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das sie einmal hatte Constanze singen hören und das ihr sehr gefiel, weil es nach ihrer Meinung so schön traurig klang: „Die Sonne scheint nicht mehr” von Brahms.

      Sie sang es so falsch, daß Charlo meinte, die Mitbewohner dieses ehrenwerten Gartenhauses, allwie man in Berlin die Hinterhäuser dezent bezeichnet, würden glauben, die „drei Cikaden” (so bezeichnete sie sich, Constanze und Cäcilie, weil aller dreier Namen mit „C” anfing) hätten sich einen kleinen Hund angeschafft, der besonders schön zu jaulen wüßte.

      Cäcilie Stumpf hatte die Neujahrsnacht verschlafen. Sie war Laborantin in einer chemischen Fabrik und hatte die letzten Wochen mit Überstunden arg an ihre Arbeit herangehen müssen. So war ihr die Silvesternacht eine willkommene Ruhenacht gewesen.

      „Ein gutes neues Jahr, Cillychen!” Constanze setzte sich mit diesen Worten behutsam auf die Couch und streichelte Cäcilie eine herabgefallene blonde Strähne aus der Stirn.

      Cilly gähnte, dehnte ihre robusten Rekordschwimmerin-Arme und sagte schlaftrunken: „Prost Neujahr, Stanzi!”

      „Wo mag Charlo stecken?” fragte gerade Constanze, da erhob sich auf der Treppe des Gartenhauses ein ziemlich toller Lärm. Bald darauf klirrten Schlüssel im Schloß und, von Stefan mit Vorsicht aufrecht gehalten, erschien Charlo auf der Szene, einen Luftballon am Hut und um den Bauch eine Girlande von bunten Papierschlangen gewunden.

      „Da bist du ja endlich, Stanzi,” sprach Charlo etwas stockend und mühsam und sah ihr mit starr aufgerissenen Augen ins Gesicht. „Pupille!” schrie sie. „Pupille!”

      „Aber Charlo —” versuchte Constanze zu lächeln. An sich tat ihr Charlo leid.

      „Sie wollte nicht aufhören! Immer noch ein Glas Sekt —”

      „Immer noch! Jawoll! Immer noch mal rum, du Kleine — Constanze, hör mal zu! Kennst du den? Hat Stefan erzählt. Dein kreuzbraver Stefan.”

      Stefan winkte beschwichtigend ab: „Sie weiß ja kaum, was sie redet. Übermüdet.” Aber er war rot geworden, als Charlo zu Constanze mit eigentümlicher Betonung „Dein kreuzbraver Stefan” sagte.

      „Stanzi, kennst du den? Hat Stefan erzählt,” begann Charlo von neuem; sie hatte sich in den großen Lehnsessel an der Balkontür geworfen. Draußen ging die Sonne auf. Der Schnee funkelte rot auf den Dächern. Also hör zu: Eine Grräfin, eine feine Grräfin fragte Max Reger bei einem Konzert, ob die Fagottbläser diese dunklen bizarren Tonfiguren — diese dunklen bizarren Tonfiguren, sagte sie — oho! — mit dem Mund vorbrächten. Worauf Max Reger verlautbaren läßt: „Das will ich stark hoffen.”

      Charlo schlug eine riesige Lache an. Als sie von neuem „Stanzi, kennst du den?” immer schlaftrunkener lallte, packten Constanze und Cilly sie kurzerhand, transportierten sie ins Schlafzimmer, zogen sie aus und legten sie ins Bett.

      Charlo schlief sogleich ein. Ohne ein Wort.

      Als die beiden andern wieder ins Balkonzimmer zurückkamen, war Stefan fortgegangen.

      „Der hatte auch ein schlechtes Gewissen,” sagte Cäcilie.

      Constanze aber ging in die kleine Küche und bereitete das Frühstück. In dieser Woche hatte sie Küchendienst.

      Nach dem Morgenkaffee lief Constanze allein durch den Schöneberger Park. So sehr sie sich auch über Charlos Schwips wunderte, wußte sie zu genau, daß Charlo in ihrem kleinen Finger mehr musikalisches Talent besaß als sie selbst in beiden Händen. Constanze mußte sich alles mühselig erringen. Gewiß, auch Charlo übte fleißig — doch sie konnte alles bald, was sie können sollte, und es waren sehr schwierige Musikstücke. Constanze konnte dagegen kaum das, was sie können mußte. Nun war ihr Probesemester um. Wird Professor Dämpfinger sagen: Sie dürfen bleiben? Oder wird sie bei Semesteranfang ein höfliches Schreiben des Hochschuldirektors vom Sekretär in Empfang nehmen müssen. „Da ihr Können den Anforderungen der Staatlichen Akademischen Hochschule für Musik nicht genügt, bitten wir Sie, Ihr Studium an der Hochschule aufzugeben.” Constanze scheuchte die bangen Gedanken fort. Ist ja Unsinn! Dann hätte Dämpfinger es ihr längst angedeutet, daß sie wieder lieber ins Privatkonservatorium gehen solle. Doch — mit Stefans Hilfe — hatte sie die aufgegebenen Sonaten und Etüden so gut geübt, daß sie sogar diese und jene ohne Noten vorspielen konnte. Und Dämpfinger hatte sie ja auch schon für das Schülerkonzert Mitte Januar üben lassen.

      Nein, die Befürchtung war sinnlos. Und nun wollte noch Sempach, der Berühmte, Fürsprache bei Dämpfinger einlegen.

      Constanze lächelte. Dieses Lächeln verklärte das in seinen Linien noch ganz weiche Oval ihres kindseligen Gesichtes so, daß ein alter Herr kopfschüttelnd auf dem Parkweg, der nach der Kaiserallee führte, stehen blieb und: „So viel entzückende Jugend! So undenkbar viel Jugend!” murmelte. Er sah ihr nach. Constanze merkte es gar nicht.

      Hoch und hell stand die Sonne schon am Himmel, als sie die Kaiserallee überschritt und weiter in den Hindenburgpark hineinwanderte.

      Die Hindenburgbüste, die dort stand, erinnerte sie an Dämpfinger, der auch einen solchen Schnurrbart trug wie der alte Feldmarschall.

      Rein und weiß erstrahlte der Großstadtpark im Sonnenschneeglanz. Es schillerte rundum, als hätte es Perlmuttermuscheln geschneit. Im Winde sang’s wie Harfenklang.

      Constanze grüßte einsamselig beglückt den ersten Tag eines Jahres, von dem sie mit Hoffen und Bangen Ungewöhnliches erwartete, sie wußte selbst nicht warum.

      IV

      Doch die ersten Tage des Jahres brachten nichts überwältigend Besonderes. Wie auf eine stillschweigende Vereinbarung hin kamen weder Constanze noch Charlo auf ihre so grundverschiedenen Erlebnisse der Neujahrsnacht zu sprechen. Sonst erzählte Constanze der ein Jahr älteren Mitschülerin, die aber einen für ihre Jahre noch viel reiferen Eindruck machte, gern von allem Seltenen, das sie erlebt hatte und das in ihr nachklang.

      Charlo schwieg vielleicht nur, weil sie eine Art moralischen Kater hatte, den sie aber bald „spielend” überwand: sie übte wie eine Besessene. Immer wieder Fingerübungen. Immer wieder die gleichen drei Passagen.

      Das Telefon schrillte fast jeden Tag ein paar Mal. Gewöhnlich klingelte zuerst der pensionierte Major, der unter ihnen wohnte, bei den „Cikaden” an, um sich mit seiner rabenkrächzigen Stimme unter vielem Geräusper, Gehuste und Gepuste über dieses zum Wahnsinnigwerden eintönige Geklimper zu beschweren. „Werden Sie doch wahnsinnig, wenn’s Ihnen Spaß macht!” murmelte Charlo seelenruhig in den Apparat und hängte ab.

      Constanze war auf einem ihrer einsamen Parkspaziergänge; Cäcilie noch in ihrem Laboratorium. So fingerübte Charlo unverdrossen weiter. Jetzt klopfte es von oben gegen die Decke. Frau Stuhlreittner! Charlo ließ sich nicht stören. Frau Stuhlreittner ließ ihren Sechs-Röhren-Empfänger mit höchster Lautstärke Blechmusik dagegen blasen — und da Charlo mit Vehemenz weiter übte, gab das einen chaotischen Höllenlärm, der gewöhnlich erst ein Ende nahm, wenn Herr Konditoreibesitzer Senkbley drohte, die Polizei herbeizuholen, da dieser ruhestörende Lärm bis in die Räume seiner Konditorei hineinschallte, die sich im Erdgeschoß des Hauses Salzburgerstraße 10 befand.

      Da hörte Charlo endlich auf. Sie nannte solch fingerübendes Toben „Rache am Schicksal nehmen”. Und sie nahm diese Rache, wenn sie mit ihrem Schicksal unzufrieden war.

      Charlo liebte Stefan. Doch die Neujahrsnacht hatte ihr nicht Stefans Liebe offenbart, obwohl sie die Offenbarung aus ihm herauslocken wollte. Sie wußte eines seitdem ganz genau —: Stefan liebt Constanze. Deswegen hatte sie sich ganz bewußt den Schwips angetrunken. Um Dinge sagen zu dürfen, die sie im nüchternen Zustand nicht über die Lippen gebracht hätte.

      Charlo war ein auffallend hübsches Geschöpf. Von eleganter Figur: schlank und mit lieblichen Rundungen; ihr etwas zu großer Mund wäre auch ohne Benutzung des Lippenstiftes verlockend genug gewesen; die in dünner Linie hochgezogenen Brauen überwölbten zwei dunkle Augen, deren schwarze Iris sich nur um eine lichtere Nuance von der dunklen Pupille abhob. Die langen Wimpern waren nach oben gebogen. In genialer

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