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Die letzte Wahl. Rudolf Stratz
Читать онлайн.Название Die letzte Wahl
Год выпуска 0
isbn 9788711506981
Автор произведения Rudolf Stratz
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Er brach bekümmert ab, und der Kellner brachte die Milchaustern, die dickgemästet wie kleine Säcke in ihren Schalen ruhten. Bezüglich des Karpfens sei alles in Ordnung. Der Chef habe selbst die Zubereitung überwacht. Was der Herr Graf nachher ...
„Eine Omelette à surprise!“ sagte der Graf und schickte ihn fort.
„Es ist schwer, Mensch zu sein!“ plauderte er weiter, die Austern kunstgerecht lostrennend und aus der Schale schlürfend, „und dass nächstens in Berlin W eine Hungersnot unter uns oberen Zehntausend ausbricht, steht ganz ausser Zweifel. Die Austern sind auch wieder unter aller Würde — sonst hätte ich dir natürlich davon angeboten, Mary; aber so esse ich sie als selbstverleugnender Ehegatte allein. Es gibt einfach keinen Ort mehr, wo man menschenwürdig speisen kann. Die hungernden Millionäre irren schon in Rudeln durch die Tiergartenstrasse und fallen schliesslich blindlings in einer Kutscherkneipe ein — es herrschen trostlose Zustände ... trostlos,“ wiederholte er, goss sich ein Glas Bordeaux ein und schlürfte es in kleinen Schlücken, während seine Augen zwinkernd durch den ganzen Raum gingen.
„Es gibt ein schönes Bild, ‚Schafschur in Oberhessen‘,“ sagte er dann absetzend, „das könntest du eigentlich für mich als Sachverständiger kaufen, Alfred! Ich will es in mein Arbeitszimmer hängen. Es wird mir neuen Mut geben, wenn ich an eine Emission nicht recht ’ran will oder der kleine Meier mich geärgert hat. Dann blicke ich andächtig zu dem Bilde empor und ...“
Mary wandte sich ihm plötzlich zu. „Bitte, höre jetzt auf!“ sagte sie bestimmt. „Es ist langweilig, wie du dich immer verstellst und den Spassmacher spielst! Du bist gar nicht so! ... Das wissen wir hier doch alle!“
„Das ist eine Frau!“ Der Lebemann schüttelte bekümmert den Kopf. „Aber bloss der Ärger, weil sie keine Austern gekriegt hat.“ Er schob den Teller mit den Schalen von sich. „Schön. Ich werde ernsthaft sein. Also heute habt ihr das neue Reichshaus eingeweiht, Schwiegerpapa?“
„Ja,“ erwiderte der alte Herr kurz. Die ganze Art des Börsengrafen war ihm mehr denn je ein Greuel.
„Habt ihr denn auch schon ’ne Inschrift oben an das Gebäude?“ forschte der unbekümmert weiter, „nachdem’s mit ‚Dem deutschen Volke‘ nichts ist? Ich würde was Biblisches nehmen: ‚Eure Rede sei Ja — Ja!‘ das ‚Nein — Nein!‘ lassen wir weg! Das liebt die Regierung nicht. Der kleine Meier freilich meinte, man solle für die Abgeordneten lieber einen Kernspruch aus dem täglichen Leben wählen. Etwa: ‚Quatsch’ nicht, Krause!‘ in flammenden gotischen Riesenlettern über dem Hauptportal! Das wäre ...“
Jetzt wurde der grauköpfige kleine Reichsbote ernstlich erzürnt. „Es gibt immer noch Leute, mein lieber Oskar,“ sagte er scharf, „die ernste Dinge ernst zu nehmen gewohnt sind. Dazu gehöre auch ich. Also verschone mich, bitte, mit diesen Witzen und bringe sie dort an, wo sie am Platz sind — in der Börsenkulisse.“
„Schön!“ antwortete Graf Oskar in unerschütterlicher Ruhe. „Ich schweige. Der Karpfen, den mir mein einziger Freund auf der Welt, der hiesige Oberkellner, eben bringt, ist auch stumm und doch ein vortreffliches Wesen.“
Er widmete sich mit Eifer und Sachkenntnis dem Fisch, und eine unbehagliche Pause trat in dem Tischgespräch ein.
Der alte Herr schaute auf seine beiden Schwiegersöhne. Er hatte es wohl bemerkt, dass die beiden seit der Begrüssung noch kein Wort miteinander gesprochen, ja es geflissentlich vermieden hatten, auch nur einen Blick zu tauschen. Auch Mary, die zwischen ihrem Vater und ihrem Manne ihren Platz hatte, war stumm. Mit einem leeren, müden Ausdruck sass sie da, die Augen in die Weite gerichtet, und berührte nur zum Schein etwas von den Speisen und Getränken.
„Diesen Fisch habe ich mir vor zwei Stunden von der Börse aus telephonisch bestellt,“ sagte plötzlich in die tiefe Stille hinein der unbekümmert kauende Graf. „Es war das letzte Aufblitzen meines Geistes am heutigen Tag. Versuch ihn ’mal, Mary. Er ist gut. Der Chef hat seine Schuldigkeit getan.“
Mary machte eine abwehrende Gebärde. „Lass nur,“ sprach sie wie geistesabwesend und ohne ihren Mann anzusehen.
Aber der legte ihr schon ein Stück auf den Teller. „Ich will, dass du den Karpfen kostest!“ beharrte er im Ton eines jovialen Tyrannen, und sie fügte sich, ohne weiter ein Wort zu verlieren.
Inzwischen war der Kellner herangetreten. Diese Depesche sei eben für den Herrn Grafen abgegeben worden.
„Aha ... aus Boulogne sur Mer.“ Er überflog rasch die paar Worte: ‚The Ascot stakes in New Market ... Randown erster mit zwei Längen ... Wetten 1:2½ ...‘ „Also fünfundzwanzig Pfund Sterling Plus für mich ... schön ... fünfhundert Mark sind überall auf der Welt fünfhundert Mark ... so macht man’s! Arbeiten! meine Herrschaften ... Arbeiten! ... das sag’ ich immer wieder! Wir sind zum Arbeiten auf der Welt; was, Kellner?“
„Zu Befehl, Herr Graf!“
Mary hob den blassen Kopf. „Ich dachte, du hättest auf Palafox gewettet!“ sagte sie tonlos und mit schleppender Stimme.
„I wo!“ Ihr Gatte schien einen Augenblick etwas verwirrt. „Optische Täuschung, Kind! Randown hiess der Gaul meines Herzens!“ und er versenkte sich mit doppeltem Eifer in die kunstgerechte Zerlegung des Karpfenkopfes. „Wie ihr dies Tagesmenü hier speisen könnt,“ plauderte er dabei — „das ist mir einfach rätselhaft. Überhaupt ... ich gehe nächstens in die Volksküche. Das ist der einzige Ort in Berlin, wo man noch anständig diniert!“
Niemand antwortete. Der Kommerzienrat liess stumm seine Augen über die drei Gesichter gleiten, und sein Sohn lehnte sich nervös in den Stuhl zurück. Ihm, dem reservierten jungen Klubmann, waren dies lärmende Gebaren, diese Witze, diese Vertraulichkeiten mit dem Kellner einfach ein Greuel. Und das ein Graf — allerdings aus keinem vornehmen Haus, sondern Abenteureradel des achtzehnten Jahrhunderts — aber immerhin ein Graf so gut wie andere! Unwillkürlich dachte Banners junior daran, wie viel besser ihm die neunzackige Krone stehen würde als diesem Börsenplebejer, der geflissentlich und zynisch eben in jene Kreise des Handels und Wandels hinabstieg, aus denen sich der vornehme junge Kaufmannssohn mit allen Kräften emporzuarbeiten suchte.
Auch Ellen war unmutig. Ein Schatten lag über ihren junonisch schönen Zügen und verscheuchte daraus das gewohnte, freundliche Lächeln.
„Siehst du, Papa!“ sagte sie endlich. „So ist das nun. Es ist unmöglich, gemütlich beisammen zu sein. Immer gibt’s nach fünf Minuten Verstimmung und Verdruss. Ich bin wahrhaftig nicht daran schuld — ich vertrag’ mich doch mit aller Welt — und Mary erst recht nicht. Es sind nur unsere Männer! Da sitzen sie einander gegenüber, reden keinen Ton und ärgern sich einer über den andern. Das nennt man dann Familienleben!“
Eine leichte Bewegung ging durch die kleine Tafelrunde. Herbert entschloss sich, zum erstenmal seit einer Viertelstunde, zu sprechen. „Ich finde, Oskar redet genug,“ sagte er, „... und ich höre eben zu. Allerdings nicht immer mit Beistimmung. Dazu sind unsere Charaktere nun einmal zu verschieden.“
„Ach ... das ist’s nicht!“ schmollte Ellen. „Ihr müsst ’mal was miteinander gehabt haben. Ihr sagt’s uns bloss nicht. Und statt euch nun endlich ’mal wieder auszusöhnen ...“
„Mein Ehrenwort ...“ sagte der Graf in gleichgültigem Ton und liess das silberne Fischmesser sinken ... „mein Ehrenwort, das der Schwager mir gewiss bestätigen wird: wir haben nie etwas miteinander gehabt ... niemals ... keine Aussprache ... keinen Zank ... keinen Briefwechsel ... gar nichts! Ist’s so, Herbert?“
Herbert nickte. „Du machst dir wirklich unnütz Sorgen!“ wandte er sich zu seiner Frau. „Es ist gar nichts vorgefallen!“
„Ja