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      Gudbergur Bergsson

      Vater, Mutter und der Zauber der Kindheit

      Aus dem Isländischen

      von Karl-Ludwig Wetzig

      Saga

      Dichtung ist nicht deshalb wahr, weil sie von einem Stoff handelt, der sich in der Wirklichkeit zugetragen hat und sie seine wahrheitsgemäße Schilderung ist, oder weil sie allgemeinen Vorstellungen davon gehorcht, was es heißt, die Wahrheit zu sagen. Vielmehr liegt dann ein Funken Wahrheit in ihr, wenn sie von dem Verlangen und dem Vermögen des Autors getragen wird, aus seiner eigenen Perspektive Zeugnis von dem abzulegen, was er für wahr hält.

      Biographien gibt es – strenggenommen – nicht, denn kaum etwas gerät so vollständig in Vergessenheit wie das Leben eines Menschen. Das einzige, was sich festhalten läßt, ist der Wunsch, einen geistigen Hauch von ihm in Worten aufzubewahren.

      Ereignisse tragen sich nur ein einziges Mal im Leben zu; danach aber können sie sich im Gedächtnis des Betreffenden und derer, die von ihnen gehört haben, auf verschiedene Weise wieder und wieder ereignen.

      Dieses Buch ist historisch unzutreffend. Ihm ist aber auch lediglich die Aufgabe beigemessen, was seinen Autor anbelangt in etwa gefühlsmäßig wahr zu sein. Es ist mithin eine dichterische Biographie.

Erster Teil

      Im Elternhaus

      Ich stehe nicht im Zimmer meiner Mutter, jedenfalls nicht auf die gleiche Weise wie jener Mann, der in einem Buch einmal etwas Ähnliches behauptete. Meine Mutter besaß weder Haus noch Zimmer noch sonst etwas je für sich allein. Hingegen befinde ich mich wieder in dem Haus, das einmal das gemeinsame Haus meiner Eltern war. Mir ist vollkommen klar, wie und weshalb es so gekommen ist. Es hat nichts mit Magie zu tun, weder im Traum noch in der Dichtung; vielmehr kam ich mit einer klaren Absicht und zu einem bestimmten Zweck gestern abend mit dem Bus, der früher um acht fuhr, heute aber um Viertel vor sieben.

      Es begann schon dunkel zu werden. Fast im selben Moment, in dem ich die Stufen hinaufstieg und durch die Tür trat, fühlte ich, wie eine eigentümliche Ruhe und Frieden über mich kamen, zusammen mit einer gewissen Schläfrigkeit. Ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten und ging deshalb früh schlafen.

      Die Schlafcouch stand ungefähr an der gleichen Stelle wie früher die alte Chaiselongue. Als ich mich hinlegte und die Decke über mich zog, wies mein Kopf also nach Westen, und meine Füße zeigten nach Osten, genau wie in der Kindheit, nur stand die Couch nicht unter der tapezierten Dachschräge – was mir immer ungemein beruhigend vorgekommen war. Kaum hatte ich mich hingelegt, schien es mir, als würde der Körper wieder eine längst vergessene Lage einnehmen, und beim Aufwachen am nächsten Morgen stellte ich fest, daß ich einen erholsamen Schlaf wie seit Jahren nicht genossen hatte, und ich seufzte vor Glück und Erleichterung. Daraus läßt sich ersehen, daß der Schlaf nicht etwa ein Eigenleben führt oder von einem Bündel Empfindungen in Gestalt von Träumen bestimmt wird, sondern schlicht von der Lage des Körpers, davon, in welche Richtung der Kopf oder die Füße im Bett der Kindheit zeigten.

      Es wird Herbst. Diesmal bin ich gekommen, weil ich meinem Vater das Haus abgekauft habe, damit es nicht auf dem offenen Immobilienmarkt landet, in den Händen von Fremden oder gar Unbekannten. Ich wollte nicht für den Rest meines Lebens mein Gewissen damit belasten, daß die Geschichten, die mit ihm verbunden sind, nurmehr in der Erinnerung existieren. Ich bin hier, um mich in einem Buch an meine Eltern zu erinnern, und ich habe mehr als einmal gedacht: Warum sollte ich nicht versuchen, in dem kleinen Ort in mehr als einer Bedeutung zu mir selbst heimzukehren? Zum Beispiel mit dem Vorsatz – der viel schwieriger ist als alles, was mit einem Hauskauf zu tun hat –, ein Werk zu schreiben, das für sich steht und das sich als Entsprechung zum Vergangenen lesen läßt.

      Zuerst hatte ich ein wenig Angst, ich würde mich im Haus nicht wohlfühlen, es könnte kein Aufenthaltsort mehr für mich sein, seitdem meine Eltern ausgezogen sind. Es ist lange her, seit ich selbst den Ort verlassen habe, so daß ich hier fast niemanden mehr kenne, und offen gesagt vermisse ich das auch nicht. So behindert mich kein Gegenüber beim Schreiben des Werks, und ich habe freiere Hände. Ich will ja nichts zurückholen, sondern eine Entsprechung schaffen. Bislang reichte es mir, die Orte meiner Kindheit undeutlich im Gedächtnis zu haben und ab und zu vorbeizuschauen, solange meine Eltern lebten und hier wohnten. Seither tat ich es nur selten, meist dann, wenn nahe Verwandte gestorben waren, um ihnen, indem ich an der Beerdigung teilnahm, meine Achtung zu erweisen. So etwas ist albern, ich weiß. Man erweist nur Lebenden Achtung, nicht Toten. Dennoch habe ich an dem Brauch festgehalten. Es ist eine reine Formsache. Statt teilnahmsvoll der Leichenpredigt des Pastors zu lauschen, habe ich mich bei Beerdigungen immer wieder damit beschäftigt, mich neugierig umzusehen, ob aus dem Profil anderer Kirchenbesucher womöglich die stillen, markanten Gesichtszüge von Menschen hervortraten, die ich von Ansehen kannte, als ich noch ein Kind war. Es ist nur selten vorgekommen, und mit bedauerndem Spott dachte ich: Fett ist wohl die Isoliermasse, die sich am gründlichsten über die Vergangenheit meines Volkes gebreitet hat.

      Bevor ich zurückkehrte, hatte ich auch die Befürchtung, ich könnte in diesem Haus vielleicht keinen Schlaf finden, weil mich nicht etwa unangenehme Gedanken, sondern schlicht allzu banale Erinnerungen wachhalten könnten oder weil sich diese grundlose Schlaflosigkeit einstellen könnte, die daher rührt, daß der Mensch ein Wesen ist, das sich stets Sorgen machen muß und Angst empfindet. Derartige Schlaflosigkeit hat nichts mit Unruhe zu tun, mehr mit Grübeln, und ist vielleicht nichts anderes als das Murmeln in der Seele, das den Menschen von Beginn an begleitet, leise wallende Lebensangst. Aus ihr und der Schwermut ist das Bedürfnis nach Kunst entsprungen, diese unbegreifliche Kraft, sich aus Angst und dem, was den Geist beschwert, zur Helle des Lebens emporheben zu wollen, die man zuweilen Inspiration nennt.

      So ist es aber nicht gekommen. Einfach weil ich beschlossen habe, daß es nicht so kommen sollte, und es hat sich gezeigt, daß Schlafen und Wachen ganz nach Plan verliefen, was vielleicht nicht verwundert, weil es zu Romanschriftstellern paßt, ein geordnetes Leben nach genauen Regeln und Zeitplänen führen zu wollen. Es ist für sie sogar durchaus notwendig. Das Leben ist die endlose Weite, die wir nicht überblicken; doch was wir einen Roman nennen, ist die verdichtete Weite, die der Schriftsteller in eine endliche Zahl von Seiten überführt.

      Ich befinde mich jetzt in dem, was man früher »oben auf dem Dachboden« nannte. Zweigeschossige Häuser haben anfangs nur »oben« und »unten«, und in diesem Haus wurde lange Zeit nur unten gewohnt. Der Dachboden war ein offener Abstellraum. Die jetzige Wohnung auf diesem Boden ist klein und exakt da, wo ich mir mit Phantasien die Zeit vertrieb, als ich noch ein Kind war und das Haus kaum eingerichtet. Damals war es hier kalt, jetzt ist es warm, aber draußen tobt noch immer das gleiche schlechte Wetter, der Wind drischt auf das Dach ein, der Regen prasselt gegen die Scheiben, und es knarrt im Haus wie eh und je. Hier herrscht immer Sturm. Doch wenn das Wetter einmal gut ist, ist es nirgends so gut wie hier. Ich weiß es, weil ich an verschiedenen Orten der Welt zu Hause war, bei schönem Wetter auf dem Bauch lag und zwischendurch in Unwetter und zahllosen Wetterstürzen landete. Egal wohin ich reise, ich fühle mich an allen Orten zu Hause, bin aber natürlich nur an einem Ort geboren und aufgewachsen und vom Klima und den Menschen dort geprägt. Ich weiß, schönes Wetter ist hier nicht wirklich schöner, sondern nur seltener als an anderen Orten, was allerdings in Fragen des Wetters entscheidend ist. Jedesmal, wenn es einmal nicht stürmt und regnet, ist man so dankbar, daß man sogar nur halbwegs passables Wetter hier besser nutzt als richtig schönes an anderen Orten. Im übrigen hat das Klima wenig Einfluß auf mich, kaum mehr als daß ich davon Notiz nehme, wie es um mich herum weht, und mich darüber freue, daß es auf der Welt noch ungezähmtes Wetter gibt; Wetter, das noch nicht gebändigt wurde von Erwartungen der Wissenschaft und der Meteorologen darüber, wie das Klima beschaffen sein sollte, um gegebenenfalls den Charakter von Regen und Sturm korrigieren zu können. Das Wetter hat seinen Sitz großenteils in der Psyche und die Reaktionen darauf ebenfalls.

      Gerade stürmt es mit heftigen Böen, und das Rütteln des Sturms am Holz gibt mir ein Gefühl der Sicherheit. Bei Orkanwetter wie diesem schlief ich immer am besten. Zweifellos empfand ich dann stärker die Sicherheit, die von den Eltern ausgeht, bei Sturm viel mehr als bei ruhigem Wetter. Wenn Kinder Angst bekommen, liegt es also an den Eltern und nicht am

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