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Hörigkeit des Herzens. Marie Louise Fischer
Читать онлайн.Название Hörigkeit des Herzens
Год выпуска 0
isbn 9788711718902
Автор произведения Marie Louise Fischer
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Evas Zimmer hatte sich mit der Zeit verwandelt. Zuerst war es ein freundliches Jungmädchenzimmer gewesen, durch bunte Couchkissen und dazu passende Vorhänge aufgeheitert, für Eva ein Fluchtort, in dem sie sich gegen die böse Welt hatte verschanzen können. Aber allmählich waren bei ihr so viele Bücher zusammengekommen, daß die kleinen Abstellflächen nicht mehr ausreichten, und sie hatte mit Katrin gemeinsam ein Regal gezimmert, das eine ganze Wand einnahm.
Der Klapptisch war ihr zum Schreiben zu klein geworden, und sie hatte ihn durch einen großen, sehr funktionellen Schreibtisch ersetzt. Dann war sie ihre schmale Schlafcouch leid geworden und kaufte sich ein richtiges Bett, für das Katrin ihr eine Decke in Patchwork gearbeitet hatte. Genau in der Mitte zwischen den Lautsprechern stand ein bequemer Sessel mit Fußstütze, davor ein runder kleiner Tisch. Da der Kleiderschrank beengend wirkte, hatte die Tante erlaubt, daß Eva ihn in die Diele stellte, wo Platz genug war. Die freien Wandflächen waren mit bunten Plakaten, vorwiegend vom Film und vom Theater geschmückt, die Eva je nach Laune und Anlaß auszuwechseln pflegte. Alles in allem war es ein Raum geworden, der ganz ihren Wünschen entsprach und in dem sie sich, wenn sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, völlig entspannen konnte.
Mit Staubsauger, Wischtuch und Fensterleder putzten die beiden Frauen auch diesen Raum durch. Sie arbeiteten flink und geschickt, ohne sich absprechen zu müssen, denn seit Jahren waren sie aufeinander eingespielt. Eva mußte daran denken, welche Tragödien es zu Hause gegeben hatte, wenn sie im Haushalt Hand anlegen sollte. Sie hatte diese Betätigung geradezu gehaßt und ihren Widerwillen dagegen als Waffe im Machtkampf mit der Mutter eingesetzt. Dabei hätte sie, so dachte sie heute, schon allein um des lieben Friedens willen nachgeben sollen. Doch in der Atmosphäre von Haß und Streit, Wutanfällen und überschwenglichen Versöhnungen hatte sie sich nicht ducken mögen aus instinktiver Angst davor, zwischen den allzu kraftvollen Persönlichkeiten von Vater und Mutter aufgerieben zu werden.
Zwar putzte sie immer noch nicht gern, beschwerte sich aber nie darüber, weil sie wußte, wie dankbar sie der Tante sein mußte, daß sie sich freiwillig ihrer, des überspannten, verstörten Teenagers, angenommen hatte. Katrin zur Hand zu gehen war das wenigste, was sie für sie tun konnte. Auch hatte sie einsehen gelernt, daß eine saubere, aufgeräumte Wohnung ein Bollwerk gegen den Schmutz und das Tohuwabohu der Außenwelt war. Es befriedigte sie jetzt, wenn alles blinkte und blitzte und jedes Ding an seinem Platz stand.
»Kann ich rasch noch ein Bad nehmen?« fragte sie, als sie fertig waren.
»Aber natürlich, Liebes, so viel Zeit muß sein.«
»Ich werde mich beeilen«, versprach sie.
Zwanzig Minuten später verließen sie das Haus und machten sich auf den Weg zur Tiefgarage, wo Katrins kleines Sportcoupé, ein sogenannter »Puce« des französischen Automobilkonzerns, bei dem Eva arbeitete, stand. Sie hatte sich dieses Auto erst nach der Öffnung der Mauer gekauft, um jetzt endlich das Hinterland von Berlin zu erkunden, das ihnen so lange verschlossen gewesen war.
Katrin und Eva hatten seitdem schon Potsdam aufgesucht, Schloß und Park besichtigt, und vielerlei Orte mehr. Sie waren mit einem alten Kahn auf dem Großen Müggelsee geschippert und dabei fast gekentert. Für heute nun hatten sie sich eine kleine Wanderung durch den Stadtwald im Osten Berlins vorgenommen.
»Willst du fahren?« fragte Katrin.
»Nein. Bestimmt nicht.«
Eva hatte mit niemandem über das, was passiert war, reden wollen. Jetzt überkamen sie Zweifel, ob es richtig war, ein Geheimnis vor der Tante zu wahren. Irgendwann würde sie vielleicht gezwungen sein zu gestehen, vielleicht weil Katrin einmal zu müde sein oder einfach keine Lust haben würde, sich ans Steuer zu setzen. Dann mußte die Tante mit Recht enttäuscht sein über den Mangel an Vertrauen, den sie durch ihr Schweigen bewiesen hatte.
Aber wie sollte sie es ihr beibringen? Auf keinen Fall, dachte sie, durfte sie Fabian belasten. Sie versuchte sich Worte zurechtzulegen, die den Sachverhalt so harmlos wie möglich schilderten. Aber es gelang ihr nicht. Sie stellte fest, daß sie immer noch völlig durcheinander war. Also entschloß sie sich, sozusagen mit dem Kopf voraus ins kalte Wasser zu springen.
»Ich bin meinen Führerschein los«, platzte sie heraus. Katrin verzog keine Miene und hielt die Augen auf den Verkehr gerichtet; sie war gerade in die Kantstraße eingebogen. »Also das ist es«, sagte sie nur.
»Was?«
»Ich wußte, daß du was mit dir herumschleppst.«
Eva seufzte, ohne es selbst zu merken. »Ja, so kann man es ausdrücken.«
»Nun erzähl schon! Wie ist es passiert?«
Eva berichtete ihre Version der Geschichte. Sie habe Fabians Auto gefahren, den Aufprall nicht wirklich wahrgenommen und Gas gegeben.
Jetzt warf ihr Katrin doch einen kurzen Seitenblick zu. »Du doch nicht!«
»Du machst es mir nicht leichter, wenn du mir nicht glaubst.«
»Tut mir leid, Eva. Bis zu dem Zusammenstoß nehme ich dir die Geschichte ab. Aber ich kenne dich zu gut. Du bist nicht der Mensch, der einfach weiterfährt, wenn es gebumst hat.«
»Aber es war so«, beharrte Eva mit unsicherer Stimme und unterdrückte mühsam das Schluchzen, das in ihrer Kehle aufstieg.
Katrin spürte, daß etwas nicht stimmte; sie hatte sofort den Verdacht, daß Fabian hinter dieser Sache steckte. In ihren Augen war er ein interessanter Typ, aber durchaus nicht der Mann, dessen Umgang sie für ihre Nichte wünschte. Doch sie hatte ihre Vorbehalte immer wohlweislich zurückgehalten, weil sie wußte, daß Warnungen von ihrer Seite Eva nur noch enger an ihn binden würden. Deshalb hatte sie geschwiegen. Jetzt begann sie zu zweifeln, ob das wirklich richtig gewesen war.
Doch auch jetzt fragte sie nur: »Und wie ging’s weiter?« Eva berichtete von dem Auftauchen der beiden Polizeibeamten.
»Du hättest den Mund halten sollen«, erklärte Katrin, fügte aber sofort hinzu: »Dumm von mir, das zu sagen, da es ja zu spät ist.«
»Wie konnte ich denn? Ich mußte doch antworten.«
»Mußtest du nicht. Du hättest auf deinen Anwalt verweisen sollen.«
»Ich habe ja gar keinen.«
»Bitte, Eva, benimm dich jetzt nicht wie ein Kind. Du hättest dich vor deiner Aussage mit einem Anwalt beraten sollen. Das hast du versäumt …«
»Ich habe die Wahrheit gesagt«, fiel Eva ihr trotzig ins Wort.
»Hast du das wirklich?« fragte Katrin mit einem Seitenblick auf Evas unglücklich verzerrtes Gesicht. »Nun, die Wahrheit ist jedenfalls nicht immer das klügste. Das wird dir auch dein Anwalt sagen. Jetzt wirst du dir doch wenigstens einen bestellen, nicht wahr?«
»Wozu?«
»Weil man den Brunnen spätestens zudeckt, wenn das Kind hineingefallen ist. Das ist immer noch besser als gar nichts zu tun. Ich würde dir übrigens zu Doktor Vilgers raten.«
›Wozu?‹ hätte Eva am liebsten noch einmal gefragt, unterließ es dann aber doch, weil sie von ihrer Firmentätigkeit wußte, daß in allen Zweifelsfällen Juristen zugezogen wurden. Tatsächlich zweifelte sie stark daran, daß ein Rechtsanwalt ihr helfen könnte.
»Wenn du willst«, fuhr Katrin fort, »werde ich mich mit Doktor Vilgers in Verbindung setzen und einen Termin für dich ausmachen.«
»Danke«, sagte Eva schwach, »das wäre lieb von dir.«
»Wahrscheinlich«, sagte Katrin, »kommt es sehr darauf an, wie es um den Menschen steht, der bei dem Unfall zu Schaden gekommen ist. Weißt du etwas darüber?«
»Nein, nichts.« Jetzt konnte Eva ihre Tränen nicht länger zurückhalten. »Die Polizisten sagten nur …« Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich so weit beruhigt hatte, daß sie den Satz beenden konnte. »… daß