sie lacht . . . Sie macht sich über uns luftig — sie lebt gedankenlos hin wie der Sperling im Sommer . . .“
„Ist sie denn so einfältig?“
„Eine Tochter Tschurins und der alten Fürstin? Sie hat von beiden den Verstand geerbt. Sie ist wie geschaffen für das Leben in grossem Stil. Sie verschmäht es. Ihr Gerede vom Kloster ist auch nicht ernst. Da steckt etwas anderes dahinter, was niemand weiss. Da würde selbst der Scharfsinn der dritten Abteilung versagen!“
Die dritte Abteilung — Boris Tschurins furchtbares Werkzeug . . . Und doch geschehen auch da Dinge zwischen der Apraxin- und der Tschernitschew-Gasse, von denen selbst er nichts ahnt. Mein neuer Pass . . . Seine Tochter Ljuba, die Abtrünnige — die Verbrecherin — die in Peters burg herumläuft, und die Polozei sieht sie und kann sie nicht fassen . . .
Wieder steht das Bild des bleichen, schmächtigen, grünen Gymnasiasten vor mir. Ich merke jetzt erst, wie es mein Bleigewicht auf der Brust bei Tage, der Albdruck meiner Träume war. War . . . Denn jetzt geschieht etwas Merkwürdiges: die Umrisse Ljuba Tschurins werden vor meinem inneren Auge schattenhaft — sie schwinden, sie lösen sich in der strahlenden Gestalt ihrer Schwester Irina drüben auf, wie der Nebel vor der Sonna.
Dia schöne Irina steht dort zusammen mit meinem Vetter Sascha. Wie gesagt: das ist ein fixer Junge! Er kann mehr wie Brot essen! Er hat die hoffnungsvoller junger Mann in den Petersburger Sphären so nötig braucht wie das tägliche Brot. Er versteht es, sich geschmeidig an junge Frauen und alte Würdenträger heranzupirschen. Er erzählt Fräulein Tschurin etwas, das sie offenbar interessiert. Sie ist, gegen ihre Art, nicht zerstreut, sondern hört ihm gespannt zu.
Und während mein Blick ihr Bild trinkt, geht eine merkwürdige, aber mir ganz deutlich bewusste Wandlung in mir vor. Plötzlich, in einem Licht von oben, wird es mir klar: nicht ie mitternachtsstunde, in der Ljuba Tschurin mir meinen Pass, stahl, sondern diese Nachmittagsstunde, in der ich jetzt eben Irina Tschurin begegnet bin, ist der entscheidende Augenblick meines Daseins . . .
Und wie ich Irina aus meiner Ecke heraus mit den Augen des Verliebten liebkose — denn jetzt gebe ich mich gar keinem Zweifel mehr darüber