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Die letzte Wahl. Rudolf Stratz
Читать онлайн.Название Die letzte Wahl
Год выпуска 0
isbn 9788711506981
Автор произведения Rudolf Stratz
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Der alte Herr stand ganz erschrocken auf und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Ja ... aber, liebes Mädel ...“ rief er ... „du wirst doch nicht glauben, dass ich dich im Ernste ...“
„Ich glaube gar nichts!“ sagte sie, lehnte sich in den Stuhl zurück und schloss wie ermüdet die Augen. „... Ich möchte nur, dass darüber Klarheit ist und ich nicht unnütz mit Fragen gequält werd’!“
„Schön!“ Der kleine Kommerzienrat holte sich eine neue Zigarre heraus und setzte sie in Brand. Dabei blickte er verstohlen auf seine Tochter. Aber Mary sass ganz ruhig da, mit beinahe apathischem Gesichtsausdruck. Ihre Wangen waren blassgetönt wie immer, und leise regelmässige Atemzüge hoben ihre Brust.
Da klopfte es. Ellen trat herein, mit Paketen beladen, plaudernd, lachend und geschäftig. Sie war noch ganz ausser Atem vom Treppensteigen, während sie die Schächtelchen und Kistchen aufmachte, um all ihre Herrlichkeiten zu zeigen. Hier das laufende Häschen sei für den kleinen Albert. Wenn er nur in Gegenwart der Bonne damit spiele, werde er es nicht so bald kaput machen. Für Ernst, der ja schon älter und vernünftiger sei, passten die Bleisoldaten besser. Als Offizierskind gehöre er doch eigentlich schon zur Armee, wenn er auch erst später ins Kadettenhaus käme. Und auf Baby, das neuerdings beim Zahnen über Gebühr schreie, werde der bunte Wollvogel auf der Stange mit den Klimperglöckchen sicher wohltätig beruhigend wirken. Alles zusammen koste zwölf Mark achtzig! Ob das dem Grosspapa nicht zuviel sei?
„Nein,“ sagte der alte Herr und warf Mary einen lächelnden Blick zu. Beide empfanden in diesem Augenblick dasselbe — dass diese schöne, voll erblühte Frau, die sich so über die Kindergeschenke freute, selbst im Grunde ihres Wesens noch ein Kind war und voraussichtlich ihr ganzes Leben lang blieb — ein goldblondes, argloses und gutherziges Kind, dessen freundliche Augen alles — die Welt, die Menschen, sein eigenes Dasein — klein und nett wie eine gemütliche Puppenstube ansahen.
Mary liess das Häschen auf der Tischplatte hinlaufen. „Ja ... du hast’s gut!“ sagte sie in einem sehnsüchtig träumerischen Ton. „... mit deinen drei Göhren ...“
„Ich hab’ auch meine Not ...“ die schöne Frau setzte sich und wickelte die Geschenke sorgsam wieder ein ... „... das könnt ihr mir schon glauben!“
„Mit den Kindern?“ fragte der alte Herr.
„Ach ... Ärger gibt’s mit denen genug ... den ganzen Tag ... besonders mit Ernst ... unartig wird der Junge ja neuerdings ... das ist geradezu ... aber das meine ich nicht ... sondern etwas wirklich Arges ... das Unglück mit Herbert ...
„Dein Mann ist immer guter Dinge!“ fuhr sie zu Mary fort ... „... man muss ja manchmal gerade auflachen, wenn er so ’reinkommt, mit seinem schlauen Augenblinzeln und dem frechen Gesicht. Und immer bringt er den neuesten Witz von der Börse mit oder hat sonst was zu erzählen. Hingegen meiner ... ja ... ihr glaubt’s vielleicht nicht ... aber er ist imstande und geht den geschlagenen Vormittag in seinem Zimmer auf und nieder ... oder sitzt da und schaut vor sich hin, und es wird Mittag, ohne dass man auch nur ein Wort von ihm zu hören bekommt.“
„Ich versteh’s wohl!“ sagte der Kommerzienrat. „Gezwungene Untätigkeit ist was Schreckliches.“
„... und nun gar für einen Mann wie Herbert,“ ergänzte Ellen ... „Andere Kameraden von ihm, die finden irgendeine Beschäftigung, sie sammeln Briefmarken oder gehen auf die Jagd und spielen Skat und legen sich auf Malerei und werden Landwirte oder irgendwas und sind zufrieden. Aber sprich davon mal mit Herbert. ‚Das sind ausgenutzte Troupiers,‘ sagt er, ‚die wissen, dass ihnen recht geschehen ist und sie zum alten Eisen gehören. Aber ich —‘ Und ’s ist ja wahr. Ein Offizier wie er, Hauptmann im Generalstab, dicht am Militärattaché, die ganze Brust voll Orden — und nun mit einemmal alles zu Ende. Da kann er keine Freude an Spielereien finden wie die andern. Was er braucht, das ist ein ganz grosser, bedeutender Wirkungskreis!“
„Vielleicht ist der ihm nahe!“ Der alte Herr lächelte fein und stiess die Zigarrenasche behutsam ab. „... ich hab’ so meine Pläne mit ihm. Wenn’s Zeit ist, sprechen wir drüber, und dann wird er, denk’ ich, zufrieden sein!“
„Geb’s Gott!“ seufzte die blonde Ellen. „Bis jetzt wird’s täglich schlechter mit seiner Stimmung. Anfangs — gleich nach dem Unglück — als wir zur Kur in der Schweiz waren und dann in Italien ... da war er noch ganz guter Dinge. Da scherzte er noch manchmal über die ganze Geschichte. Ich weiss noch, wie er einmal mitten auf dem Canal Grande mit der Gondel zu schaukeln anfing und meinte, er könne nicht ertrinken. Das Schicksal verfahre mit ihm so wunderlich, dass er sicher noch zu grossen Dingen aufgespart sei. Aber dann ... seit wir in Berlin sind ... von da an ging’s los ... der Trübsinn ... und die Unruhe, und wurde immer ärger ... auf den Tag, als wir im Bahnhof Friedrichstrasse einfuhren und du, Mary, und dein Mann dastanden und uns erwarteten! Weisst du noch ... Wir haben dann noch zusammen im Monopolhotel gegessen.“
„Ich erinnere mich nicht mehr recht,“ sagte Mary.
Ellen seufzte. „Ich seh’s noch vor mir. Wir waren ja so lustig den Abend und mussten immer über dich und Herbert lachen. Denn ihr kanntet euch ja noch kaum und wart ganz verlegen, weil ihr ‚du‘ zueinander sagen solltet ... und kamt immer wieder aus Versehen in das ‚Sie‘ hinein ...“
Mary schaute zur Decke auf. „Ja ... das weiss ich noch!“ sagte sie trocken lachend. „Schliesslich tranken wir in aller Form Brüderschaft. Es wäre eigentlich unnötig gewesen, denn wir sehen uns ja doch fast nie.“
„Ja ... ’s ist zu schade!“ Auf Frau Ellens rosigem Gesicht lag wirklicher Kummer. „... Papa ... du könntest wirklich einmal mit deinen Schwiegersöhnen ein ernstes Wort sprechen.“
Der alte Herr schüttelte den Kopf, während er unverwandt auf Mary blickte. „Das geht mich nichts an!“ sagte er. „Das haben die Herren unter sich auszumachen. Also der Aufenthalt in Berlin bekommt deinem Mann so schlecht?“
„Wie ich dir sage ... Vom ersten Abend ab war er wie verwandelt!“
Am Boden tönte ein schwacher Fall. Mary hatte, wie es schien aus Versehen, mit dem Ellbogen eines der Spielzeugpakete vom Tisch gestreift. Sie bückte sich danach und es dauerte eine Weile, bis sie es fand und wieder hinlegte. Eine feine Röte hatte sich über ihre Züge ergossen.
„Ich will die Pakete doch lieber in den Mantel tun,“ sagte Ellen und trat in das Vorzimmer hinaus ... „... sonst vergesse ich sie noch.“
Der alte Herr sah Mary an.
„Wir wollen hinuntergehen, Mary!“ sagte er ruhig. „... Und was du mir nicht sagen willst, verschweigst du mir eben! Komm, Ellen! Ich muss ’ne Kleinigkeit frühstücken.“
„Ach ja ...“ Ellen stand arglos lächelnd in der Türe ... „... ich hab’ auch ordentlich Hunger ... von all dem Zuschauen ...“
IV.
Der frühe Winterabend dämmerte bereits über Berlin, als Herbert langsam durch die Leipziger Strasse dahinschritt, um seinen Schwiegervater aus dem alten Reichstag abzuholen. Aber der Weltstadt bringt die Nacht keine finsteren Schatten — im Gegenteil, erst wenn der Himmel oben zu grauen beginnt, kleidet sich unten das Häusermeer in strahlenden Glanz. Was den Tag über farblos und verdriesslich in dem Nebelprickeln des Dezembers dalag, schmückt sich jetzt mit künstlichem Licht, die Schaufenster werfen ihre hellen Vierecke weit hinaus in das Menschengewühl der Gassen, die mattbläulichen Sonnen des Bogenlichtes strahlen in langen Reihen darüber, die roten, grünen und weissen Laternen der Pferdebahn gleiten eilfertig dazwischen hin und her und oben am Himmel spiegelt sich rötlich wie der Widerschein einer mächtigen Feuersbrunst der abendliche Schimmer des Berliner Westens.
In diesen späten Nachmittagsstunden zwischen fünf und acht Uhr, und zumal jetzt, in den Wochen vor Weihnachten, geht der Puls der Weltstadt in den schnellsten Schlägen. Ein eilfertiges Gewimmel der paketbeladenen, gewandt aneinander vorbeischlüpfenden, in ewigem Wechsel eilig dahinflutenden Menschenwellen auf dem Bürgersteig, ein Gewirr vierfacher, von den hohen