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toleriert. Seine gesellschaftliche Außenseiterposition treibt den Paria zu einem kritischen Blick; so wird er, in der Formulierung von Elisabeth Lenk, »zum Spiegel, der das Wesen der Gesellschaft reflektiert.«22

      Die Bedeutung dieses Aspekts darf man nicht unterschätzen. Dennoch habe ich den Eindruck, daß die revolutionäre Radikalisierung einer Vielzahl jüdischer Intellektueller in Ungarn und Deutschland nicht reduziert werden darf auf Probleme des Arbeitsmarktes oder der Berufsaussichten. Wenn man verstehen will, warum der Sohn eines jüdischen Bankiers, Georg Lukács, Volkskommissar der Ungarischen Räterepublik wurde oder der Sohn eines reichen jüdischen Geschäftsmannes, Eugen Leviné, Führer der Münchner Räterepublik, müssen andere Überlegungen berücksichtigt werden.

      Laqueurs Analyse ist sicherlich nicht falsch und legt Rechenschaft ab von der großen Zahl jüdischer Intellektueller, die sich in Deutschland und vor allem in Österreich zur Sozialdemokratie bekannten. Aber sie reicht bei weitem nicht aus, die Radikalisierung einer ganzen Generation jüdischer Romantiker zu erklären, die allem Mißtrauen entgegenbringen, was Rationalismus, industrieller Fortschritt und politischer Liberalismus heißt – und keiner von ihnen sympathisiert mit den Sozialdemokraten.

      Alle diese jungen Leute sind erfüllt von revolutionärer Begeisterung und vom Bedürfnis, ein sozialistisches Gesellschaftsmodell zu gestalten, das den Kapitalismus ablösen soll. Was hat sie auf diesen Weg gebracht? Wie läßt sich zum Beispiel erklären, daß vom Max-Weber-Kreis in Heidelberg, in dem die neuromantische Weltanschauung vorherrschte, ausgerechnet die Juden – Lukács, Bloch, Toller – für die Revolution gestimmt haben?

      Mit Sicherheit ist es ihre Paria-Situation, von der bereits die Rede war, ihr Außenseitertum und ihre Entwurzelung, die die jüdischen Intellektuellen empfänglich machte für eine Ideologie, die in radikalem Gegensatz steht zur bestehenden Ordnung. Aber hier im romantisch-antikapitalistischen Milieu kommen noch andere Motive ins Spiel. Der nationalen und kulturellen Romantik der Juden dient eigentlich der Zionismus. Aber seine Anhängerschaft bleibt gering. Die Assimilation ist zu diesem Zeitpunkt bereits zu weit fortgeschritten, als daß der Gedanke an eine jüdische Nation noch große Identifikationsbereitschaft auszulösen vermöchte. Für Mitteleuropäer ist diese Vorstellung zu abstrakt, in Osteuropa mochte das anders aussehen. Also ist es verständlich, daß die Mehrheit der jüdischen Intellektuellen eine Verweigerungshaltung zeigt, die allen Nationalismen gilt und eine romantische, antikapitalistische Utopie entwickelt, die im Internationalismus die einzige Möglichkeit sieht, soziale und nationale Ungleichheiten radikal auszumerzen. Anstelle des Zionismus votieren sie für den Anarchismus, den Anarchosyndikalismus oder eine romantische und libertäre Interpretation des Marxismus. Die Anziehungskraft dieser Ideen ist so groß, daß sie sogar die Zionisten beeinflussen; die Beispiele Martin Buber, Hans Kohn und Gershom Scholem zeugen davon.

      Für die ganz spezifische Faszination, die die libertäre Utopie vor allem vor 1917 auslöste, gibt es verschiedene Gründe. Von allen sozialistischen Theorien ist sie zunächst einmal am stärksten geprägt vom romantischen Antikapitalismus. Der orthodoxe Marxismus, der in diesen Zeiten mit der Sozialdemokratie identifiziert wird, erscheint hingegen wie eine etwas linkere Version der liberalistischen und rationalistischen Philosophie und verehrt wie diese die industrielle Zivilisation. Die Kritik Gustav Landauers am Marxismus (»Sohn der Dampfmaschine«) ist typisch für diese Einstellung. Der autoritäre und militaristische Charakter des deutschen Kaiserreichs ruft den antiautoritären und libertären Protest der deutschen Intelligenz vor allem nach 1914 hervor, wo er ihr als Moloch erscheint, der nach Menschenopfern giert. Außerdem entspricht der Anarchismus eher der Stellung der Intellektuellen »ohne soziale Bindungen«, ihrer Entwurzelung und ihrem Außenseitertum vor allem in Deutschland, wo – anders als in Frankreich, Spanien und Italien – die libertäre Bewegung nicht sozial organisiert war und über keine Massenbasis verfügte.

      Es ist die Gesamtheit der wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Faktoren, die es möglich machte, daß in einem ganz bestimmten historischen Moment und inmitten einer ganz bestimmten Generation jüdischer Intellektueller der Zusammenhang zwischen jüdischem Messianismus und libertärer Utopie dynamisch wurde und sich in eine Beziehung der Wahlverwandtschaft verwandelte. Es ist schwierig festzustellen, welches das erste oder entscheidende Element gewesen ist. Wesentlich ist, daß sie sich wechselseitig befruchtet, bestärkt und stimuliert haben. In diesem spezifischen Zusammenhang entsteht das komplexe Netz von Verbindungslinien zwischen romantischem Antikapitalismus, Renaissance der jüdischen Religion, Messianismus, antibürgerlicher und antietatistischer kultureller Revolte, revolutionärer Utopie, Anarchismus und Sozialismus. Diesem sozialen und geschichtlichen Prozeß, der sich seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts entwickelt, gilt es nun, das konkrete politische Zusammentreffen bestimmter Umstände innerhalb einer Epoche hinzuzufügen.

      Der Aufschwung der revolutionären Bewegungen im Europa dieser Zeit läßt sich innerhalb der Geschichte der Neuzeit mit nichts Ähnlichem vergleichen. Er beginnt mit der russischen Revolution im Jahre 1905 und endet mit dem definitiven Scheitern der deutschen Revolution im Jahre 1923. Es ist kein Zufall, wenn die wichtigsten Werke, in denen sich die Wahlverwandtschaft zwischen Messianismus und Utopie manifestiert, in diesem Zeitraum entstehen.

      So stammen »Die Revolution« von Landauer aus dem Jahre 1907, »Geschichte und Klassenbewußtsein« von Georg Lukács und die zweite Ausgabe von Ernst Blochs »Geist der Utopie« aus dem Jahre 1923. Ebensowenig kann es Zufall sein, wenn die Schriften, in denen die Wahlverwandtschaft am intensivsten und am tiefsten empfunden wird und sich Messianismus und libertäre Utopie am radikalsten und am explosivsten äußern, in den Jahren 1917 bis 1921 entstehen, in denen die revolutionäre Welle ihren Höhepunkt erreicht. In diesem Zeitabschnitt zum Beispiel wurde »Der Heilige Weg« von Buber veröffentlicht, das Vorwort zur Neuauflage von »Aufruf zum Sozialismus« von Landauer, »Die Kritik der Gewalt« von Benjamin, »Der Geist der Utopie« von Bloch, »Der Bolschewismus als moralisches Problem« von Lukács und die beiden großartigen Theaterstücke von Ernst Toller, »Die Wandlung« und »Masse Mensch«. Das soll nicht heißen, daß diese Problematik nach 1923 nicht weiterbestand, wenn auch die äußere Form, ihr Charakter und ihre Intensität eine andere waren. In der Zeit der Katastrophe zwischen 1940 und 1945 kommt sie wieder zum Vorschein. In diesem Zeitraum entstehen Walter Benjamins Thesen »Über den Begriff der Geschichte«, Martin Bubers »Utopie und Sozialismus« und wesentliche Teile von »Das Prinzip Hoffnung« von Ernst Bloch.

      Bleibt

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