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die diese ihrer nationalen Eigenschaften entkleidete.« Im Gegensatz dazu trug »die Haskala in Osteuropa einen zutiefst nationalen Charakter. Wenn diese Bewegung im Westen die Konfessionalisierung erstrebte, so wollte sie im Osten die Säkularisierung.«31

      Dieser nationale Inhalt der Emanzipation ist sowohl Resultat der Natur des zaristischen Staates – multinational, autoritär und antisemitisch – als auch der Situation der jüdischen Bevölkerung. Ihre Lebensbedingungen weisen alle Merkmale einer typischen Paria-Situation auf: Absonderung, Diskriminierung, Verfolgungen und Pogrome, territoriale Konzentration im Ghetto und im Schtetl, gemeinsame Kultur und gemeinsame Sprache, das Jiddische.

      Natürlich haben viele jüdische marxistische Intellektuelle eine Bezugnahme auf jüdische Nationalität und Kultur strikt abgelehnt. Beim Bund und den sozialistischen Zionisten sah das anders aus. Es genügt, sich an die berühmte Antwort Trotzkis auf die Anfrage des Bundisten Medem beim Kongreß der russischen sozialdemokratischen Arbeiterpartei im Jahre 1903 zu erinnern: »Ich gehe davon aus, daß Sie sich entweder als Russe oder als Jude betrachten?« »Nein«, antwortete Trotzki, »Sie irren sich. Ich bin einzig und allein Sozialdemokrat …«

      Die jüdische Identität, ob sie nun akzepiert oder abgelehnt wird, ist zumindest seit den schrecklichen Pogromen im Jahre 1881 eine nationale und kulturelle Identität, nicht mehr eine ausschließlich religiöse. Im Gegensatz zu Deutschland gibt es im Zarenreich sehr wenig Juden, die sich als »russische Staatsbürger jüdischen Glaubens« betrachten.

      Um die atheistische und weltliche Orientierung der revolutionären Intelligenz Osteuropas besser zu verstehen, sollte man ebenfalls den im eigentlichen Sinne religiösen Aspekt der Haskala und seine Konsequenzen etwas genauer untersuchen. In Deutschland ist es der Haskala offensichtlich gelungen, die jüdische Religion »aufzuklären«, zu modernisieren, zu rationalisieren und zu »germanisieren«. Die jüdische Reformbewegung, angeführt von dem Rabbiner Abraham Geiger (1810–1874) und die »historische Schule«, eine etwas gemäßigtere Strömung des Rabbiners Zacharias Frankel (1801–1875), gewannen in den religiösen Institutionen der jüdischen Gemeinden die Oberhand. Sogar die neoorthodoxe Minderheit unter Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) akzeptierte bestimmte Reformen und Wertvorstellungen der deutschen Säkularisierung.

      Die jüdische Religion wurde in Deutschland und bis zu einem gewissen Grad in ganz Mitteleuropa reformiert. Sie erwies sich als geschmeidiger und aufgeschlossener solchen äußeren Einflüssen gegenüber, die vom Neukantianismus (Hermann Cohen) oder von der Neuromantik (Martin Buber) an sie herangetragen wurden. Demgegenüber blieb die Welt der religiösen Traditionen im östlichen Teil Europas weitgehend intakt und verschlossen. In unbeugsamer Strenge wurde jede Bereicherung durch eine andere Kultur zurückgewiesen. Dieser quietistische Messianismus des orthodoxen, rabbinischen oder chassidischen Milieus, der der politischen Sphäre nur Gleichgültigkeit entgegenbrachte, konnte zu einer weltlichen Utopie keinerlei Verbindung aufnehmen und lehnte sie wie einen Fremdkörper ab. Man mußte sich erst von dieser Art von Religion emanzipieren, atheistisch werden und »aufgeklärt«, um sich Zugang zu verschaffen zur »veräußerlichten« Welt revolutionärer Ideen. Demnach ist es nicht erstaunlich, daß sich diese vor allem innerhalb jüdischer Ansiedlungsgebiete entwickelten, die von jeder religiösen Praxis weit entfernt waren wie zum Beispiel Odessa, das die Orthodoxen als wahre Fischerspelunke betrachteten.

      In diesem Zusammenhang entwickelt sich bei den progressiven jüdischen Intellektuellen ein heftiger »Antiklerikalismus«, von dem polemische Artikel, autobiographische Werke und Romane unerschöpflich Zeugnis ablegen.

      Da er direkt mit einem Traditionalismus konservativster und autoritärster Prägung konfrontiert wird, kann der junge rebellische Jude aus Rußland oder Polen nicht diesen »romantisieren«, wie das in Deutschland oder Österreich möglich wäre. Diese Distanz, die eine im Benjaminschen Sinne auratische Wahrnehmung der Religion begünstigt, ist in Osteuropa nicht vorhanden.

      Dieses Zitat macht die Motive der osteuropäischen revolutionären Intelligenz deutlich und zeigt, daß sich aus ihrer Mitte niemals eine geistige Strömung hätte entwickeln können, die jener in Mitteleuropa vergleichbar war.

      Der einzige jüdische Intellektuelle des Zarenreichs, dem Religion und Spiritualität am Herzen liegen, konvertiert zum orthodoxen Christentum: Nikolai Maximowitsch Minski (N. M. Vilenkin) engagiert sich in der mächtigen Bewegung religiöser und revolutionärer Renaissance, die sich in St. Petersburg um die Jahrhundertwende um D. S. Mereschkowski, Zinaida Gippus, Nikolai Berdjajew und S. N. Bulgakow entwickelt hat. (Die »Konstrukteure Gottes« der bolschewistischen Partei, Bogdanow und Lunatscharski, sind im Zusammenhang mit dieser religiösen Renaissance ebenfalls von Bedeutung.)

      1Vgl. Pierre Guillen: L’Allemagne de 1848 à nos jours, Paris 1970, S. 58ff.

      2Zum Begriff, seiner

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